Interviews & Porträts, Zeitgeist

Zweitausendfünfzehn. Blume des Bösen.

Marvin Kleinemeier ist freier Fotograf, Journalist und enthusiastischer Vielleser. Er hat eine der einflussreichsten deutschsprachigen Webseiten zur Literatur des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño ins Leben gerufen. Nachdem er sich 2014 unter dem Pseudonym Bob Sala erfolgreich in das Abenteuer Fotografie gestürzt und sich schnell einen Namen gemacht hat, ist 2015 anders verlaufen als erwartet. Statt von Shooting zu Shooting zu reisen gab er Deutschkurse für »allein reisende junge Männer (WTF?) aus Syrien«. Der nachfolgende, zunächst auf Facebook veröffentlichte Text ist sein persönlicher Rückblick auf 2015, ein bewegender Appell an die Menschlichkeit, um Herzen und Türen zu öffnen. »Geht hin und sagt einfach mal hallo. Es sind neue Deutsche im Land.«

Ich werde in den letzten Tagen immer wieder in Jahresrückblicken von Models erwähnt und verlinkt. Hätte man mir das vor einem Jahr gesagt… Ich genieße die ganzen Kontakte, die ich durch die Fotografie gewinnen konnte im letzten Jahr und fühle mich geehrt, im Rückblick ein Teil von Eurem Jahr gewesen zu sein. Ich bin sehr dankbar für alles. Und doch rückt die Fotografie in letzter Zeit immer wieder und immer weiter in den Hintergrund. Ich würde die Gelegenheit und die Reichweite hier daher gerne für einen »statt Blumen«-Beitrag nutzen. Dafür werde ich diesen Beitrag sponsern. Seht mir das nach.

Die Fotografie beiseite, beruflich und privat war dieses Jahr nicht gerade ein Highlight, eher ein Fiasko und teilweise kam ich mir leicht verarscht vor vom Schicksal. All das habe ich (einigermaßen) hinter mir gelassen und konnte in den letzten Monaten meine Energie und Aufmerksamkeit auf andere Bereiche lenken, die mir das Leben wieder direkt in die Venen gedrückt haben. Hauptberuflich bin ich in der Bildungsbranche unterwegs. In den letzten Jahren hieß das vor allem die Entwicklung innovativer Möglichkeiten zur Begleitung von Schülern ins Berufsleben voranzutreiben. Seit einigen Monaten arbeite ich jedoch vor allem im Bereich der Flüchtlingshilfe. Dazu gehört, dass ich zwei Deutschkurse gebe, größtenteils für »allein reisende junge Männer« (WTF?) aus Syrien. Dazu gehört aber auch innovative Ideen für die Betreuung in den Kommunen zu entwickeln und Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fragen.

Um die Teilnehmer für meine Deutschkurse zusammenzustellen, bin ich die einzelnen Camps, Wohnhäuser und Turnhallen angefahren und habe gleichzeitig einen Eindruck von den Umständen gewinnen können, in denen die Flüchtlinge derzeit leben. Die Familien hatten es dabei meist sehr »in Ordnung« erwischt. Zwar lebten dort viele Menschen in einer Wohnung, aber die Wohnungen sind sauber, warm und freundlich. Für die »allein reisenden Männer« sieht das Ganze allerdings in vielen Fällen anders aus. Manche der Herbergen waren eigentlich nicht bewohnbar. Zu den Umständen möchte ich aber nicht zu viel sagen. Die Situation ist einfach angespannt und alle arbeiten auf Hochfrequenz an Lösungen, auch wenn im derzeitigen Chaos nach dem großen Flüchtlingssturm vieles unverständlich ist was passiert. Viel mehr ist doch die Frage: Was können wir tun? Das ist auch die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird in letzter Zeit. Viele berichten von Flüchtlingsheimen, die alte Möbel nicht annehmen wollen o.ä. »Unsere Hilfe wird ja nicht angenommen!«, höre ich dann. Wasser auf die PEGIDA-Mühlen. Nur brauche ich in einem Heim mit Fluren, auf denen es jeweils 6 Zimmer gibt mit jeweils 12 Bewohnern keinen Einbauschrank und kein Ecksofa. Der Platz reicht gerade so für ein paar Pritschen. Freizeitraum gibt es nicht. Da schläft schon wer.

