Gesellschaft, Sachbuch, Zeitgeist

Vom Glück und Unglück der Digitalisierung

Befinden wir uns am Anfang der analogen Revolution oder schon im fortgeschrittenen Zeitalter der Maschinen? Während Dave Eggers mit seiner müden Google-Dystopie viele Fragen offen ließ, versuchen andere Autoren die Verheißungen der digitalen Lebenskultur zu ergründen.

»Wahnsinn, dachte Mae. Ich bin im Himmel.« Mit diesen beiden simplen Sätzen beginnt Dave Eggers seinen Roman Der Circle, eine Dystopie der nahen, vielleicht bereits eingetretenen digitalen Zukunft. Während aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auf die mangelnde Qualität des Romans hingewiesen wurde, waren die Feuilletonisten des Digitalen voll entflammt. Zu Recht, denn Der Circle ist ein Zeitgeist-Roman, ein wichtiger Baustein für eine zu schreibende Mentalitätsgeschichte der Digitalen. Er schildert, auf welchem sympathischen, kommunikativen, partizipativen, transparenten Weg digitale Welten uns die Freiheit, die Anonymität, schlichtweg das Private nehmen. Wie so viele Ideologien ist auch beim Digitalismus das gut Gemeinte die Vorstufe zum real Schlechten bis hin zum total Bösen. Ja, Digitalisierung könnte so schön sein, so blau und makellos wie der Himmel über Mae Holland, der Heldin in Eggers Roman: »Die Vollendung stand unmittelbar bevor, und sie würde Frieden bringen, und sie würde Einigkeit bringen, und all das Chaos der Menschheit, all die Ungewissheiten, die die Welt vor dem Circle beherrscht hatten, wären nur noch Erinnerung.«

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Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age. Aus dem Englischen von Petra Pyka. Plassen Verlag 2014. 368 Seiten. 24,99 Euro. Hier bestellen

Die revolutionäre Wucht, die die Digitalisierung auszeichnet, speist sich aus den vielen kleinen und großen Revolutionen in den verschiedensten Lebensbereichen. Digitalisierung mag einmal via Handy und Email in schnellen und beschleunigten Formen des Austauschs als Kommunikationsrevolution begonnen haben, in der Zwischenzeit hat sie alle Bereiche des menschlichen Lebens erreicht. Vergleichen lässt sich die Digitalisierung noch am ehesten mit der Industriellen Revolution, mit dem ersten Maschinenzeitalter. Nun stehen wir im »Zweiten Maschinenzeitalter«, so die These von Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee in ihrer zukunftsmusikalischen Studie The Second Machine Age – Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird schreiben. Beide forschen und lehren an der MIT Sloan School of Management. Sie forschen über IT-Produktivität und Informationswissenschaften sowie über die Auswirkungen von IT auf Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt. Ihre Botschaft ist klar: »Wir stehen an einem Wendepunkt – am Anfang einer Veränderung, die ebenso tief greifend ist wie die industrielle Revolution. Die neuen Technologien sind nicht nur exponentiell, digital und kombinatorisch, sondern haben ihren Nutzen erst ansatzweise entfaltet.« Mit anderen Worten: Was sich noch wie und wie schnell entwickeln wird, lässt sich nur ansatzweise erahnen, aber bestimmt nicht vorhersagen. Laut Brynjolfsson und McAfee befinden wir uns in einer Zeit, in der alles, was früher war, kein verlässlicher Indikator mehr dafür ist, was als Nächstes passiert. Dies vor allem auch deshalb, weil die Beschleunigung exponentiell ist.

