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Dicke Klötze: Sachbuch-Schwergewichte der Saison

S. Fischer. 656 Seiten. 29,99 Euro
S. Fischer. 656 Seiten. 29,99 Euro.

Paul Jankowski lehrt Geschichte an der Brandeis Universität, mit seinem Buch über die längste und blutigste Schlacht des Ersten Weltkriegs erscheint er das erste Mal in deutscher Übersetzung. Über 300.000 Soldaten kamen im Laufe der zahnmonatigen Grabenkämpfe auf den Schlachtfeldern bei Verdun ums Leben. Sie gelten bis heute als Symbol für sinnloses Sterben und zermürbenden Stellungskrieg, dessen Systematik zuletzt eindringlich bildhaft von Joe Sacco in einem 12-Meter langen Comicpanoramabild gezeigt wurde. Was die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs betrifft, haben Jörn Leonhard mit Die Büchse der Pandora sowie Herfried Münkler mit Der Große Krieg monumentale Studien vorgelegt, die ihresgleichen suchen. Der amerikanische Historiker und Kenner der französischen Geschichte Paul Jankowski wirft nun mit seiner Untersuchung Verdun. Die Jahrhundertschlacht (Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz) einen Blick auf zehn Monate Barbarei, in denen die Vernichtungsindustrie des modernen Krieges erstmals zur Anwendung kam. Er schildert die Hoffnungen und Ängste in den Gräben und die Wahrnehmung der »Jahrhundertschlacht« in Frankreich und Deutschland. Der Verlag verspricht eine »große Gesellschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs und eine neue, moderne Sicht auf dessen längste und grausamste Schlacht«. Sie wird sich an Leonhard und Münkler messen lassen müssen.

Verlag C.H.Beck. 640 Seiten. 39,95 Euro.
Verlag C.H.Beck. 640 Seiten. 39,95 Euro.

Seit bekannt ist, dass der bekannteste britische Historiker weltweit, der Kunsthistoriker und Direktor des British Museum Neil MacGregor noch in diesem Jahr nach Berlin ziehen wird, um die Gründungsintendanz am Humboldtforum in Berlin zu übernehmen, wird kaum vorfreudiger über eine Personalie in der Berliner Kulturszene gesprochen. Dem wird sein neues Buch zuträglich sein, in dem er Erinnerungen versammelt hat, die über die Zeiten, politischen Ideologien und räumlichen Grenzen hinweg allen Deutschen gemeinsam sind. Er beginnt mit dem Brandenburger Tor und endet nur wenige hundert Meter davon entfernt mit der Reichstagskuppel und Gerhard Richter. Den Raum dazwischen weitet er in seinem unnachahmlichen erzählerischen Duktus, mit dem er Objekte zum sprechen bringt, so wie er seinen Lesern schon die Geschichte der Welt in 100 Objekten nahegebracht hat (und wie nun der Gründungspräsident der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn Hermann Schäfer bei Piper das Erfolgskonzept mit Deutsche Geschichte in 100 Objekten kopiert). Auf seiner »augenöffnenden Reise« macht er Halt bei Gutenbergs Buchdruck, sächsischem Porzellan, deutschem Bier und deutscher Wurst. Literarisch schweift er von Schneewittchen zu Goethe und Mutter Courage, gesellschaftlich von der Krone Karls des Großen zum Tor von Buchenwald und einem ostdeutschen Tauchanzug. Ohne zu relativieren oder zu übertreiben nähern wir uns mit MacGregor den Erinnerungen einer Nation (Aus dem Englischen von Klaus Binder) an. »Das ist so intelligent, so bravourös und so unterhaltsam zugleich, dass man es einfach gelesen haben muss«, meint sein deutscher Verlag. Wenn MacGregor aber eines nicht mehr braucht, dann ist es diese imperative Werbung.

Rowohlt Verlag. 608 Seiten. 34,95 Euro.

