Literatur, Roman

Leben statt Überleben

Der israelische Schriftsteller David Grossman stellte in Berlin seinen neuen Roman »Kommt ein Pferd in eine Bar« vor und sprach über die Folgen verdrängter Wunden.

Der Clown ist seit jeher eine tieftraurige Gestalt. Nicht umsonst ist ihm das Lächeln auf das Gesicht geschminkt. Hinter der aufgetragenen Schminke verbirgt sich ein »Ritter von der traurigen Gestalt«, wie es bei Cervantes Don Quichote so schön heißt. Das die eigene Traurigkeit den scharfsinnigsten Humor gebiert, spiegeln auch die Schicksale von berühmten Witzfiguren. Charlie Chaplin etwa war tief deprimiert, verbarg hinter der Fassade seines Slapsticks das Trauma seiner schwer belasteten Kindheit.

Schwer belastet ist auch die Geschichte Israels, das Trauma der Gewalterfahrung steckt dem Land und seinen Bürgern quasi in den Genen. Der israelische Autor und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels David Grossman verwebt in seinem neuen Roman Kommt ein Pferd in die Bar die tragische Geschichte seiner Heimat mit dem schweren Schicksal seines modernen Ritters von der traurigen Gestalt, dem Stand-Up-Comedian Dovele Grinberg. Ihn lässt er an seinem 57. Geburtstag in der Küstenstadt Netanja einen legendären Auftritt hinlegen, der nicht nur dessen Publikum, sondern auch den Leser dieses ergreifenden Romans erst verstört und dann nicht mehr loslässt.

Am Montagabend war Grossman in der Berliner Akademie der Künste bei dem Literaturkritiker Lothar Müller zu Gast. Unter die zahlreichen Fans des Autors, die zu der von zwei Lesungen von Ulrich Matthes begleiteten Diskussion kamen, hatte sich auch einige Literatur- und Kulturprominenz geschlichen. Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller machte ihre Aufwartung ebenso wie Ingo Schulze oder Katerina Poladjan. Neben der aktuellen Präsidentin der Akademie der Künste Jeanine Meerapfel wollte sich auch ihr Vorgänger Klaus Staeck den Auftritt des Israelis nicht entgehen lassen. Ebenso wenig wie die Literaturkritikerinnen Sigrid Löffler und Meike Feßmann.

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»Einen Witz zu erzählen, ist eine Kunst für sich«, erklärt Grossman zu Beginn des Abends. Denn Witze führten immer auf eine andere Ebene, auf der selbst das Lachen ein anderes sei. Wenn man seinem Comedian eines lassen kann, dann, dass er weiß, wann es höchste Zeit ist, einen gewöhnlichen Witz in sein ansonsten recht ungewöhnliches Geburtstagsprogramm zu streuen. Denn dieses nimmt einen Verlauf, der mit den normalen Regeln, nach denen Stand-Up-Comedy funktioniert, wenig zu tun hat.

Anfangs hält sich Dovele an diese Regeln. Er versucht, locker mit seinem Publikum zu spielen, es zu umgarnen und zu locken, um es dann mit einem plötzlichen Wechsel der Ebenen zu überraschen. Doch solange er dies tut, ist sein Auftritt kaum zu ertragen. Es ist eine geradezu physische Qual, ihm durch die Augen des Erzählers dabei zuzusehen, wie er mit einem schlechten Witz nach dem anderen an seinem alltagsmüden Publikum scheitert. Und obwohl er mit dem Betreiber des Clubs vereinbart hat, keine politischen Kommentare zu machen, kann er sich gerade diese am wenigsten verkneifen. Die »Publikumshure« Dov Grinstein outet sich als »ein Mensch kurz vor dem Abwracken«.