Die Autoren von The Second Machine Age nehmen die Geschichte um den Erfinder des Schachbretts zur Hilfe, um exponentielles Wachstum zu verdeutlichen. Als das Schachbrett im 6. Jahrhundert im heutigen Indien erfunden wurde, bedankte sich der Kaiser des Gupta-Reiches und forderte den Erfinder auf, sich selbst eine Belohnung zu wählen. Dieser meinte, er wünsche sich lediglich etwas Reis für seine Familie. Pro Feld des Schachbrettes solle sich die Anzahl der Reiskörner verdoppeln. Der Kaiser hielt dies für einen bescheidenen Wunsch, den er gerne erfüllen wollte. Mathematiker werden wissen, dass diese Bescheidenheit nach 63 Verdoppelungen eine gewaltige Menge an Reiskörner bedeutet, nämlich genau 264-1 Reiskörner. Oder in Worten, mehr als 18 Trillionen Stück. Mit diesem Beispiel erklären Brynjolfsson und McAfee die enorme technologische Bedeutung des Moore’schen Gesetzes. Gordon Moore, der Mitbegründer von Intel, schrieb 1965, dass pro Jahr sich die Rechenleistung verdoppeln werde. Und dies mindestens über zehn Jahre lang. Moore irrte sich, denn sein Gesetz behielt nicht nur zehn Jahre lang Gültigkeit, sondern vier Jahrzehnte. In der Zwischenzeit verdoppelt sich die Rechenleistung etwa alle 18 Monate. Was bedeutet das technologisch: »Der exponentielle Fortschritt ermöglicht es der Technik, ihren Vormarsch fortzusetzen und auf der zweiten Hälfte des Schachbretts Science-Fiction Wirklichkeit werden zu lassen.« Wir leben im Zeitalter von Science Fiction. Was gestern noch als irreale Spinnerei in einem schlechten Film zu sehen war, kann morgen schon Wirklichkeit sein. Dabei scheint auch das Moravec’sche Paradox zu lösen zu sein. Hans Moravec postulierte 1980, dass Dinge, für die es einen hoch entwickelten Verstand bedarf – etwa das Schachspiel –, relativ wenig Rechenleistung benötigen, während einfache sensomotorische Fähigkeiten wie das Treppensteigen ganz enormer Computer-Ressourcen bedürfen.

Die analoge Revolution von Christian Schwaegerl
Christian Schwägerl: Die Analoge Revolution. Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt. Riemann Verlag 2014. 320 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen

An welchen Dingen Wirtschaft, Militär und Digitalkonzerne konkret arbeiten, schildert der Wissenschaftsjournalist und Publizist Christian Schwägerl in seinem Buch Die Analoge Revolution – Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt. Der einzige Kritikpunkt an diesem Buch ist sein irreführender Titel, denn es geht ihm gerade nicht um die Umdrehung der Verhältnisse weg vom Digitalen zurück zum Analogen, sondern vielmehr um den neuen Charakter der Digitalisierung und ein neu entstehendes Verhältnis von Mensch, Natur, Maschine: »Dieses Buch beschreibt einen Verschmelzungsprozess. Mensch, Natur, Technologie – drei Sphären, die in der westlichen Denktradition fein säuberlich voneinander ferngehalten wurden – verbinden sich im 21. Jahrhundert zu neuen Phänomenen, die bereits heute nicht nur das menschliche Leben, sondern alles Leben auf der Erde verändern.«

Schwägerl schildert die Anstrengungen wie die Fortschritte, die Ingenieure, Informations- und Kommunikationswissenschaftler machen, um Roboter laufen, Treppen steigen, springen und fliegen lassen. Er belässt es aber nicht dabei, die Veränderungen der Welt auf das Format von Smartphones, iPads oder PCs zu beschränken. Bereits in seinem vorangegangenen Buch Menschenzeit – Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten beschrieb er, wie sehr die Menschheit sich den Planeten untertan macht. Die Veränderungen auf der Welt seien jetzt bereits so groß, dass man im Sinne eines Erdzeitalters vom Anthropozän – vom »Zeitalter des Menschen« – sprechen könne. Doch dies ist nur ein Teil einer viel größeren Entwicklung, so Schwägerl. Technik, und sei sie noch so digital, braucht echte Ressourcen, echte Rohstoffe, richtigen Strom, die zum Teil unter prekären Bedingungen der Natur abgerungen werden müssen.