Nachdem jahrzehntelang vom Niedergang der Religion die Rede war, ist seit einigen Jahren nun wieder das Wort der Rückkehr der Religionen in aller Munde. Dies hat zum einen mit dem erstarken des politischen Islam außerhalb, zum anderen aber auch mit den Debatten um die Integration von Einwanderern aus muslimischen Ländern und den dabei in die Waagschale geworfenen, vermeintlich zivilisierteren, christlich-abendländischen Wurzeln einer wie auch immer gearteten europäischen Kultur zu tun. Der Historiker Manfred Clauss, der in Berlin, Siegen, Eichstätt und Frankfurt am Main Alte Geschichte lehrte und Standardwerke zur Antike wie Das Alte Ägypten, Alexandria. Schicksale einer antiken Weltstadt oder Mithras. Kult und Mysterium geschrieben hat, kann darüber nur schmunzeln. Denn das Christentum, wie wir es heute kennen, ist seinen Forschungen zufolge das Ergebnis von Eifer, Gewalt und politischem Kalkül. Dass vier Jahrhunderte nach der Kreuzigung eines Wanderpredigers vor Jerusalem das christliche Bekenntnis zur römischen Staatsreligion werden würde, ist das Ergebnis von Ränkespielen und Machtpolitik. In seinem neuen Werk Ein neuer Gott für die alte Welt erzählt er die Geschichte des frühen Christentums, das seinen Ursprung in einigen versprengten Urgemeinden hat und bis ins 6. Jahrhundert zur einflussreichsten Weltanschauung aufsteigt. Dabei entwirft er »ein überraschendes, archaisch-schillerndes Panorama: Da wird aus heidnischen Sonnwendfeiern das Weihnachtsfest, Märtyrer sehnen sich nach dem Tod, ein neues, prägendes Lebensideal der Askese bildet sich heraus. Streiter für ihre Kirche wie Paulus und Augustinus propagieren ihre Lehre, schreiben gegen falsche Propheten an – und Gruppierungen wie Arianer und Doketisten bekämpfen sich bis aufs Blut.« Nicht allein die Liebesbotschaft des Evangeliums sei ausschlaggebend für den Erfolg des Christentums gewesen, sondern ein Gemenge aus Faszination an neuen Riten und strategischen Entscheidungen im geopolitischen Spiel um Macht und Einfluss. Manfred Clauss zeichne »ein neues Bild unserer abendländisch-christlichen Anfänge«, und weitet somit unseren Blick auf die Friedfertigkeit der in Europa neben dem Volksatheismus größten Weltanschauung.

Verlag Galiani Berlin. 600 Seiten. 85,- Euro.

»Darum lest ihn, lest ihn wieder und wieder!« Zu dieser hymnischen Aufforderung ließ sich unsere Autorin Jana Friedemann vor etwas mehr als einem Jahr hinreißen, nachdem sie sich in verschiedenen Shakespeare-Biografien anlässlich des 450. Geburtstag des Dramaticus im vergangenen Jahr auseinandergesetzt hatte. Nun erscheint – mit etwas Verspätung zugegebenermaßen – ein voluminöser und prächtig aufgemachter Leinenfoliant, der »die ganze Shakespeare-Welt« verspricht. Das Format, in dem Günter Jürgensmeiers Shakespeare und seine Welt daherkommt, ist ein Erfolgsformat, mit dem der Galiani-Verlag bereits Reportagen und Augenzeugenberichte, Beobachtungen und Spekulationen zur Welt und zum Menschen aus 2.500 Jahren auf die Wohnzimmertische der Nation befördert hat. Auch der Graphic Canon, in dem Comicversionen der großen Werke der Weltliteratur im Coffeetable-Book-Format präsentiert werden und dessen zweiter Teil im Herbst erscheint, trägt das schmuckvolle Leinenkleid im Großformat. Nun also William Shakespeare, dieser ewige Literaturgigant, an dem kein Literaturliebhaber vorbeikommt. Für den prachtvoll ausgestatteten und reich bebilderten Folianten hat Jürgensmeier über Jahrzehnte Material gesammelt, um Shakespeare in seiner Welt zu präsentieren und sein Werk vor dem Hintergrund seiner Zeit zu deuten. Wie Hintergrundberichte werden die bekannten Stücken durch die Lupe zeitgenössischer Meldungen, propagandistisch aufgerüsteter Quellen, Reisebeschreibungen oder Kunstwerke seiner Zeit betrachtet und gelesen. Der Fundus an zeitgenössischem Text- und Bildmaterial soll »riesig« sein – alles andere wäre dieser schmuckhaften Aufmachung auch unwürdig. Das »Buchereignis« Shakespeare und seine Welt verspricht »Augenöffner und Augenweide in einem« zu sein. Quod sit demonstrandum!

Suhrkamp Verlag. 600 Seiten. 34,95 Euro.
Suhrkamp Verlag. 600 Seiten. 34,95 Euro.

»Von verzauberten Dingen, Hochöfen der Seele und der Musik der Gedanken« steht in großen Lettern über der Annoncierung von Alexander Kluges Chronik des Zusammenhangs, die das Gegenstück zu seiner vor fünfzehn Jahren erschienenen Chronik der Gefühle darstellt. Wie schon dort geht es ihm auch hier darum, Gedankenkonstrukte und theoretische Ansätze in konkrete Geschichten aufzulösen. So bewegt sich Kluges neues Buch zwischen Literatur und Theorie. Kluge ist zweifellos einer der von Deutschlands wichtigsten Intellektuellen. Sich im breiten Raum des kulturellen stilsicher bewegend wie kaum ein anderer, durchmisst er hier nun die Millionen Jahre währende Geschichte des Menschen. Ist der Mensch das von allen Instinkten befreite, selbstermächtigte Königswesen oder doch nur der »große Menschenaffe«? Der mit unzähligen Preisen bedachte Filmemacher und Autor reißt den Boden unter unseren Füßen auf, auf dem wir uns zu selbstsicher bewegen. In dreizehn Stationen fragt er nach dem Menschlichen und Allzumenschlichen anhand konkreter Geschichten. In (King) Kongs große Stunde gehe es um »Reparaturerfahrung« als essenzielle Lebenspraxis, um die genealogische Erinnerung an Vater und Mutter, um Dinge, die wir mit unserem zivilisierten Leben verbinden, und um die Kunst als »große Oper« im Leben und auf der Bühne, die die direkteste Darstellung von Leidenschaft mit ihren elementaren Wurzeln in der Realität biete: »im Terror, im Glück und in stillgestellten Bürgerkriegen des Gefühls aus ältester Zeit«. 

