Gesellschaft, Sachbuch

Digital Slowfood oder: Vom Bahnhof Zoo nach Digitopia

Andre Wilkens fühlt sich gut, er steht auf Digital. In dieser Stimmung beginnt er seine Erkundungsreise durch das Neuland Digital. Und wenn »Analog ist das neue Bio« ein Hörbuch wäre, würden wir nun die NDW-Band Ideal als Soundtrack hören: »Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein, ich steig’ aus, gut wieder da zu sein.«

Mit dieser Begleitmusik führt uns Andre Wilkens durch die Wunderwelt des Digitalen, eine Wunderwelt, die uns durch Google und Wikipedia schlauer gemacht hat. »Wir haben auf alles schnell eine Antwort und zu allem eine Meinung«. Unser Leben ist leichter geworden. Unsere Bankgeschäfte erledigen wir am Computer, bei Amazon bestellen wir unsere Bücher, unsere Tageszeitung lesen wir als App, unsere Freundschaften pflegen wir bei Facebook, unsere neuen Lebensabschnittsgefährten erwählen wir bei Parship, weil sich dort alle elf Minuten ein Single verliebt. Wir fühlen uns gut, wir stehen auf Digital.

»Bisher« war das so, betont der Berliner Politologe Andre Wilkens, der zwanzig Jahre lang in Brüssel, London, Turin und Genf für die Europäische Union, die Vereinten Nationen und verschiedene Stiftungen gearbeitet hat, bevor er nach Berlin zurückkehrte. Seine internationalen Erfahrungen sind in sein »Plädoyer für eine menschliche digitale Welt« eingeflossen.

Der Snowden-Schock hat uns schwer getroffen. Spätestens seit den Enthüllungen des derzeit berühmtesten Whistleblowers ist der Wurm drin. Seither wissen wir um die Risiken und Nebenwirkungen von Digital. Die digitalen Welten sorgen für ein System flächendeckender Überwachung, an dem wir uns aktiv beteiligen. Nicht nur der Staat lässt uns überwachen, sondern wir ermöglichen ebenso eine Rundum-Überwachung von Unternehmen wie Facebook und Google, die aus unseren freimütigen Online-Aktivitäten Big Data generieren, um daraus Big Money zu machen. Sie überwachen nicht nur, sie steuern uns. Wir lassen zu, dass Maschinen und Algorithmen Entscheidungen über unser tägliches Miteinander treffen.

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Andre Wilkens: Analog ist das neue Bio. Ein Plädoyer für eine menschliche digitale Welt. Mit Illustrationen von Christoph Niemann. Metrolit Verlag 2015. 220 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen

Digital ist dialektisch, Dialektik digital. Wie viel Digital brauchen wir, um glücklich zu sein? Welchen Platz, welche Rolle hat der Mensch in diesen Computerwelten? Wilkens evoziert die Gefahr, dass Digital den Menschen abschaffen wird, weil der Homo Sapiens für das Digitale Zeitalter einfach nicht mehr smart und effizient genug ist.

Kulturpessimistisch ist Andre Wilkens Gott sei Dank nicht. Im Gegenteil. Dafür war er viel zu lange ein engagierter Weltverbesserer. Und zum Glück ist er es immer noch. Als Ost-Berliner hat er erlebt, dass Mauern, die noch hundert Jahre stehen sollten, über Nacht fallen. Über das Open Society Institute der Soros Foundation in Brüssel oder die Stiftung Mercator in Berlin hat er sich zivilgesellschaftlich engagiert. Nie in nationaler Verengung, sondern immer in europäischer Perspektive. Andre Wilkens ist im besten Sinne ein internationaler public intellectual.

Sein Buch Analog ist das neue Bio ist keine Analyse im strengeren Sinne, sondern eher eine teilnehmende Beobachtung des eigenen Lebens – mit einem offenen, neugierigen, begeisterungsfähigen und doch leicht skeptischen Blick auf die Dinge der Welt. Das Buch bleibt daher auch nicht in einer staunend-resignierten Haltung stehen, sondern erkundet die Möglichkeiten eines richtigen Lebens unter falschen Vorzeichen. Er wirbt für analoge Räume in der digitalen Welt und versteht analog »auch als subversiven Akt der Datenverweigerung«. Es ist ein bewusstes, ein entschleunigtes, ein biologisches Leben, das hier besungen wird. Wie bei Bio, das in der Nische begann, und den Mainstream der industrialisierten Nahrungsmittelproduktion herausfordert. »So könnte es auch bei der Analog-Bewegung sein, d.h. eine Bewegung, die mit immer mehr Bürgern den digitalen Mainstream so beeinflusst, dass Regeln und Verhaltensformen entstehen, die die digitale Welt nicht ignorieren kann.« Seine gesammelten (Selbst)Beobachtungen addieren sich zu einem Generationenbuch, geschrieben von einem Menschen, der das Leben im Analogen noch kennengelernt hat und den digitalen Paradiesen nicht (mehr) traut.

Andre Wilkens ist nur unwesentlich älter als der hiesige Autor, der sich, trotz aller Unterschiede, in dessen Beobachtungen, Haltungen und Positionen wiederfindet. Entsprechend sympathisch ist dem Verfasser dieses Textes Analog ist das neue Bio, zumal er dessen Autor als intellektuellen Impressionisten der digital-gesellschaftlichen Entwicklungen schätzt. Doch ob die nächste Generation, die digital natives, dessen Wünsche nach analogen Räumen und nach einem zumindest partiell entschleunigten Leben verstehen wird, ist fraglich. Ob sie überhaupt kapieren werden, was ihre Alten da wollen? Während sie als digital natives in einem algorhytmisierten Newtopia aufwachsen, träumen wir digital immigrants noch von einer besseren Welt: Utopia eben. Welche Position davon die naivere ist, wird sich zeigen.

Womit Andre Wilkens aber Recht hat, ist die Tatsache, dass es an uns ist, eine digitale Gesellschaft aufzubauen, die uns Menschen mehr nutzt als schadet, in der die Nebenwirkungen der digitalen Revolution kontrollierbar bleiben und wir Menschen die Hoheit über Digital behalten, bevor sich dieses Verhältnis schleichend umdreht.

Homepage von Andre Wilkens: http://vordenk.blogspot.de/

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