Geschichte, Gesellschaft, Interviews & Porträts, Sachbuch

Erkenntnisse, die schmerzhaft sind

Die Publizistin Alexandra Senfft stellte sich mit Ihrem Buch »Schweigen tut weh« der verhängnisvollen NS-Geschichte Ihrer Familie. In ihrem neuen Buch »Der lange Schatten der Täter« erzählt sie die Geschichten von NS-Nachkommen, die sich an sie gewandt haben. 

Alexandra Senffts »Der lange Schatten der Täter« ist nach Naomi Schencks »Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12« (hier unser Interview) sowie dem von Dr. Oliver von Wrochem herausgegebenen Sammelband »Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie« (hier unser Interview) der dritte gewichtige Titel, der in diesem Jahr zum Themenkomplex »NS-Täterschaft und Familienbiografie« erscheint. Wir sprachen mit der Autorin über die Schuld des »kleinen Mannes«, die Normalität des Schweigens und die folgenschweren Konsequenzen fehlender Aufarbeitung.

Frau Senfft, in Ihrem neuen Buch »Der lange Schatten der Täter« dokumentieren Sie die Gespräche mit gut einem Dutzend NS-Täter-Nachkommen, deren Vorfahren meist eher Bystander und einfache Profiteure im Dritten Reich waren – also eher »kleine Fische«. Umso schwieriger, sie zu finden. Wie sind Sie zu Ihren Gesprächspartnern gekommen? Was war deren Beweggrund, das Schweigen zu brechen?

Die meisten meiner Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen sind Leser meines Buches »Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte« gewesen, das 2007 erstmals erschien. Sie haben auf die Lektüre teils sehr emotional reagiert und mir geschrieben, weil sie sich noch nicht ausreichend mit der Vergangenheit ihrer Eltern oder Großeltern auseinandergesetzt hatten und sich mit mir austauschen wollten. Es war berührend, dass einige davon Kinder von damaligen Freunden meiner NS-Großeltern sind, darunter sogar zwei Patenkinder meiner Großeltern, die nun unter ganz anderen politischen Vorzeichen mit mir in Kontakt kamen und wir uns sogar anfreundeten.

Andere Protagonisten in meinem Buch habe ich über andere Zusammenhänge kennengelernt, wie z. B. über den Arbeitskreis Intergenerationelle Folgen des Holocaust (PAKH) in Köln. Mit meinen Gesprächspartnern verbindet mich die Überzeugung, dass es wichtig ist aufzuklären, inwiefern und inwieweit unsere Angehörigen sich in der NS-Zeit schuldig gemacht haben. In meinem Buch kommen aber auch Historiker, Psychologen, Psychoanalytiker oder Soziologen zu Wort, die dem Leser helfen, die Lebensgeschichten besser einordnen und in einem breiteren Kontext verstehen zu können. Im Handlungsstrang spielen zudem Orte eine große Rolle sowie nicht zuletzt die aktuellen politischen Entwicklungen: AfD, Pegida, Antisemitismus, Antimuslimismus, Rassismus oder der Umgang mit den geflüchteten Menschen.

Gab es Geschichten, die Sie mehr als andere bewegt haben – vielleicht weil sie der Ihren so ähnlich waren oder gerade nicht?

Ich porträtiere meine Gesprächspartner nicht als neutrale Journalistin oder Akademikerin, die eine distanzierte Haltung einnimmt, sondern ganz bewusst als involvierte Gesprächspartnerin, die durch ihre eigene Familiengeschichte mit dem Thema ebenfalls beschäftigt ist und sich selbst einbringt. Ich wollte zwischen mir und den Gesprächspartnern keine Asymmetrie entstehen lassen, sondern immer wieder auch spiegeln, wie es mir in bestimmten Situationen ging, um sie in die Öffentlichkeit zu begleiten. Mir war es ferner wichtig, die Möglichkeiten und Grenzen solcher Dialoge aufzuzeigen. Ich habe durch diesen persönlichen Zugang eine Gesprächsdynamik erzeugt, die nicht spannungsfrei war, weil jeder meiner Gesprächspartner eine andere Perspektive auf die familiäre Vergangenheit entwickelt hat und sie anders bewertet. Manche Protagonisten sind in der Aufarbeitung schon sehr weit, konsequent und klar, andere eher zögerlich oder noch ängstlich und ambivalent. Gerade letztere machen deutlich, wie emotional belastend es sein kann, damit fertig zu werden, wenn Angehörige sich als NS-Täter, Bystander oder Zuschauer schuldig gemacht haben. Berührt haben mich alle meine Gesprächspartner an verschiedenen Punkten ihrer Lebensgeschichten.