Hanser Verlag. 600 Seiten. 24,90 Euro.
Hanser Verlag. 600 Seiten. 24,90 Euro.

Marc Goodman ist einer der kenntnisreichsten Experten in den USA, wenn es um Internet- und Cyberkriminalität geht. Er arbeitet für den FBI, hat das Future Crimes Institute gegründet und berät Interpol zu Fragen der Internetkriminalität. Vorher hat er als Undercover-Ermittler und in der Terrorismusbekämpfung gearbeitet. Dass er neben Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch auch noch Deutsch spricht, lässt erahnen, dass er hierzulande bald zu einer der meistgefragten Experten in Sachen Internetsicherheit gehören wird. Allerdings ist er sicherheitspolitisch vorgeprägt, er hat einiges mit dem ehemaligen Sicherheitsbeauftragten von George W. Bushs, Richard Clarke, gemein. Dieser hatte 2011 mit World Wide War vor einem Krieg aus dem Internet gewarnt. Goodman nimmt in Global Hack (Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Karin Miedler, Kathleen Mallett) offenbar Clarkes Argumente auf. »Das Internet als Ort friedlicher Begegnung? Das war einmal«, heißt es in der Buchankündigung. Längst hätten global agierende Cyberkriminelle das Netz unterwandert, um von dort Entführungen zu planen, Konten zu plündern und Atomkraftwerke zu kapern. Das klingt ganz nach Clarke, der diese Szenarien schon ankündigte. In seinem Buch beweise er, dass wir es »immer öfter mit bestens ausgebildeten Elite-Kriminellen zu tun [haben], die neben Terrororganisationen, Geheimdiensten und ausländischen Regierungen mitmischen beim globalen Daten-Monopoly. Das Internet wendet sich gegen uns. Es wird Zeit, dass wir aufwachen.« Worin dieses Aufwachen besteht, wird man in diesem Buch lesen können. Dass er sich dabei gegen obrigkeitsstaatliche Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung ausspricht, ist nicht zu erwarten. Vielleicht legt man sich schon einmal seine Jaron-Lanier-Bibliothek zurecht, falls Bedarf für ideologiefreie Korrektur entsteht. 

Rowohlt Verlag. 567 Seiten. 26,95 Euro

Vor zwei Jahren stand die Berlinale ganz unter dem hell-dunklen Stern des Lebenswerks von Claude Lanzmann, als der französische Regisseur den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk verliehen bekam. Er wurde berühmt als Regisseur des epochemachenden Films Shoah, einer neuneinhalbstündige Dokumentation in zwei Teilen, in dem er vor allem die Zeitzeugen sprechen ließ. Auf der Berlinale wurde dieses »epochale Meisterwerk der Erinnerungskultur« noch einmal vollständig gezeigt. Lanzmann, der in diesem Jahr seinen neunzigsten Geburtstag begeht, ist selbst auch ein Zeitzeuge des zwanzigsten Jahrhunderts. In seiner hochgelobten Autobiografie schreibt er von seinen Erfahrungen als Résistance-Kämpfer gegen die Nazis, seiner Tätigkeit als Journalist, den Jahren als Wegbegleiter Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs. Der von ihnen gegründeten Philosophiezeitschrift Les Temps Modernes steht er immer noch als Herausgeber vor. Wie der Taucher auf dem berühmten Fresko im süditalienischen Paestum, das einen Mann zeigt, der kopfüber von einer Säule springt, habe sich Lanzmann in jedes Abenteuer gestürzt – vor allem publizistisch, wie diese Essaysammlung zeigt. In Das Grab des göttlichen Tauchers (Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara) sind Reportagen, Erzählungen, Porträts und kämpferische Artikel versammelt, die er seit 1947 geschrieben hat, unter anderem auch für ebendiese Zeitschrift. Neben polemischen Texte und harschen politischen Interventionen soll der Band einfühlsame Nahaufnahmen und gesellschaftliche »Tiefenbohrungen« enthalten, immer »unkonventionell, eigensinnig und frei«. Er schreibt darin über Serge Gainsbourg, Richard Burton und Jean-Paul Belmondo, über den Dalai-Lama und Rainer Werner Fassbinder – und erweist sich einmal mehr als unverzichtbarer Chronist des zwanzigsten Jahrhunderts.

Hier finden Sie die Schwergewichte des Herbstes in den Kategorien Belletristik und Übersetzung.

6 Kommentare

  1. […] Interpretationen der Fundstücke, die alle auch einen vorgegebenen Rahmen haben. So wie das Gerhard-Richter-hafte Foto von Farbstreifen, dass er in der Fotoschachtel der Eltern findet. Auf dem Rücken steht »Die Queen […]

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