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Allein in der Beschreibung dieses ständig scheiternden Humors liegt eine hohe schriftstellerische Kunst, denn es erfordert eine doppelte Kalkulation – die der Komik und die, sie auf der Bühne so scheitern zu lassen, dass ihre Erbärmlichkeit deutlich wird, aber nicht Überhand nimmt. Andernfalls würde nämlich jeder Leser das Buch weglegen. Wer verstehen will, was das bedeutet, führt sich am besten vor Augen, worin das Geschenk des Humors besteht, wie es die Leiterin des Theorienzentrums am Tanzquartier Wien Krassimir Kruschkova in der vorletzten Akzente-Ausgabe zum Thema Witz beschrieben hat. Komik, schreibt sie in Ihrem Beitrag The Gift of Humor. Über Performancewitz, »fokussieren die Aporien der Konventionen, das kalkulierte Verfehlen von Ort und Zeit, den Lapsus als Indiz des Verdrängten, die Kraft des Diffusen, den rasanten Stillstand der Pointen, den Zweifel der Sprache am Körper, das Verzweifeln des Körpers an der Sprache, die Krisensymptomatik, in der Körper und Sprache einander umstülpen, aneinander vorbei reden, vorbei gehen, ineinander kollidieren.« Will man Komik nun scheitern lassen, hieße das, all diese Verhältnisse neu zu kalkulieren, dabei aber nicht im Gegenteil zu landen – denn das wäre die Normalität –, sondern in einer neuen Form knapp neben der Komik, leicht versetzt in den Bereich des failed humor. Zu beobachten, wie Grossman dies gelingt, ist ein literarisches Vergnügen.

Doveles Programm unterliegt einer klaren Chorografie, er will seine Zuhörer an den Punkt bringen, wo sie nichts mehr erwarten, um ihnen dann die tragikomische Geschichte deines Lebens zu präsentieren. »Aber ihr müsst euch mit Geduld wappnen, denn diese Geschichte, so wahr Gott lebt, die hab ich noch auf keiner Bühne erzählt, und auch keinem einzigen Menschen, aber heute Abend muss es einfach sein.«

Denn dieser Abend wird sein letzter Abend als Comedian sein, weshalb er ihn von einem überaus scharfsinnigen Mann beobachten lässt. Avischai Lasar ist ein Richter im Ruhestand, er musste aufgrund seiner strengen Urteile vorzeitig den Hut nehmen. Dass er kurz darauf seine Frau Tamara an den Krebs verlor, hat ihn nicht nur zu einem einsamen, sondern auch zu einem verbitterten Zeitgenossen gemacht. Diesen Freund aus Kindertagen ruft Grinstein vor seinem Auftritt an und bittet ihn, seinem Auftritt beizuwohnen. »Ich möchte, dass du mich siehst. Dass du mich ganz genau anschaust, und dann sagst du mir, was du gesehen hast.« »Er wolle, „dass ich ihn sehe“«, erinnert sich der Richter an das Telefonat, in dem ihm Grinstein gestand, dass er in ihm die Fähigkeit erkenne, in die Seele der Menschen blicken zu können. Und seine Seele ist ein Grab.

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Der Roman ist das Minutenprotokoll von Doveles beklemmendem Auftritt, aber auch eine berührende Reise in die Vergangenheit der beiden Hauptfiguren. Denn als der Auftritt vollends zu scheitern droht, kommt es zu eben jenem Wendepunkt, an dem Grinstein zu seiner exklusiven Geschichte kommt: »Mein-ne er-ste Be-er-di-gung!« Natürlich sorgt das für weiteres Rumoren im Publikum, es kommt zu Buh-Rufen, einige Gäste gehen. Schließlich hat man für seichte Unterhaltung bezahlt, nicht für die Trauerrede eines Zurückgelassenen. Andere aber bleiben, weil Grinstein kunstvoll auf dem schmalen Grad zwischen Ironie, Satire und Tragödie wandelt und sie an ihre eigenen Erinnerungen führt.

Seine Geschichte handelt von dem Drama, das ihn seit seinem vierzehnten Lebensjahr verfolgt. Während eines Aufenthalts in einem Militärcamp ereilt ihn die Nachricht, dass er zu einer Beerdigung nach Jerusalem muss. Wer gestorben ist, erfährt er nicht. Einzig in einem Satzfetzen fängt der Junge auf, dass es sich um eines seiner Elternteile handeln muss, denn da wird von einem Waisen gesprochen, der schnellstens in die Hauptstadt gebracht werden müsse. Ein junger Rekrut fährt ihn und erzählt, aus lauter Hilflosigkeit angesichts der Situation, einen Witz nach dem anderen. Witze im Stile von »Kommt ein Pferd in eine Bar«, dessen Pointe der Roman vorenthält (Auflösung am Ende dieses Textes).