Warum ist es wichtig, diese Geschichten zu erzählen?

Wir wissen mittlerweile aus der Psychologie, dass Traumata, unaufgeklärte Verbrechen, Schuld und Scham über Generationen hinweg wirken und Menschen psychisch stark belasten können. Der Krieg und Holocaust waren ja nicht nur für die Opfer und Überlebenden katastrophal, sondern haben – wenn auch ganz anders und in keiner Weise vergleichbar oder gar gleichzusetzen – auch Folgen für die Nachkommen der Täter, oft sogar destruktive und selbstdestruktive Folgen, die an die Kinder weitergegeben wurden und werden. Viele Verhaltensweisen und leider auch politische Einstellungen lassen sich auf die NS-Zeit zurückführen, weil bis heute Gefühls- und Denkmuster in Familien tradiert werden, verbal oder non-verbal. Das beeinflusst nicht nur Individuen und Familien, sondern auch die Gesellschaft. Der heute zu beobachtende Rechtsruck sowie der Populismus, der die Menschen stark polarisiert und aufhetzt, sind für mich Indiz, dass solche Muster unreflektiert weitergegeben wurden und eine gefährliche Wirkung entfalten können, es zum Teil ja bereits tun.

Viele Verhaltensweisen und leider auch politische Einstellungen lassen sich auf die NS-Zeit zurückführen, weil bis heute Gefühls- und Denkmuster in Familien tradiert werden… Der heute zu beobachtende Rechtsruck sowie der Populismus, der die Menschen stark polarisiert und aufhetzt, sind für mich Indiz, dass solche Muster unreflektiert weitergegeben wurden und eine gefährliche Wirkung entfalten können, es zum Teil ja bereits tun.

Copyright: Judah Passow
Copyright: Judah Passow

Deshalb ist es wichtig, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten, um zu begreifen, wie Menschen, selbst oder gerade die mit großer Bildung, damals massenweise zu Mördern und Komplizen werden konnten. Wir haben bereits viel über die Geschichten der Opfer gehört und gelesen, die Geschichten der Täter in den eigenen Familien sind aber bis heute meistens verdrängt und verschwiegen. Meine Protagonisten brechen das Schweigen und verdeutlichen, dass es nicht nur erlaubt sondern sogar notwendig ist, sich auch mit den Verhaltensweisen der eigenen Angehörigen in der NS-Zeit und danach auseinanderzusetzen und zu analysieren, wie diese Dinge das eigene Leben und Beziehungsmuster geprägt haben. Sie machen damit anderen Menschen Mut, sich selber zu öffnen und ihre Geschichten zu rekonstruieren.

Die Begegnungen mit Ihren Gesprächspartnern waren immer sehr unterschiedlich. Mal fuhren Sie an die Schauplätze der Kindheit, mal trafen Sie Ihre Gegenüber am Rande von Prozessen, in denen sich NS-Täter Ihren Taten stellen mussten. Hatten Sie bei diesen Begegnungen einen »Fahrplan«, um sich auf das unsichere Terrain der familiären Traumata vorzutasten?

Ich habe mich überwiegend auf das Vertrauen und die Dynamik verlassen, die sich zwischen meinen Gesprächspartnern und mir entwickelt hat. Ich habe einen Teil des Weges mit ihnen geteilt und manches vollkommen ungeplant dem Prozess zu überlassen. Dadurch kamen sehr bewegende Momenten zustande, mitunter auch überraschende oder schwierige. Ich habe meine Protagonisten gebeten, mich an Orte mitzunehmen, die für sie von Bedeutung sind, denn auch Orte erzählen Geschichten und können einen symbolischen Charakter haben. Im letzten Kapitel fahre ich mit nicht-jüdischen und jüdischen Freunden von PAKH das erste Mal nach Auschwitz. Das war eine emotional sehr schwere Reise, die uns aber auch Hoffnung gemacht hat.