Ich habe mit etwa 50 Menschen aus Syrien und dem Irak Kontakt. Jeden Tag. 45 davon Männer. Die meisten etwa in meinem Alter, zwischen 22 und 34. Ich habe Ärzte, Ingenieure, Richter dabei, ich habe KFZ-Mechaniker, Busfahrer und Köche dabei. Ich habe Englisch-Lehrer und Physik-Lehrer dabei. Journalisten, Hilfsarbeiter, Grundschuldirektorinnen. Die meisten der Männer sind Single, haben aber ihre Mütter, Schwestern, Väter und Brüder in der Heimat gelassen, um sie nachzuholen, sobald eine Aufenthaltserlaubnis vorliegt und eine passende Wohnung gefunden ist. Es sind meist die kräftigen jungen Männer der Familie, die sich den Strapazen der Flucht aussetzen und jetzt in Deutschland ankommen. Was von vielen als Kritikpunkt verwendet wird, ist hierbei einfach schlichter Menschenverstand.

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Die Jungen kommen nach einer Tortour hier an. Dann warten sie ein paar Wochen auf die BÜMA (Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender), ein weißes Blatt Papier, das für die nächste Zeit als ihr Ausweis dient. Danach kann es bis zu einem Jahr dauern, bis sie das Interview bekommen, nachdem entschieden wird, ob sie bleiben dürfen. EIN JAHR. Ein Jahr, in dem man arbeiten und reisen kann oder in seiner Freizeit viele schöne Shoots machen kann, für die man dann am Ende des Jahres Danke sagen kann in einem Post bei Facebook, nachdem man zwei Kilo schwerer vom Weihnachtsessen bei den Verwandten wieder mit neonweißem Gesicht in der Dunkelheit vor dem Laptop sitzt. Ein Jahr in einem Zimmer mit 11 Fremden. Auf einem Flur mit zwei Kochstellen. Ohne die Gewissheit, nach dem Interview auch bleiben zu dürfen.

Nun müsste man denken, dass diese Situation zu Lagerkoller, Konflikten, vielleicht auch Kriminalität führt. Ich würde diese Situation jedenfalls nicht aushalten. Der erste Griff am Morgen wäre der zu meiner Rum-Flasche. Seit Wochen betreue ich nun einige dieser ständig angesprochenen »allein reisenden Männer«. Jüngere, Ältere, Hänflinge, Hünen, Untersetzte, Dürre, Dunkle, Helle, Bärtige, Kindliche, Vernünftige, Impulsive, Laute, Leise. Und dabei habe ich vor allem eins kennengelernt: mich. Meinen Bruder. Meinen Vater, meinen besten Freund aus Schultagen, den Typen aus der Parallelklasse, einen alten Nachbarn. Sie alle sitzen dort vor mir und haben Schwierigkeiten, das Wort ZWÖLF auszusprechen und brechen jedes Mal in helles Gelächter aus dabei. Ich habe Freunde gefunden in diesen Menschen. Die nichts anderes wollen, als Sicherheit und Frieden für sich und ihre Familien. Ich sehe Fotos von den Daheimgebliebenen. Müttern, Schwestern, vor allem Töchtern. Ich sehe Fotos auf ihren Handys von den Städten in denen sie ihre Heimat hatten: Aleppo, Homs, Damaskus, wunderschönen Städten mit Cafés, in denen ich gerne an einem Sonntag Morgen gesessen und gelesen hätte, Altstädte so prachtvoll wie in Italien und Frankreich dann zeigen sie mir Fotos aus diesem Jahr, aus dem wunderbaren 2015. Der Bäcker, bei dem einer meiner Schüler arbeitete, bevor er nach Deutschland fliehen musste, ist nicht mehr zu sehen auf einem staubigen Platz mit zerplatztem Beton. Auch die Fahrschule daneben ist nur noch ein Haufen Stein. Hotels, »in denen die Nacht 500 amerikanische Dollar gekostet hat«, Restaurants mit dem besten und fettigsten aus der heimischen Küche. Ganze Stadtteile dem Erdboden gleich.

Doch darum geht es hier nicht. Es geht um das hier und jetzt. Und wieder um die Frage »Was können wir tun?« Und dabei geht es nicht um Geld. Die Flüchtlinge haben nicht viel. Aber eigentlich kommen sie zurecht. Sie bekommen staatliche Hilfe, haben ein Dach über dem Kopf. Was sie wollen? Kontakt! Kontakt zu uns. Zu Deutschland. Sie wollen, dass Deutschland ihre Heimat wird. Nicht 2015. Nicht in diesem Winter. Aber vielleicht in den nächsten zwei oder drei Jahren oder in zehn. Sie tun alles in ihrer Situation mögliche, um so schnell wie es geht ein Teil dieser Gesellschaft zu werden. Sie verspüren große Dankbarkeit für alles, was ihnen von deutscher Seite bisher entgegen gebracht wurde. Und in meinem Fall haben die meisten Flüchtlinge auch noch überhaupt keine Begegnung mit Anfeindungen gehabt, sieht man mal von dem ein oder anderen stumpfen Blick in der Fußgängerzone ab. Woran es ihnen also fehlt: Kontakt. Und Antworten. Und damit wären wir auch endlich bei meinem »statt Blumen«-Kern dieses Textes angelangt.