Genau wie Schwägerl die Verbindung zwischen realer, physischer Welt und technologischen, digitalen Erfindungen beschreibt und wie der Mensch darin als Schnittstelle fungiert, macht sein Buch intellektuell so reizvoll. Wohin diese Entwicklungen die Menschheit führen können, beschreibt Schwägerl in vier Szenarien. Zwei davon sind dystopischer Natur, sie schildern, in welche Ketten sich die Menschen selber legen, wenn sie blind auf die Vorteile von Algorithmen und »Sozialen Netzwerken« in ihrem Leben setzen. Die kostenlosen Dienste von Google oder Facebook zahlen wir teuer mit unseren Daten von Privatheit, Begierden, Wünschen und Träumen. Die Tendenzen zur Monopolisierung im Internet verhindert Alternativen.

Zwei der Visionen, die Schwägerl schildert, sind utopischen Charakters. Wenn wir Menschen es schaffen, die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien klug einzusetzen, dann können wir zu einer ganzheitlicheren Betrachtung unseres Lebens auf diesem, unseren Planeten kommen, zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge von Mensch, Natur und Technik. Damit auch zu einem selbstbestimmten Umgang mit Technologien und zu einem verantwortlicheren Umgang mit den begrenzten Ressourcen, die unsere Welt uns bietet. Wenn nicht, landen wir in »Googlonia«, Schwägerls Einstiegsszenario, wo Menschen willfährige Sklaven der digitalen Überwachung sind. Die Fortführung dessen, wenn sich die Erzählung von Der Circle durchsetzt.

Menschenzeit von Christian Schwaegerl
Christian Schwagerl: Menschenzeit – Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. Goldmann Verlag 2012. 380 Seiten. Vergriffen

Da Google – wenn auch nur indirekt – erwähnt wurde, sollten wir uns zuletzt einem weiteren Buch widmen, welches das Tal beschreibt, in dem dieses Unternehmen beheimatet ist und aus dem die Veränderungen der Zukunft stammen: Silicon Valley. Nach diesem versprechenden Tal hat Christoph Keese, Executive Vice President von Axel Springer, sein Buch benannt, von dem hier die Rede ist. Keese hatte im Auftrag seines Konzerns eine Dienstreise in das Digital-Hub der westlichen Welt unternommen, seine Eindrücke beschreibt er in einer Art Reisetage-, Beobachtungs- und Erkenntnisbuch. Man mag zu Axel Springer politisch stehen, wie man will, man mag am Umbau des Konzerns zweifeln, dass der Axel Springer Konzern aber wohl das Unternehmen in Deutschland ist, das sich am intensivsten mit der Digitalisierung beschäftigt, ist unbestritten. Das liegt auch an so klugen Köpfen wie Christoph Keese. Mit offenen Augen und Ohren erfährt er Silicon Valley, lässt sich auf die Menschen ein, auf deren Denken und Motivationen. Keese trifft auf die unterschiedlichsten Typen, auf Akademiker wie Gerhard Casper, dem ehemaligen Präsidenten der Stanford University und zukünftigen Leiter der American Academy in Berlin, auf Unternehmer wie Peter Thiel, dem ehemaligen CEO von PayPal, oder auf Alex Karp, dem Gründer der Sicherheits- und Big-Data-Firma Palantir, und und und. Alle strahlen ein ungeheures Bedürfnis nach Veränderungen, nach Kreativität, nach Unternehmertum, nach the next big thing. Um dieses next big thing zu erreichen, kann es sein, dass dazwischen neun Flops liegen. Egal, ohne Risiko kein Gewinn, ohne Scheitern kein Lernen oder in den Worten des Gründers von IBM, Thomas J. Watson: »The fastest way to succeed is to double your failure rate.«

