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Witold Gombrowicz – Der Leuchtturm im Dunkeln

»Die Kunst besteht doch gerade darin, dass man nicht schreibt, was man zu sagen hat, sondern etwas völlig Unvorhergesehenes«, schrieb der polnische Dandy Witold Gombrowicz in seinem »Tagebuch«. Nun sind mit »Kronos« seine intimen Aufzeichnungen erschienen.

»Montag: Ich. Dienstag: Ich. Mittwoch: Ich. Donnerstag: Ich. Freitag: Ich.« So beginnt das eintausend Seiten zählende Tagebuch, das der polnische Denker und Literat Witold Gombrowicz von 1953 bis zu seinem Tod 1969 geführt hat. Es ist eines der großartigsten Dokumente des literarischen Antikonformismus, in dem das schreibende Ich immer mehr in der »künstlerischen Kontemplation« über Kunst und Philosophie versinkt. Diese hochliterarische Anti-Literatur ist eine für Leser und Kritiker gefertigte Gebrauchsanleitung des schreibenden Intellektuellen.

»Was ist dieses Tagebuch anderes als gerade dies: privates Schreiben zum eigenen Gebrauch?«, fragt der dort versunkene Geist – ironisch, wie man jetzt weiß. Denn mit Kronos liegt nun das heimlich geführte und – wie eine fotografische Abbildung zahlreicher Einzeltableaus der ursprünglichen Loseblattsammlung belegt – sorgsam rekonstruierte Paralleldiarium vor, dass der polnische Schriftsteller mit Blick auf seine Jahre in seiner Heimat (von 1922 bis 1939), im argentinischen Exil (bis 1963) und in Europa (vor allem Paris; bis 1969) geführt hat. Seit 1952 hat Gombrowicz dafür auf wenigen A4-Seiten die Leerstellen zwischen den großen Linien seiner Existenz mit seinem Dasein gefüllt. Dieses Lebensprotokoll liest sich oft wie eine schonungslose Selbstentblößung in Stichworten, Listen und kurzen Absätzen. War das Tagebuch der vollständigen und epischen Ausbreitung des intellektuellen Innen- und Außenlebens und seinem Einfluss auf die Existenz gewidmet, ist Kronos ganz der physischen Existenz und ihrem Wirken auf den Geist verschrieben.

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Witold Gombrowicz: Kronos. Intimes Tagebuch. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Carl Hanser Verlag 2015. 360 Seiten. 27,90 Euro. Hier bestellen

Die Jahre 1939 bis 1951 sind von ihm extra rekonstruiert worden, um auch keine Lücken zu lassen in dem, was Leben heißt. In den Jahreslisten tauchen im Wesentlichen die Orte und Personen auf, die in seinen Erinnerungen geblieben sind. Dazwischen immer wieder auch kurze Absätze, in denen er einzelne Erlebnisse oder Gefühle beschreibt. Meist ohne Verben – vielleicht um die historischen Fakten nicht mit den eigenen Taten zu vermischen. 1937 heißt es etwa: »August, oder eher Juli – Aufenthalt bei Warschau in Zaborów (vermutlich) und die Pankiewiczóna sowie diese Nutte und das Dienstmädchen. Nein, das war Czorsztyn und Zakopane, wo ich mich massieren lasse (erst stoße ich in Kraków auf Kepinski).« Wenige Zeilen später schreibt er nur knapp »Die Angst vor dem Krieg wächst.« So sperrig und spröde, wie es sich zunächst liest, so eingehend ist die Strategie hinter den retrospektiven Einträgen. Sie enthalten alles, was das Leben ausmacht und Gombrowicz deshalb für erinnerungswürdig hielt. So finden sich eben die Affären und sexuellen Abenteuer neben den Kriegserinnerungen. 1938 klingt im Intimen Tagebuch, so der Untertitel, in der Rekonstruktion erstmals die künftige Struktur an. Nachdem der Jahreseintrag zunächst nur aus einer Liste der Sexualpartnerinnen bestand, schiebt er ihm einen längeren Text nach, in dem er die historischen Ereignisse – »habe bei der Fahrt durch Wien einen Fackelzug gesehen. Anschluss.« – mit dem eigenen Unbehagen – »die Angst lässt mich um ein Gift flehen« – und sexueller Begierde – »Immer größere erotische Enthemmung.« – in geradezu absurder Parallelität schildert.

Dieses »Spiel der Konstellationen« wird im Laufe von Kronos um einige Felder erweitert, bis die Schilderungen alle äußeren, das Dasein prägenden Umstände umfassen. Es geht infolge um politische Verhältnisse, Gombrowicz emotionale Verfasstheit, seine wirtschaftliche Situation und seine Gesundheit.

Je weiter das Tagebuch fortschreitet, desto ausführlicher wird Gombrowicz. Für die Darstellung seiner Existenz zwischen 1939 und 1951 muss er nicht so stark in seinen Erinnerungen wühlen (auch emotional), ab 1952 ohnehin nicht, weil der polnische Intellektuelle Kronos seit der Entscheidung, dieses Tagebuch zu schreiben, dieses als Echtzeitdokumentation führt. Dies hat auch Einfluss auf den Stil, die Jahresrückblicke sind dann so essayistisch gehalten, wie man das vom Tagebuch kennt. Doch so sehr wie es dort um die Reflektion des intellektuellen Daseins ging, so wenig steht dies hier im Zentrum. In Kronos geht es ganz allein und ausschließlich um den Menschen Witold Gombrowicz und seine Existenz, was – dies sei eingeräumt – natürlich nicht von dem denkenden Wesen Gombrowicz getrennt werden kann.

