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Die dunkelgraue Republik

Wie passt David Lynchs dunkelgraues Los Angeles in die hessische Provinz? Für den Kulturwissenschaftler Philipp Felsch fällt die Antwort auf diese Frage recht simpel aus. Man lese Frank Witzels Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969«.

Felsch und Witzel saßen Anfang Dezember gut eine Woche in einem Berliner Studio zusammen und dachten für ein kleines Gesprächsbändchen der Fröhlichen Wissenschaft über die Ungleichzeitigkeit von Biografie und Geschichte vor dem Hintergrund der Post-RAF-Ära nach. Am Dienstagabend gaben sie bei einem Gespräch in Berlin Einblick in den Stand ihres Denkprojekts.

Ausgangspunkt dieses gemeinsamen Sinnierens über die westdeutsche Vergangenheit ist die lange Biografie des Theorielesens, die beide einander nahebringt und ihre jüngsten, viel gepriesenen Bücher prägt. Witzel hatte mit seinem von popkulturellen Elementen durchdrungenen Erinnerungsroman vor wenigen Wochen den Deutschen Buchpreis erhalten, Felsch war mit seiner Geschichte über den Westberliner Merve Verlag mit dem Titel Der lange Sommer der Theorie im Frühjahr für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Zentral war bei dem von taz-Chefkritiker Dirk Kniphals moderierten Austausch die Debatte über einen Genrebegriff, den Felsch bereits im Juni bei einer Diskussion im LCB Berlin für Witzels Roman erfand. Der Roman sei ein klassisches Beispiel, wenn auch das erste, eines »BRD Noir«, erklärte er damals, und schuf so die Grundlage dafür, Lynchs düsteres Grauen nach Wiesbaden zu überführen. Seither dachte Witzel immer wieder begeistert über diese genretypische Einordnung nach; und findet sie überaus passend. Schließlich sei der Wahn seines 13-jährigen Protagonisten doch »der Versuch, sich diesem Noir anzunähern«, wie er bei der Diskussion mit Felsch erklärte.

Wie düster dieses Noir Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre war, machte er noch einmal mit Verweis auf seinen Roman deutlich. Diese Zeit sei von der Ermordung Timo Rinnelts – dem ersten Entführungsopfer der Wirtschaftswunder-BRD – und dem Jungenentführer Jürgen Bartsch geprägt gewesen, die »faulige Frucht« des Aufschwungs sei damals aufgebrochen, erklärte Witzel. Die Ängste, die dies hervorgerufen hat, treiben auch seinen Protagonisten im Roman um, werden zum Teil seines wahnhaften Komplexes.

Claus Walter, Philipp Felsch, Frank Witzel und Maike Albath bei der Aufzeichnung der »LCB Studio«-Debatte zum Roman
Claus Walter, Philipp Felsch, Frank Witzel und Maike Albath bei der Aufzeichnung der »LCB Studio«-Debatte zum Roman

Felsch deutet diesen Wahn im Sinne des »BRD Noir« um, denn wer sagt denn, dass der Wahn-sinnige nicht vielleicht derjenige ist, der den Durchblick behält, eben weil seine Sinne in alle Richtungen offen sind? Witzels »Erfindung der Roten Armee Fraktion« lese er daher auch als Theorie der Antipsychiatrie. Dass Witzel diese Theorie in der westdeutschen Provinz und nicht in einer Metropole spielen lässt, liegt für Witzel in der Parallelität von Kindheitserinnerung und Kleinbürgerlichkeit zusammen. »Die Provinz ist im Kind- und Teenagersein angelegt«, sagte er. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Bonner Republik, auf die heute mit einer seltsam süßlichen Melancholie zurückgeblickt wird, nichts anderes als Provinz hatte. Frankfurt als Zentrum der Studentenbewegung zur Metropole zu machen, führte zu weit. So holte sich Witzel als 17-Jähriger die Weltläufigkeit in die Provinz, das Titelfoto erzählt vom amerikanischen Fake im hessischen Dorf.

Warum dann aber die RAF im Titel, fragte Kniphals den Buchpreisträger, der mit der starken Wirkung dieser Chiffre antwortete. Die RAF habe den aufkommenden Pop-Impuls, der von den Rolling Stones oder The Who gesetzt worden sei, sofort überdeckt und die Epoche in ein neues Grau getaucht. Für den jungen Frank Witzel ist das die biografische Tragödie dieser Zeit. »Ich war für den Summer of Love zu jung, und als ich ihn wollte, kam er nicht mehr. Er wurde von Stammheim abgelöst«. Und zwar unwiderruflich. Felsch wusste diese persönlichen Erinnerungen im Sinne der Ungleichzeitigkeit von Biografie und Geschichte noch klug zu ergänzen. Mit der RAF schlage die Utopie, die Hoffnung, um in einen Utopieverlust, erklärte er, jedoch nicht, ohne von dem etwas älteren Witzel etwas korrigiert zu werden. »Wenn man die RAF nicht immer retrospektiv aus der Perspektive von Stammheim, Mogadischu und Schleier, sondern aus der Perspektive von 1968 betrachtet, dann kann man schon das Gefühl bekommen, das Pop und RAF die Dinge noch einmal anders hätten bewegen können.

Letztendlich aber finden Biografie und Geschichte zu unterschiedlichen Zeiten statt, die erste ist selbst in der Erinnerung prospektiv, die andere noch beim Schreiben retrospektiv. Ist Geschichte hell er- und meist auch durchleuchtet, ist das Biografische vom dichten Grau – des »BRD Noir«? – eingehüllt. Witzels Roman ist deshalb so herausragende Literatur, weil sie den Leser in diesen Nebel mitnimmt, ihn die Beklemmung und das Wahnhafte spüren lässt, ohne ihn wirklich zu lichten. Deshalb finden wir Lynchs bedrückendes Grau bei Witzel in der hessischen Provinz wieder.

Frank Witzel und Philipp Felsch ließen anklingen, wie das Düstere und Gewaltvolle der RAF-Ära Biografie und Geschichte prägen. Wer genau wissen will, was das »BRD Noir« ausmacht, der kann dem ab März 2016 im gleichnamigen Buch (bei Matthes & Seitz Berlin) und Hörbuch (bei speak low) auf den Grund gehen. Bis dahin ist auch genug Zeit, noch einmal zu Witzels größenwahnsinnigen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 zu greifen und dem stream of consciousness seines erzählenden Teenagers nachzugehen.

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