Literatur, Roman

Flüssige dunkle Irrealität

Mit Rodrigo Rey Rosa hat der Wiener Septime-Verlag einen weiteren fantastischen Autor dieser Nation entdeckt. Nachdem 2014 zunächst Rey Rosas in die dunkle Geschichte Lateinamerikas hinabführende Novelle Stallungen publiziert wurde, ist nun der Roman Die Gehörlosen erschienen – das Opus Magnum des Guatemalteken, wie es aus dem Verlag heißt. Dieses bedeutungsschwere Siegel hat er nicht ganz zu Unrecht, trägt es doch zum Verstehen des kaum beachteten Landes unter dem Südzipfel Mexikos bei, das im Westen entdeckt wird. Rodrigo Rey Rosa gehört wie Halfon zu den Intellektuellen des Landes, die Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre vor der Gewalt in dem Land flohen. Viele Jahre reiste er durch die Welt, war in den USA, in Deutschland, Spanien und Marokko, bevor er aber Anfang der neunziger Jahre in sein Heimatland zurückkehrte und seither einen Modus des ständigen Kommens und Gehens lebt.

Man spürt seinem Roman an, dass er sich mit den Entwicklungen in seinem Land intensiv auseinandersetzt. Über die Motive lernt man die bedrückende Realität dieser Gesellschaft kennen. Guatemalteke sein, heißt es da in einer Szene in einem beengten Bus, bedeute »so riechen – Kohle, Holzfeuerrauch, Fürze –, Leibwächter haben, deine Schwester auslösen«. Man taucht in Die Gehörlosen ein in ein erzählerisches Dickicht aus allgegenwärtiger, aber kaum greifbarer Bedrohung, in der die extreme Differenz zwischen Arm und Reich, politische Korruption, Gewalt gegen Frauen, Akte der Selbstjustiz sowie die Unterdrückung und der Missbrauch der indigenen Völker und ihrer Strukturen wie Lianen in die Erzählung greifen.

Roberto Bolaño gilt als großer Anhänger der Prosa von Rodrigo Rey Rosa. Glaubt man dem raffiniert gestalteten Buchumschlag, war der Chilene der Ansicht, dass Rey Rosa »ein vollendeter Meister, der beste meiner Generation« sei. Dem bisher in deutscher Übersetzung vorliegenden Werk Bolaños ist der Satz nicht entnommen, was Nichts heißt, da viele der journalistischen Texte nach wie vor einer Übersetzung harren. Mutmaßlich ist die Aussage der Aufsatzsammlung Entre paréntesis entnommen, die Teil der von seinem spanischen Verlag Anagrama posthum veröffentlichten dreiteiligen Ausgabe seiner theoretischen Texte ist. Dort ist vom unnachgiebigsten Schriftsteller seiner Generation die Rede, »der seine Geschichten am geschicktesten webt«. Ohne allzu tiefe Recherche betreiben zu müssen, stößt man schnell auf weitere Lobeshymnen, die der Chilene auf seinen Kollegen aus Guatemala gesungen hat. Etwa in Rey Rosas Autoreneintrag bei Anagrama, wo ebenfalls Bolaño zitiert wird. Dort heißt es sinngemäß, dass dessen Prosa wie eine Linie durch den Raum des Normalen geht, die zu finsteren und fantastischen Geschichten führt.

Tatsächlich führt dieser Roman in eine »flüssige dunkle Irrealität«, vor allem, weil der auktoriale Erzähler vieles im Ungefähren lässt. Im Gegenteil zu vielen lateinamerikanischen Autoren neigt er nicht zu ausschweifenden Vertiefungen, sondern beschränkt sich journalistengleich auf das Notwendige. Jede Leerstelle wird dabei zu einem potentiellen Hort von Unheil, jede Figuren erhält in ihrer bewusst lückenhaften Zeichnung eine geradezu dämonische Leerstelle. Ob es Don Claudio ist, dem etwas Mafios-Korrumpiertes anhaftet, oder Clara und Javier, die möglicherweise Teil eines skrupellosen Medizinerkartells sind, oder Cayetano selbst, der bei seiner Suche ohne Zögern zu unlauteren Mitteln greift. Selbst Menschenansammlungen oder Repräsentanten kippen in diesem Roman ins Böse, sei es in Form eines lynchenden Mobs oder als geheimnisvoller Männerbund mit Machtanspruch.

Zwischen den Zeilen dieses Romans kriecht eine Kraft hervor, die im Kopf des Lesers Misstrauen gegenüber allem und jedem weckt – auch gegen den Autor. Wenn gegen Ende des Romans von einem Schriftsteller namens Rodrigo die Rede ist, der zwar irgendwie »Produkt seiner Zeit und Umwelt« sei, aber zugleich stets »außerhalb der Zeit und an keinem Ort« stehe, dann klingt das nicht nur wie Erzähltheorie in a nutshell, sondern erinnert an die vielen Alter-Ego-Figuren, die Rey Rosas größter Fan in seinen Romanen platziert hat. Aufmerksame Leser werden hier auch immer wieder Jorge Luis Borges begegnen, der für den Guatemalteken ein wichtiger Lehrer sowohl für sein Lesen als auch für sein Schreiben ist, wie er in einem Interview erklärte.

Cover_Die Gehoerlosen
Rodrigo Rey Rosa: Die Gehörlosen. Aus dem guatemaltekischen Spanisch von Anna Gentz. Septime-Verlag 2016. 288 Seiten. 22,90 Euro. Hier bestellen

Den Vergleich mit dem großen Chilenen, den Kritiker der spanischsprachigen Welt ziehen, muss Rey Rosa nicht fürchten. Wenngleich seine Literatur noch nicht so weitgehend und radikal ist, vor allem was Umfang, Tiefe und werkübergreifende Intertextualität betrifft. Anlehnungen sind aber durchaus berechtigt, sobald man den klaren Ton in den Blick nimmt, den Anna Gentz in ihrer tadellosen Übertragung für seine Prosa gefunden hat.

Die Lehre, die man aus diesem Roman ziehen muss, lautet, dass nichts ist, wie es scheint. Sicherheit existiert hier maximal theoretisch, praktisch ist sie abwesend. Wo die Sinne fehlen, ist das Erkennen der Gefahr nicht möglich. Womit auch geklärt wäre, warum Rey Rosa wie Bolaño einerseits von seiner Herkunftsgesellschaft nicht los kommt und sie sich andererseits durch das gelegentliche Exil immer wieder vom Leib hält. Einer Welt, in der nichts sicher ist, bleibt man besser fern.

»Die Kunst«,schreibt Witold Gombrowicz in seinem Tagebuch, »besteht doch gerade darin, dass man nicht schreibt, was man zu sagen hat, sondern etwas völlig Unvorhergesehenes.« Rodrigo Rey Rosas Die Gehörlosen gehört zu dieser Art von Kunst, denn er schreibt entgegen der Erwartungen nicht über das Wegsehen in der guatemaltekischen Gesellschaft, sondern über das Schicksal der gehörlosen Kinder von Indios! Man versteht die Nachricht!

1 Kommentare

  1. […] Gleich zwei Autoren aus Lateinamerika sind unter den zehn besten Büchern aus unabhängigen Verlagen. Dies ist zum einen Hernán Ronsinos wunderbar verschachtelter Erinnerungsroman »Lumbre«, zum anderen das Opus Magnum des Guatemalteken Rodrigo Rey Rosa »Die Gehörlosen«. […]

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