Ich habe in Ihrem Buch Beispiele gescheiterter Begegnungen vermisst. Warum haben Sie sich dafür entschieden, diese weitgehend auszuklammern?

Ich habe sie keineswegs ausgeklammert: Erstens erzähle ich immer wieder von den gescheiterten Beziehungen in meiner eigenen Familie. Weil wir so gegensätzliche Perspektiven auf die familiäre Vergangenheit haben, war es nie möglich, wirklich aufeinander zuzugehen, vielmehr ist der Graben zwischen einigen von uns immer tiefer geworden.

Im dritten Kapitel schildere ich ferner auch Erfahrungen mit Gesprächspartnern, mit denen der Dialog zusammenbrach, weil sie aus dem Prozess ausstiegen und sich ihrer Geschichte letztendlich nicht stellen wollten oder konnten. Da diese Menschen aber nicht in Erscheinung treten wollen und deshalb einer Veröffentlichung nicht zugestimmt haben, musste ich ihre Persönlichkeitsrechte wahren. Ich habe sie im Buch nicht bloßgestellt, sondern nur allgemein darüber geschrieben, wie schwierig solche Begegnungen sein können und meist noch sind.

Meine Protagonisten gehören zu einer Minderheit von Menschen, die sich der NS-Geschichte ihrer Verwandten mutig stellen. Sie stehen zu ihren Geschichten und hatten deshalb keine Angst. Beziehungsweise sie haben ihre Ängste überwunden und sich sogar öffentlich gezeigt. Das bewundere ich sehr, denn es ist keineswegs selbstverständlich: Schweigen und Verdrängungen sind in deutschen Familien noch immer die Norm.

Grundsätzlich habe ich die Narrative und Grenzen meiner Gesprächspartner respektiert und ihre Aussagen nur dann kommentiert, wenn sie damit einverstanden waren. Das heißt, ich habe ihre Sicht der Dinge so stehen lassen, auch wenn ich nicht immer derselben Meinung war.

Die Übergänge zwischen Täter, Mitläufer, Zuschauer und Opfer sind meist fließend. Das macht eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht einfacher, zumal auch der Täterbegriff unterschiedliche Interpretationen – moralisch, juristisch, ethisch und emotional – zulässt. Inwiefern wurde diese Deutungsoffenheit von Ihren Gegenübern in Anspruch genommen bzw. bewusst gemacht?

Es gibt in der Tat fließende Grenzen zwischen Schuld und Mitschuld. Weil die Großmutter beim BDM war, ist sie nicht gleich eine Täterin. Es gilt, klar zu differenzieren, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen und sich selbst ein Bild zu machen, anstatt die tradierten Familienanekdoten über die NS-Zeit unreflektiert und unkritisch zu übernehmen. So wie der sogenannte »Buchhalter von Auschwitz«, Oskar Gröning, sich als Rädchen im großen Mordgetriebe schuldig gemacht hat, so müssen wir uns doch fragen, inwiefern unsere Angehörigen dazu beigetragen haben, dass dieses Menschheitsverbrechen passieren konnte. Wenn wir uns ausschließlich auf die Großtäter konzentrieren, anstatt nachzuforschen und zu begreifen, warum Menschen wie Du und ich – und eben sogar die eigenen Verwandten – mit einer aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit den Holocaust mitgetragen haben, werden wir auch nicht den Schlüssel finden, um in der Gegenwart und für die Zukunft Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen zu verhindern.

Für mich ist im übrigen entscheidend, ob jemand im Laufe seines Lebens bereit ist, das eigene Verhalten von damals kritisch zu betrachten und Schuld oder Versagen einzugestehen, oder ob er/sie weiterhin alles verdrängt und leugnet. Ich stimme dem Psychologen Jürgen Müller-Hohagen zu, dass wer das Schweigen von schuldig gewordenen Angehörigen aus falsch verstandener Loyalität deckt und mitschweigt, zum Komplizen wird. Der Fall Oskar Gröning hat gezeigt, dass Mord nicht verjährt und Aufklärung nach 70 Jahren zwar zu spät kommt, aber keineswegs umsonst ist.

Inwiefern hat Ihnen die »Wunde Ihrer noch lebenden Verwandten« die Aufarbeitung der Geschichte Ihres Großvaters erschwert und welche Hürden waren es, die sie dabei vor allem überwinden mussten?

