Comic

Und führe uns in Versuchung

Der kanadische Zeichner Chester Brown arrangiert biblische Geschichten zu einem Testament der Verlockungen und plädiert einmal mehr für die Liberalisierung der Prostitution.

Die Bibel und die Neunte Kunst, das ist doch ein alter Hut. Schließlich ist da ja Robert Crumbs Genesis und… ja, was eigentlich? Wie eindrucksvoll dessen künstlerische Verarbeitung des Alten Testaments ist, zeigt einmal mehr der Blick auf die wenigen Alternativen. DC hat in den siebziger Jahren einige Kapitel der Genesis adaptieren lassen, verkauft hat sich das nur mäßig. Ende der Siebziger wurden die gesammelten Hefte von André LeBlancs und Iva Hoth’ The Picture Bible in Buchform herausgegeben, immerhin 750 Seiten. Im Vergleich zum Bibel-Projekt des christlichen Verlags Kingstone Media ein Witz. Dessen 12-bändige Comicausgabe der gesamten Bibel ein Gesamtvolumen von über 2.000 Seiten (!) hat. Und dann gibt es da noch die Manga-Bibel von Siku alias Ajinbayo Akinsiku, die aus Jesus einen Superhelden macht und vor allem in Großbritannien vertrieben wurde.

Auf dem deutschen Comicmarkt gibt es Ralf Königs Bibel-Trilogie Prototyp, Archetyp und Antityp, in der der König der Knollennasen mit der humoresken Verarbeitung der Biografien von Adam, Noah und Paulus noch einmal eine andere Herangehensweise an das Thema wählt. Ein letzter Blick in Russ Kicks The Graphic Canon, der dreibändigen Sammlung von Literaturadaptionen der Neunten Kunst, ergibt, dass der erste Band (dt. bei Galiani) Adaptionen der Bücher Esther und Daniel aus dem Alten Testament sowie eine Verarbeitung der Offenbarung Jesu Christi durch Johannes aus dem Neuen Testament enthält.

Die Bibel und die Neunte Kunst – doch kein alter Hut. Umso spannender, dass sowohl Chester Brown als auch Gilbert Hernandez in diesem Jahr Comics mit biblischem Hintergrund präsentieren. Während Hernandez’ Garden of Flesh – eine Ende Juli erscheinende Adaption von Teilen des Alten Testaments, in der der Ankündigung zufolge einige Figuren aus dem Love & Rockets-Universum auftreten – erwartungsgemäß sexlastig und explizit ausfallen wird, ist Chester Browns Mary wept over the feet of Jesus grafisch betrachtet eine geradezu gediegene Aufbereitung biblischer Erzählungen.

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Chester Brown ist einer der herausragenden Künstler aus dem Umkreis des kanadischen Comicverlags Drawn & Quarterly, nirgendwo hält man ihm so die Treue, wie dort. Nachdem sich Brown in seinem Comic Pay for it: A comic strip about being a John für die Entkriminalisierung der Prostitution eingesetzt hatte, beendete etwa sein deutscher Verlag Reprodukt die Zusammenarbeit. Man wollte nicht in dieses Fahrwasser geraten. Für Drawn & Quarterly-Verleger Chris Oliveros kam das nicht in Frage, ihm hat Brown seinen neuen Comic gewidmet. Dass er sich nun der Bibel zuwendet, scheint auf den ersten Blick verwunderlich. Aber der Kanadier ist in einer sehr religiösen Umgebung aufgewachsen – in seinen autobiografischen Arbeiten I never liked you und The Playboy erzählt er davon.

Prostitution gilt als ältestes Gewerbe der Welt, es sollten sich also auch in den ältesten Texten Spuren davon finden. Die Ideen für seinen neuen Comic sind Brown bei seiner jahrelangen Lektüre religiöser und religionsphilosophischer Texte entstanden. Er erzählt darin neun Geschichten, die der unreligiöse Leser unschwer dem biblischen Kosmos zuordnet. Bei einer Erzählung erliegt er einer Legendenbildung, denn Brown hat sie erfunden. Für den Comic ist sie aber zentral, weil sie sein Motiv, den Comic in dieser Form umzusetzen, veranschaulicht und den Hintergrund der anderen Erzählungen bildet. Darin brütet Matthäus über der Frage, wie er in seinem Evangelium mit dem Gerücht, Jesu Mutter Maria sei eine Prostituierte gewesen, umgehen soll. Maria eine Hure? Diese erfundene Geschichte klingt zwar blasphemisch, entspricht aber den religionsphilosophischen Debatten, die Brown in seinem ausführlichen Nachwort sowie den Anmerkungen nachzeichnet. Matthäus kommt hier auf den Gedanken, dieses Geheimnis in einer Genealogie voller Huren zu verstecken. Doch weil ihm nicht genug Namen einfallen, greift er zu einem Trick. »Vielleicht sollte ich die Geschichten von ein paar Frauen berücksichtigen, die nicht direkt für Sex bezahlt wurden, deren Verhalten aber dem einer Prostituierten ähnelt.«