Während also der Fahrer einen Witz nach dem anderen vom Stapel lässt und schließlich noch seine Schwester auf eine Spritztour einlädt, rätselt der kindliche Dovele, ob er sich ach der Ankunft in Israels Hauptstadt von seinem Vater oder von seiner Mutter verabschieden muss. »Ich bin ein Hurensohn seit damals, als ich mit gerade mal vierzehn und einer beschissenen Krämerseele in dem Wagen saß und meine elende Rechnung aufgemacht habe, die beschissenste und abgründigste Rechnung, die ein Mensch in seinem Leben aufmachen kann«, gesteht Dovele. In dieser Rechnung geht es darum, wer bestenfalls gestorben ist, auf welches seiner beiden Elternteile er am ehesten verzichten könnte. Und darum, welchen dieser beiden letzten Holocaustüberlebenden ihrer Familien die Welt von sich stößt. Am Ende wird er sich fragen, ob er mit dieser Rechnung nicht ein Urteil gesprochen hat.

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Diese Geschichte – »ein Blick in die Hölle von jemand anderem«, wie man es in dieser Leichtigkeit der jüdischen Satire zuletzt bei Nathan Englander lesen konnte – ist auch eine Familiengeschichte, natürlich, denn die Familie hält Grossman nach wie vor für das größte Drama des Menschen. »Die größten Kämpfe der Menschheit werden nicht auf Schlachtfeldern, sondern in Küchen, Schlaf- und Kinderzimmern ausgefochten«, führte er mit einem Schmunzeln aus. Sie ist eine Familiengeschichte im doppelten Sinne. Denn während der Comedian seine Familiengeschichte erzählt, spürt der Richter der eigenen nach und kommt immer näher an die eigenen Versäumnisse gegenüber seiner Frau und die Schuldgefühle gegenüber dem Jugendfreund heran. Denn auch er war damals in dem besagten Militärlager, sah seinem Freund nach, als er wortlos in den Militärwagen stieg und weggebracht wurde. »Wäre ich nur aufgestanden aus dem Sand und zu ihm gelaufen, bevor er in den Wagen stieg«, denkt der, während er die tragische Geschichte des Jungen hört, der stundenlang um seine Eltern bangt, weil er im Unklaren gehalten wird. Dieser Junge lädt in diesen Stunden der Ungewissheit eine Schuld auf, die er nie wieder loswird. Sie liegt wie ein schwerer Stein auf seinen Schultern und drückt ihn zu Boden. Der einzige Umgang, den er damit gefunden hat, ist, sich in die trügerische Parallelwelt des Humors zu flüchten, der dem Leser hier als Galgenhumor aus dem Roman entgegenweht.

»Ich habe beim Schreiben viel über Anklage und Schuld nachgedacht«, sagte Grossman auf der Bühne des großen Lesesaals in der Akademie der Künste. Dabei sei ihm klar geworden, dass immer eine Geschichte hinter der Schuld existiert, die auf die Menschen wirkt, sie nicht mehr loslässt, auch wenn sie verdrängt wird. Wegschieben helfe wenig, vielmehr »sollten wir mit unserer Schuld in Kontakt sein«.

In seinem Roman macht Grossman seine Leser zum Teil dieses Prozesses der Kontaktaufnahme. Er lässt sie mit dem Publikum verschmelzen, mit dem Grinstein hier (dann doch) auf verdammt hohem Niveau spielt. Dieses Niveau hält auch die hervorragende deutsche Übersetzung von Anne Birkenhauer – unterstützt von Pieke Biermann –, die geradezu spielerisch die vielen Register dieses zwischen Sarkasmus, Selbstironie und Tragik schwankenden Spiels zieht. So erscheint diese zitatenreiche, mit Slang, Gossensprache, Alltagsformulierungen, Liedgut und jiddischen Sprüchen angereicherte Erzählung so natürlich, als säße man selbst im Publikum. Dass die Übertragung darüber hinaus noch mit deutschen Vokabeln arbeitet, die ihren Ursprung im Jiddischen, der Herkunftskultur von Dovele Grinsteins Eltern, haben, spricht für das große Feingefühl der Übersetzerin, die sich bei Pieke Biermann ausdrücklich »für ihre Begleitung bei der Suche nach Doveles deutschem Ton« bedankt.