Die Behörden, die Ehrenamtlichen, die Koordinationsstellen, die Polizei. Sie alle arbeiten derzeit bis in die Abendstunden und trotzdem ist das eigentlich noch nicht genug, was getan werden könnte. Die Asylbewerber haben keine wirklichen Ansprechpartner mehr, sobald sie ein Dach über dem Kopf haben. Während sie auf ihren Interview-Termin warten sind sie allein gelassen mit allen Aufgaben, die ihnen der deutsche Alltag stellt. Familien haben es leichter, Hilfe zu finden. Aber die jungen Männer sind oft unter sich (bereits vorher wird diese Trennung vorgenommen, dafür können sie nichts).

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Man kann also gerade so wunderbar einfach einem Menschen helfen, in dem man zum Beispiel einen Zahnarzttermin für ihn macht. Ein älterer Herr aus meinem Kurs musste operiert werden und sollte vor der OP die Informationen zu seiner Krankengeschichte ausfüllen, ein langes Formular, an dem viele auf Deutsch schon verzweifeln. Ein Syrer hat ein gebrauchtes Fahrrad gekauft und weiß nicht, wie er mit den deutschen Verkehrsregeln umgehen soll und welche Reflektoren/Blinker/Hupen er ans Fahrrad schrauben muss, damit ihn die Polizei nicht anhält. Der ausländische Führerschein gilt auch nur 185 Tage, sobald man in Deutschland registriert ist. Danach muss man die deutsche Prüfung (theoretisch und praktisch) noch einmal machen. Um das zu können muss einen jedoch eine Fahrschule zur Prüfung anmelden und vorher muss noch eine Fahrstunde absolviert werden. Woher soll man das wissen? Dann die Grundbedürfnisse: Hier fehlen ein paar Sportschuhe in Größe 43, dort vielleicht ein bisschen Nähzeug, dem anderen Zimmer kann man mit einem kleinen Wäscheständer die Lebensqualität erhöhen. Das sind Dinge, die von oben und über die Koordinierungsstellen nicht organisiert werden können. Die ersten Spenden für die Auffangstellen waren wichtig. Aber alles was jetzt kommt, muss an die Bedarfe angepasst sein und dafür muss man die Bedarfe kennen.

Deshalb mein Rat und meine Bitte an jeden von Euch: wendet Euch nicht an überforderte Koordinierungsstellen, ruft nicht bei der Stadt an. Ich weiß, dass das in der Weihnachtszeit viele versucht haben. Findet heraus, wo die Menschen wohnen und GEHT HIN. Klingelt an und stellt euch vor helft mit dem größten Gut in dieser Situation: Zeit. Und man findet immer jemanden, der Englisch kann, gerade bei den Syrern. Fragt einfach »Wie kann ich dir helfen? Hast du Fragen?« – Jemanden zu haben, der einem ein paar Fragen beantwortet und vielleicht schnell was recherchieren kann. Vielleicht jemanden, der einen zum Arzt begleitet, zum Amt. Eine kleine Übersetzung eines Schreibens des Kindergartens, der für die Aufnahme der Tochter noch ein wichtiges Formular braucht. Kleine Hilfen und die beständig.

Das ist notwendig und bricht keinem von uns einen Zacken aus der Krone. Einen Teil meiner Freizeit investiere ich in genau diese Dinge. Und es fühlt sich richtig an. Vielleicht ist das auch nur Eigensinn bei mir. Aber da scheiß ich dann mal drauf. Lasst das mit den riesigen Publicity-Aktionen, wo ein Mal an einem Tag medienwirksam etwas für Flüchtlinge gebündelt getan wird. Geld wird auf Dauer nicht das Problem der Menschen sein. Die kleinen Gesten werden den Unterschied machen. Für einen Menschen, für eine Familie, für eine Region.

Integration ist nicht nur Sache der Politik. Geht hin und sagt einfach mal hallo. Es sind neue Deutsche im Land.