Die eigentliche Hürde lag in mir selbst begründet – meine Zuneigung zu meinen Verwandten, insbesondere die positive Beziehung, die ich zu meiner Großmutter Ludin hatte. Es schafft große innerliche Spannungen, sich inhaltlich gegen Menschen zu positionieren, die uns nahe stehen. Mir war bewusst, dass ich in ihren Augen gewissermaßen eine Nestbeschmutzerin bin und folglich auch aus dem »inneren Kreis« ausgeschlossen werden würde. Ich vergleiche das oft mit einer Mafia-Familie: Wer sich nicht an die Omerta hält, wird zum Feind im Inneren. Das ist bei uns natürlich nicht so extrem, doch das Beispiel erklärt den Mechanismus ganz gut. Nicht anders verhält es sich bei Kindesmissbrauch – wer innerhalb der Familie wegschaut, sei es aus Scham oder Angst vor öffentlicher Anklage, macht sich zum Komplizen und zu einem Stück mitschuldig.

Warum klammern sich die meisten Nachkommen von NS-Tätern an den die Geschichte verfälschenden Familienmythos und stilisieren ihre Vorfahren entweder zu Opfern, zu passiven Zeitzeugen oder gar zu antifaschistischen Helden? Welche Mechanismen greifen da?

Besonders ein positiver familiärer Kontext hat starke bindende Kraft für die Familienmitglieder, doch selbst bei einem negativen Bezug zur Familie gibt es oft unbewusste Loyalitäten, die in Konflikt geraten, sobald man gegen das Narrativ derer verstößt, die ja unseren unmittelbaren sozialen Kontext ausmachen und uns mit ihren Werten und Vorstellungen ein Leben lang geprägt und beeinflusst haben.

Wenn wir uns ausschließlich auf die Großtäter konzentrieren, anstatt nachzuforschen und zu begreifen, warum Menschen wie Du und ich – und eben sogar die eigenen Verwandten – mit einer aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit den Holocaust mitgetragen haben, werden wir auch nicht den Schlüssel finden, um in der Gegenwart und für die Zukunft Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen zu verhindern.

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Ich selbst habe bei »Schweigen tut weh« anfangs Befürchtungen gehabt, mich »gegen« meine Familie zu stellen, obwohl ich es inhaltlich und politisch für richtig halte. Ich wollte meine Verwandten ja nicht verletzen oder verlieren. Die Herausforderung bestand darin, zu trennen zwischen den Menschen, die mir am Herzen liegen und ihren Positionen, die ich nicht teile. Ich habe in diesem Buch deshalb meine Großeltern auch nicht als Menschen insgesamt angegriffen, sondern als die Nazis, die sie waren, beziehungsweise meinen Großvater, der durch seine Beteiligung am NS-System zum Täter wurde. Ich habe ihn ja nie kennengelernt, weil er 1947 als Kriegsverbrecher gehenkt wurde. Das, was ich von meiner Großmutter an Gutem erfahren habe, habe ich mit der Erkenntnis, dass sie ihren Mann unterstützt hat, nicht auch gleich »zerstört«. Ich habe lediglich aufgehört, zu idealisieren. Idealisieren bedeutet, etwas nicht sehen zu wollen, das schmerzhaft ist. Das hat mir geholfen, insgesamt besser zu verstehen, wie »normale« Menschen zu Tätern werden können.

Wie haben sich die Traumata, die weiterwirken, die »Geschichte in uns«, in ihrer Familie gezeigt?

In meinem Buch »Schweigen tut weh« zeige ich, wie meine Mutter, die älteste der sechs Ludin-Kinder, an dem innerlichen Konflikt »geliebter Vater/Kriegsverbrecher« zerbrach. Sie hatte eindeutig eine post-traumatische Störung, da sie als 14-Jährige erfahren hat, dass ihr Vater gehenkt wurde – ohne, dass sie irgendjemand offen darüber aufgeklärt hätte, warum das passierte. Vielmehr galt ihr Vater Hanns Ludin als Märtyrer, weil er sich im Gegensatz zu anderen Nazi-Tätern nicht aus dem Staub gemacht oder herausgeredet hatte, sondern sich einem Verfahren stellte. Es ist insgesamt zu komplex und multikausal, um an dieser Stelle alles in ein paar Sätzen zu erklären, aber gewiss ist, dass meine Mutter psychisch an diesem Kummer und den Verdrängungen/Unwahrheiten ihrer Umgebung (Mutter, Familie, Freunde, Gesellschaft) erkrankte. Das hatte zwangsläufig auch Folgen für ihre Kinder, die mit ihrer Krankheit fertig werden mussten.