Konzerne wie Google, Apple, Amazon, Facebook und Co leben von Menschen mit solchen Mentalitäten, Menschen, die wissen, wie die Welt zu sein hat. Menschen, die einfach tun, was sonst keiner wagt. Menschen, die sich selbst und ihre Arbeit umstandslos in Frage stellen können und wieder neu anfangen. Innovation ist ein Zauberwort, »disruptive Innovation« das viel wichtigere. Den Unternehmern, Technikern und Ingenieuren im Silicon Valley geht es nicht darum, das eine durch das andere zu ersetzen, die Vinyl-Platte durch die CD, sondern das komplette System umzustürzen: Statt Tonträger Streaming. Natürlich produziert das etliche Verlierer, aber eben auch ein paar Gewinner. Und wir User gehören dazu und treiben die Disruption voran. Warum 20 Euro für eine CD ausgeben, wenn wir die Musik irgendwo im Netz auch kostenlos finden? Zu den Gewinnern gehören wir zumindest gefühlt ein bisschen. Wir, das heißt die User. Am stärksten aber profitieren die Konzerne und einzelne Superstars. Alle anderen verlieren in der Endabrechnung.

Eine solche Haltung ist in Deutschland nur begrenzt vorhanden, vermutlich auch nur begrenzt vermittelbar. Keese ist auch deswegen in die USA gegangen, um zu lernen, was in Deutschland geschehen muss, um den Anschluss an die digitale Zukunft nicht zu verpassen. Denn während der wirtschaftliche Frühling 2015 in Deutschland von zwei fossilen Dinosauriern wie Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn geprägt wird, wird im Silicon Valley darüber nachgedacht, wie etwa das Bankensystem ersetzt werden könnte, wie Keese an einer Stelle seines Buches verrät.

Silicon Valley von Christoph Keese
Christoph Keese: Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt. Knaus Verlag 2014. 320 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Wie schnell die Gegenwart ist, zeigt der Artikel »App statt Bank« aus der Wochenzeitung DIE ZEIT im Mai 2015. Die Banken stehen längst in Konkurrenz zu PayPal, Google Wallet, Apple Pay, Kreditech oder anderen Fintechs und nicht immer scheinen die Banker die Zeichen der Zeit zu erkennen. Ein weiterer Vorteil der amerikanischen Mentalität: Tempo geht vor Perfektion. Kunden sind ideale Weiterentwickler der Produkte. Sie erkennen, was nicht funktioniert, was fehlt, wo Verbesserungen nötig sind. Können wir uns Produkte »Made in Germany« vorstellen, die nicht bis ins Perfektionistische getrieben sind?

Christoph Keese verklärt die Realitäten des Silicon Valley nicht. Im Gegenteil, er verweist auf die sozialen Verwerfungen, die die Digitalisierung vorantreibt. So ist ein Kapitel auch mit »Exklusiver Boom: Die Wertschöpfung im reichsten Tal der Welt erreicht nur die Gebildeten« überschrieben, in dem er Silicon Valley als das Tal der sozialen Gegensätze darstellt. Grundsätzlich gilt für das mächtigste Tal der Welt, was Brynjolfsson und McAfee sehr allgemein ausgedrückt haben: »Technischer Fortschritt, vor allem bei digitalen Technologien, löst eine beispiellose Umverteilung von Vermögen und Einkommen aus.« Vor allem von unten nach oben, von vielen zu wenigen. Inwieweit der Kapitalismus als Wirtschaftsform überleben kann, ist eine Frage, die keiner der Autoren stellt. Ein ganz düsterer Blick in die Zukunft könnte jedoch sein, dass weder der Kapitalismus Menschen braucht noch die zu zukünftigen Roboter, wenn sie erst einmal gelernt haben, die Arbeit der Akademiker und gut Ausgebildeten zu übernehmen.

Aber bis es soweit ist, genießen wir das neue iPhone, die supercoolen Apps, den Ausflug mit einem fahrerlosen Auto und all die anderen smarten Erfindungen, die uns das Leben leichter machen; und vor allem den makellos blauen Himmel, der uns mit Mae verbindet. Es wird schon gut gehen. Es ist doch bisher immer noch alles gut gegangen, oder?