Film

Irgendwat mit de Nerven

Die Verfilmung von Ralf Rothmanns Ruhrpottroman »Junges Licht« durch den Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann ist großes Kino, denn sie lässt eine längst vergangene Epoche noch einmal vor unseren Augen entstehen.

Der Pott brennt, die Schlote qualmen und im Hintergrund klingt das Steigerlied. Während Vattern unter Tage malocht, kümmert sich Muttern um die Gören. Um sechs steht das Essen auf dem Tisch und am Sonntag geht es in die Kirche. Das ist das Ruhrgebiet in den sechziger Jahren, das kein anderer so wunderbar eingefangen hat wie Ralf Rothmann in seinen Ruhrgebietsromanen. Der vierte und abschließende dieser Romane, sein 2004 erschienenes Werk Junges Licht, ist nun von dem Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann für die Leinwand adaptiert worden.

Dass es ein Jahrzehnt gedauert hat, bis ein Regisseur diesen bilderreichen Diamanten der Heimatliteratur – hier im allerbesten Sinne gemeint – für sich entdeckt hat, ist verwunderlich. Rothmann erzählt in seinem Roman von den Lebensverhältnissen der Familien der Kohlekumpel. Hauptfigur des Romans ist der zwölfjährige Julian Collien (Oscar Brose), dessen Vater Walter (Charly Hübner) unter Tage schuftet, um als Alleinverdiener Frau und seine zwei Kinder durchzubringen. Mutter Liesel (Lina Beckmann) leidet derweil an einer damals weitgehend unbekannten Krankheit, deren Symptome in einer anrührend zeittypischen Szene beschrieben werden. »Der Doktor sacht, et is irgendwas Seelisches«, versucht Walter seinem Kumpel Herbert Lippek (Stephan Kampwirth) die rätselhafte Erkrankung zu beschreiben. »Wie, wat is dat denn jetzt?« »Hat irgendwas mit Gefühle zu tun… oder mit de Nerven.« Bei diesem Ding »mit de Nerven« handelt es sich natürlich um eine ordentliche Depression, die Liesel Collien mit Töchterchen Sophie (Magdalena Matz) an der See auskurieren soll.

© Weltkino

Dem jungen Julian verschafft dies nicht nur eine Pause von ihren regelmäßigen Prügelorgien mit dem Holzlöffel, sondern er muss nun auch schnell erwachsen werden. Denn sein Vater verkuckt sich in die Tochter seines Vermieters, eine Ruhrpottversion von Nabokovs Lolita, die sich ihrer Reize nur zu bewusst ist. Marusha (Greta Sophie Schmidt), wohnt direkt neben den Colliens und wittert nun die Chance auf ein Abenteuer mit ihrem Nachbarn, zumal ihr Freund Johnny (Linus Schütz) mit Selbstherrlichkeit glänzt und eine Lektion in Sachen Demut vertragen kann. Und während sich Walter Collien und sein Kumpel Lippek von Marusha den Kopf verdrehen lassen, bekommt es Julian mit dem Vermieter seiner Eltern zu tun, dem schleimigen Konrad Gorny (Peter Lohmeyer), der im Laufe des Sommers immer wieder grenzwertig Julians Nähe sucht.

Rothman lässt diese Geschichte eines Sommers in weiten Teilen aus der Ich-Perspektive des zwölfjährigen Julian Collien erzählen. Der eigens für die Rolle gecastete Oscar Brose trägt mit einer beeindruckenden Präsenz durch den Film. Sein Schwanken zwischen kindlicher Naivität, Pflichtbewusstsein und jugendlichem Aufbegehren lassen diese Figur im Grau des Ruhrpotts auf faszinierende Weise schillern. Charly Hübner, den man als schlechtgelaunten Kommissar des Rostocker Polizeirufs schätzt, scheint die Rolle des Kohlekumpels und launigen Vaters wie auf den Leib geschnitten. Gemeinsam geben Hübner und Brose ein Duo, wie es das deutsche Fernsehen schon lange nicht mehr gesehen hat.

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Winkelmann folgt Rothmanns Romanvorlage treu, wissend, dass der Berliner Autor viele Gefahren – das romantische Verklären einer Kindheit, der Arbeitsbedingungen unter Tage, der rauen Lebensverhältnisse des Arbeitermilieus – klug umschifft hat, indem er den Blick auf die Details lenkt, mit denen er die Zeit einfängt. Und auch er fängt die Zeit in Miniaturen ein, etwa wenn Julian das Radio lauter dreht, bevor er die Prügel seiner Mutter in Empfang nimmt.

Adolf Winkelmann: Junges Licht. Mit Oscar Brose, Charly Hübner, Lina Beckmann, Stephan Kampwirth, Peter Lohmeyer, Greta Sophie Schmidt. 122 Minuten. FSK: 12 Jahre

Einige Kapitel in Rothmanns Romanvorlage erzählen von einem unbekannten Kohlekumpel und werden in der 3. Person geschildert. Winkelmann nutzt diese Lücken, um vom Alltag unter Tage zu erzählen, nimmt sich dabei aber die Freiheit, Walter Collien an die Stelle des Unbekannten zu setzen. Diese Aufnahmen sind in einem echten Streb eintausend Meter unter der Zeche Auguste Viktoria gedreht worden, was die Beklemmung erklärt, die die Bilder im Kopf des Kinogängers hervorrufen. Ästhetisch hat der Film hier seine Höhepunkte, auch weil der Dortmunder Regisseur – der in den Achtzigern und Neunzigern bereits mit Jede Menge Kohle und Nordkurve zwei erfolgreiche Revierfilme gedreht hat – hier Mut zur Schwarz-Weiß-Optik beweist. Da wirkt der Maschinenraum über Tage wie ein von Fritz Lang eingefangenes Moment der frühen Moderne und die Milch, die über das rußgeschwärzte Gesicht von Walter Collien läuft, erinnert an die kontrastreiche Optik von Edgar Reitz Heimat-Trilogie. Von Reitz scheint Winkelmann auch den Wechsel zwischen Farbe und Schwarz-Weiß übernommen zu haben, allerdings bleibt das Motiv dieses Wechsels unklar. Es sind die einigen Momente, in denen die Handlung der Bildästhetik untergeordnet wird. Ein wenig l’art pour l’art, aber verschmerzbar.

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