Wen sehen Sie in der Erinnerungsarbeit in der Verantwortung? Die Generation der NS-Täter selbst oder die der Kinder und Kindeskinder?

Natürlich läge die Verantwortung bei der NS-Generation. Doch diese hat ja bis heute überwiegend geschwiegen, um sich vor Anklage und Vorwürfen zu schützen. Die Vertreter dieser Generation haben dieses Verschweigen und Vertuschen sehr häufig an ihre Kinder – meist die sogenannten Kriegskinder – weitergegeben. Dazu mussten sie noch nicht einmal Täter im engeren Sinne gewesen sein, sondern eben auch »nur« Mitläufer oder Zuschauer.

Auch ihre Kinder, die Zweite Generation, hätten meines Erachtens die Verantwortung – und zwar für ihre eigenen Kinder sowie politisch für die Gesellschaft –, aufzuklären und zu begreifen, was damals passierte und inwiefern ihre Eltern involviert waren. Die eigenen Eltern kritisch zu betrachten, ihr menschliches Versagen oder gar ihre Schuld einzugestehen, ist aber besonders hart, denn wer will schon offen mit der Scham leben oder gar mit einen Täter identifiziert werden? Diese Form der Aufklärung ist sehr schwer und sehr belastend, deshalb schaffen es viele auch nicht beziehungsweise erst dann, wenn die Erste Generation, die das Schweigegebot auferlegt hat, gestorben ist. Es kostet viel Mut und Kraft, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen – aber ich meine, es lohnt sich!

Wiegt die »Last« des Umgangs mit dieser Geschichte in der Enkelgeneration weniger schwer?

Als Dritte Generation, die wir mehr zeitlichen und deshalb auch emotional mehr Abstand haben, haben wir bessere Chancen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich persönlich empfinde es als Verantwortung, reinen Tisch zu machen: Und zwar vor allem gegenüber den Opfer und Überlebenden des Holocaust. Meine eigenen Kinder haben auch erfahren, was gewesen ist. Deshalb müssen sie sich nicht mehr durch das Dickicht an Verdrängung und Leugnung kämpfen, wie ich es noch musste. Meine Hoffnung ist, dass ich – anders als die Generation meiner Mutter – ihnen damit eine schwierige Aufgabe abgenommen habe. Jedenfalls leben sie nicht mehr unter dieser spezifischen Belastung.

Welche Bedeutung hat Ihrer Ansicht nach die »Erzählhoheit«, die Hoheit über die Deutung der Geschichte, nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch zwischen den Nachkommen der NS-Täter und denen der NS-Opfer?

Jeder, der seine persönliche Geschichte erzählt, hat die Erzählhoheit über das eigene Narrativ, das liegt in der Natur der Sache und zwar gleichgültig, ob man es im privaten Kreis darlegt oder öffentlich in Form eines Buches, Films, Kunstwerks usw. Mann kann sein Narrativ auf der Basis von Fakten einerseits und den eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen andererseits darstellen. Wichtig ist es, beides zusammenzubringen: die Fakten (die man kennen und akzeptieren sollte) sowie die eigene Sicht und die eigenen Gefühle. Dann kann man wirklich konstruktiv mit der Vergangenheit umgehen.

Niemand hat das Monopol auf die Familiengeschichte, die zwangsläufig aus verschiedenen Perspektiven besteht. Sobald es aber Tabus gibt und Narrative unterdrückt werden, wird Macht ausgeübt, um das Monopol aufrechtzuerhalten, und das kann dann im Zusammenhang mit Verbrechen – insbesondere der NS-Verbrechen – sehr problematisch werden.

Ich würde niemanden davon abhalten wollen, seine/ihre eigene Geschichte zu erzählen, solange das nicht in Form einer persönlichen Abwertung und Abrechnung stattfindet. Ich müsste es aber aushalten, wenn die Perspektive eine gänzlich andere als meine wäre.