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In Kommt ein Pferd in die Bar geht es wie in Grossmans anderen Romanen – darunter sein großes Antikriegsepos Eine Frau flieht vor einer Nachricht sowie das Bewältigungsbuch Aus der Zeit fallen, in dem er den Tod seines jüngsten Sohnes Uri im Libanon-Krieg 2006 verarbeitet hat – neben den Funktionalitäten im System Familie auch um das Erzählen von Geschichten. Deshalb hören wir die Geschichte von Dovele Grinstein im doppelten Spiegel; in dem seiner eigenen Erinnerung und dann in den Notizen des Richters, der diese Geschichte hört. Diese Dekonstruktion der Geschichte sei wichtig, erklärt Grossman, denn jede Erzählung birgt auch das Risiko, dass sie zur »offiziellen Version«, zum persönlichen Mythos wird. Er wolle sich aber nicht in das mythische Gefängnis dieser Geschichten begeben, sondern vielmehr die Zellentüren aufstoßen, um seine Protagonisten aus ihren Parallelexistenzen zu reißen und an ihr wahres Ich heranzuführen.

Die eigene Verletztheit, aus der heraus Grinstein das Publikum anspringt, ist in letzter Konsequenz auch eine Metapher für die Wunde, die die israelische Gesellschaft in sich trägt, gesteht Grossman in einem starken Plädoyer am Ende des Abends. So wie Doveles Leben von dieser Tragödie geprägt sei, sei das Leben der Israelis vom Trauma der alltäglichen Gewalt »verschmutzt« und »gekidnappt«. Die Israelis lebten in einem ständigen Ausnahmezustand, der mit dem Leben, was sie führen sollten, nichts zu tun habe, so wie sich auch seine Hauptfigur ein Scheindasein angeeignet habe, um das eigene Trauma zu verdrängen. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der anderen sei eine Konsequenz der fatalen Verdrängungs- und Überlebensstrategie der Israelis inmitten von Hass und Gewalt. Aus einer hoffnungsvollen, demokratischen Idee sei daher eine Gesellschaft hervorgegangen, die sich nach innen abschotte und nach außen nicht mehr zu verstehen sei. Das sei die tragische Wunde des Jüdischseins unter permanenter Bedrohung, erklärte Grossman. »Nur wenn wir Frieden mit unseren Nachbarn finden, werden wir Israelis unser echtes Leben finden«, schloss der Friedensaktivist und Schriftsteller und erntete großen Applaus.

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David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer & Rieke Biermann. Hanser Literaturverlage 2016. 251 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Bei aller ernsten Tiefe war es aber auch ein sehr komischer Abend, wozu nicht zuletzt auch Ulrich Matthes mit seiner fulminanten Interpretation des Romans – der in seiner Inszenierung einer Inszenierung wie für die Bühne gemacht zu sein scheint – einen wunderbaren Zugang zu dieser abgrundtiefen und zugleich sanft berührenden Erzählung schaffte. Grinsteins »Beerdigungsrede« wurde bei ihm zu einem dämonisch-voluminösen Drahtseilakt, aufgeführt von einem »Dancer in the Dark«, der mal fordernd tänzelt und dann wieder unsicher nach Boden unter den Füßen sucht. Matthes wird seinem Ruf als grandioser Interpret an diesem Abend gerecht, weil er Grossmans Roman in Auszügen funkeln ließ wie einen geschliffenen Diamanten.

Den Witz des Abends aber erzählte Grossman selbst. Kommt ein Pferd in eine Bar und bestellt ein Bier. Nach dem Bier ordert das Tier noch einen Whiskey und einige andere Spirituosen. Bevor es geht, verlangt es nach der Rechnung, die exorbitant hoch ausfällt. Das Pferd begleicht dennoch ohne Murren. Als es die Bar verlässt, stürmt der Barkeeper hinter ihm her und sagt: Halt, warte! Ich habe noch nie ein sprechendes Pferd gesehen, schon gar nicht eines, das in eine Bar kommt und Getränke bestellt. Darauf schaut ihn das Pferd ernst an uns sagt: „Bei deinen Preisen wird es auch das letzte Mal gewesen sein.“