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So erzählt Matthäus etwa die Geschichte von Tamar, der Frau von Judas’ Söhnen Er und Onan. Beide sterben, woraufhin Judas um seinen dritten Sohn Shelah fürchtet und die Schwiegertochter in die Wüste schickt. Er wird es später bitter bereuen. Wir erfahren von Rahab, einer Prostituierten in Jericho, die kurz vor dem Überfall der Stadt durch die Israeliten zwei Gesandte Josuas versteckt und bei dem Angriff verschont wird. Ruth ist die Namensgeberin des zu den jüdischen Festrollen zählenden Buches. Wir lesen, wie sie ihrer Schwiegermutter Noomi auch nach dem Tod ihres Gatten treu bleibt und in Bethlehem als Erntehelferin in Boas Arme läuft, der sich ihrer annimmt. Bathseba wird sich König David an den Hals werfen, während ihr Verlobter Uriah mit dessen Truppen gegen die Ammoniter kämpft. Allein in diesen vier Erzählungen werden vorehelicher Sex, Seitensprung, Partnerwechsel, Ehebruch und Prostitution thematisiert. In dieser Konstellation des »alles ist möglich, aber nichts Genaues weiß man nicht« sieht Brown den Trick des Matthäus-Evangeliums. Sollte Maria vor der Verbindung mit Josef Sex gehabt haben, dann findet sie sich in der Figur von Ruth wieder. Sollte sie während der Verlobung Sex gehabt haben, dann verweist die Bathseba-Erzählung darauf usw. usf. Brown schlussfolgert, dass die Geschichte von Maria nur dann in die von Matthäus entworfene Genealogie passe, wenn Marie eine Prostituierte war.

Ist Mary wept over the feet of Jesus also Enthüllungsliteratur? Oder nach Pay for it: A comic strip about being a John eher eine weitere Skandalschrift der Neunten Kunst? Sofern Leser nicht zum religiösen Fanatismus neigt, werden sie weder das eine noch das andere finden. Vielmehr ist der Comic ein weiterer Pro-Prostitution-Appell des kanadischen Prostituiertenaktivisten Chester Brown, der zutage fördert, dass die Prostitution im christlichen Menschenbild erst nach der radikalen Umschreibung der biblischen Moral durch Paulus und Co. im Neuen Testament verdammt wurde. Überlieferungen aus dem Alten Testament zeigen vielmehr, dass Huren und Freier die Liebe Gottes empfangen. In einer Geschichte gibt ein Sohn das gesamte Geld seines Vaters für Prostituierte aus, während der zweite Sohn fleißig das Feld bestellt und sich in Genügsamkeit übt. Doch am Ende nimmt der Vater den lasterhaften Sohn in den Arm. »Der Vater umarmt den Freier, nicht weil er sein Sohn ist, sondern weil er ein Freier ist.« Gott wolle selbstständige Menschen, die das Leben lieben, und nicht Menschen, die bevorzugt im puritanischen Saft der Gottergebenheit schmoren, meint Brown.

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Chester Brown: Mary wept over the feet of Jesus. Drawn & Quarterly 2016. 280 Seiten. 21,95 US-$. Hier bestellen

Die frühen Texte der Bibel, das zeigt Browns Interpretation deutlich, sind nicht nur überaus tolerant gegenüber Prostitution, sondern thematisieren sie ganz bewusst. Dass sich ausgerechnet die radikal-christlichen Positionen von Paulus und seinen Nachfolgern und nicht die sehr viel toleranteren Texte des Alten Testaments durchgesetzt hätten und nun den Hintergrund für den gesellschaftlichen Konsens der Prostitutionsfeindlichkeit bieten, sei eine Armutserklärung, meint Brown. Dem setzt er seinen »Bibelcomic« entgegen, in dem er die liberalen und unzensierten Versionen zentraler Bibelpassagen zu einem Testament der Verlockungen arrangiert.

Kritisch ist, dass er die dunklen Schattenseiten der Prostitution, die in den seltensten Fällen auf Augenhöhe zwischen Freier und Prostituierter erfolgt, in diesem Comic einmal mehr ausblendet. Insofern ist sein Schlussstatement, dass die säkularen Positionen gegen das horizontale Gewerbe auf religiösen Argumenten beruhen, nur halb richtig. Es gibt eben auch ziemlich weltliche Gründe, gegen Prostitution zu sein. Sie haben etwas mit der Macht des Mannes über den weiblichen Körper und dessen Ausbeutung zu tun. Es wäre Zeit, dass sich Brown auch mal mit dieser Seite der Medaille auseinandersetzt.

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