Anstatt der Unmenschlichkeit des NS-Systems durch Verdrängen und tradierte Verhaltensweisen weiter Futter zu liefern, sollten wir mit Menschlichkeit reagieren, und dazu gehört aus meiner Überzeugung, sich zu für sich selbst und für andere zu öffnen, wahrhaftig zu sein und zu lernen, im richtigen Moment NEIN zu sagen und Entscheidungen zu treffen, die auch Mut kosten.

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Ist der Schritt in die Öffentlichkeit ein zwingender Bestandteil, sich dieser Familiengeschichte zu stellen, oder eine mögliche, aber nicht zwingende Option?

Niemand muss sich mit seiner Geschichte öffentlich zeigen – Hauptsache, die Aufklärung findet überhaupt statt. Öffentlichkeit zu wagen ist lediglich ein weiterer Schritt des sich der Geschichte-Stellens. Wer es vermag, seine Geschichte sogar in die Öffentlichkeit zu tragen, macht anderen Mut, sich ebenfalls damit auseinanderzusetzen. Und wenn dabei Diskurse angeregt werden: umso besser!

Warum ist die familiäre Aufarbeitung der NS-Täterschaft für unsere Gesellschaft immer noch wichtig?

Viele der heutigen, rechtsextremistischen Bewegungen und Gewalttaten entspringen meines Erachtens verdrängter Geschichten aus der NS-Zeit, die sich mystifiziert, verklärt und verdreht in den Familien als Narrativ tradiert haben. Die Denk- und Gefühlsmuster aus der NS-Zeit sind nie durchbrochen, sondern vielfach weitergegeben worden, verbal und non-verbal. Allein das Vertuschen erzeugt eine passive Form der Weitergabe.

Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit waren in der Gesellschaft trotz gesellschaftlicher Tabus ungebrochen vorhanden, da nicht darüber reflektiert wurde, zu welchen katastrophalen Ergebnissen diese Polarisierungen in der Gesellschaft führen können. Die Dichotomisierung der Gesellschaft von Wir und die Anderen ist auch nach dem Krieg erhalten geblieben und hat nach dem Mauerfall noch eine andere Schärfe und Wendung bekommen.

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Alexandra Senfft: Der lange Schatten der Täter. Piper Verlag 2016. 352 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen

Wird der, um im Bild des Buchtitels zu blieben, Schatten der Täter im Laufe der Zeit nur immer länger oder halten sie ein Heraustreten aus dem Schatten des NS-Erbes und einen bewussten Umgang mit ihm für möglich?

Ich halte es durchaus für möglich, sich bewusst mit dem Schatten der Täter zu befassen und die Muster zu durchbrechen, die wir jahrzehntelang – in den Familien und in der Gesellschaft – gelernt haben. Das Schweigen unserer Tätervorfahren wurde ja von der Gesellschaft flankiert. Mir wird öfter gesagt, warum befasst du dich mit dieser düsteren Zeit und schaust nicht nach vorn, lässt die Geschichte hinter dir. Hinter dieser Suggestivfrage verbirgt sich oft die Angst, sich selbst damit zu befassen, man könnte ja Dinge entdecken, die sehr unangenehm sind. Doch so schwierig es ist, sich mit diesem Kapitel unserer Geschichte und seiner Wirkung bis heute auseinanderzusetzen, so muss das keineswegs gleich alles nur negativ sein, ganz im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass der Teufelskreis von Destruktivität und rassistischen Mustern dadurch gebrochen und neue Energie freigesetzt werden kann. Sich damit zu befassen, inwiefern die Vergangenheit noch heute ihre Macht entfaltet, heißt, dieser Macht etwas Positives entgegenzusetzen und sie zu schwächen. Anstatt der Unmenschlichkeit des NS-Systems durch Verdrängen und tradierte Verhaltensweisen weiter Futter zu liefern, sollten wir mit Menschlichkeit reagieren, und dazu gehört aus meiner Überzeugung, sich zu für sich selbst und für andere zu öffnen, wahrhaftig zu sein und zu lernen, im richtigen Moment NEIN zu sagen und Entscheidungen zu treffen, die auch Mut kosten.

Alexandra Senfft, vielen Dank für das Gespräch.

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