Schwarz-Weiß-Fotografie von Witold Gombrowicz aus seinem polnischen Ausweis | Beinecke Rare Book & Manuscript Library, Yale University
Schwarz-Weiß-Fotografie von Witold Gombrowicz aus seinem polnischen Ausweis | Beinecke Rare Book & Manuscript Library, Yale University

Kronos ist ein rücksichtsloses Lebensprotokoll, gefüllt mit Schreibaufträgen, Werkverbreitungsbemühungen und Einnahmebilanzen, mit Krankheitsbildern und Therapiemaßnahmen, mit bedeutenden politischen Ereignissen und lapidaren Privatissimen, mit den Namen von nahestehenden Künstlern neben verhassten Redakteuren, mit den Sexualkontakten und der Bewertung der erotischen Begegnung. In diesem wohlgeordneten Durcheinander sträubt sich das Journal unaufhörlich gegen die Lektüre. Sein Inhalt offenbart sich nur häppchenweise, über die schlagwortartigen Denk- und Leseanregungen (u.a. in den unzähligen, akribisch von Rita Gombrowicz, Jerzy Jarzebski und Klementyna Suchanow zusammengestellten Fußnoten und Anmerkungen), die auf das Tagebuch als unabdingbare Basislektüre sowie die weiteren Werke des Polen verweisen. Gombrowicz hinterlassene Ehefrau Rita spricht in ihrem Vorwort gar davon, dass man zwar das Tagebuch ohne Kronos lesen könne, Kronos ohne das Tagebuch jedoch nicht. Wer ein lückenloses Verständnis von Aufzählungen wie »Presse. Spritzen. Freundschaft mit Don Alfredo. Deutscher Angriff auf Russland (ich höre die Sirene). Freundschaft mit Mastronardi. Die behaarte Balletttänzerin, 3 Putitas, Charlie, „Nari“, „El Basurero“. C[hico/a] aus der Avenida Costanera, Hector. Der Trinker. Die Puta im Hotel.« anstrebt, der sollte diesen Hinweis sehr ernst nehmen. Alle anderen entnehmen solchen Passagen, was den Polen im Exil politisch und literarisch bewegte und mit wem er sich verlustierte.

Das Ausmaß der sexuellen Eskapaden wird in Kronos derart deutlich, dass Rita Gombrowicz in ihrem Vorwort noch 45 Jahre nach dem Ableben ihres Mannes getroffen schreibt, dass sie keiner Witwe der Welt »eine solche Hinterlassenschaft« wünsche. Die Erklärung für den gleichermaßen masochistischen wie sadistischen Narzissmus des polnischen Intellektuellen findet man nur im Tagebuch. »Das Wort „ich“ ist so grundlegend und erstgeboren, so voller greifbarer und dadurch ehrlichster Wirklichkeit, so unfehlbar als Führer und gestreng als Prüfstein, dass wir eher vor ihm auf die Knie fallen sollten, als es zu verachten. … Ich bin mein wichtigstes und wohl auch einziges Problem, der einzige von all meinen Helden, an dem mir wirklich etwas liegt.«

Allein diesem heldenhaften und problematischen Ich ist Kronos gewidmet. Darin wird deutlicher als bislang, wie schwer (wenngleich alternativlos) Gombrowicz der Neuanfang in Argentinien gefallen ist, wie stark seine sexuellen Abenteuer (mit Frauen und Männern) sein Dasein geprägt und auch gefährdet haben, wie er mit allen Haken und Ösen um seine wirtschaftliche Existenz kämpfen sowie (zum Teil schwere) Krankheiten durchstehen musste, wie er sich immer wieder um die (erneute) Publikation seines Romans Ferdydurke und anderer Werke bemühte sowie jeden Fitzel an Lobpreis und Kritik aufsaugte und verdaute.

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Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953 – 1969. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Fischer Taschenbuchverlag 2004. 1.072 Seiten. 14,90 Euro. Hier bestellen

Ferdydurke ist bis heute neben dem Tagebuch Gombrowicz’ berühmtestes Werk geblieben, und das, obwohl das Werk, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs geschrieben, in dessen Folge fast in Vergessenheit geraten wäre. Der in den 1960ern in Deutschland erschienene Roman ist eine experimentelle, sarkastische und surreale Abrechnung mit der Arroganz der (vor allem polnischen) Kritik, nachdem diese seinen Debütroman Memoiren aus der Epoche des Reifens verrissen hatte. Ohne diesen »Rück-Bildungsroman« (Francois Bondy) und das seither gestörte Verhältnis zwischen Autor, Kritikern und Lesern (siehe auch der Rezensionsversuch im Spiegel 1961) gäbe es das Tagebuch nicht. Gombrowicz schrieb es als Versuch, selbst das Verständnis seiner Person und Literatur herbeizuführen – nicht ohne dabei seine Kritiker zu verspotten. »Aus der Wahl der Epitheta, mit denen ich beschossen werde, geht nämlich hervor, dass niemand von diesen Leuten einen blassen Schimmer von mir hat. Das Adjektiv „blasiert“ passt überhaupt nicht auf mich, das Wort „Weltflüchtler“ bedürfte viel genauerer Auslegung, „Intellektueller“ trifft daneben, und auch „schöngeistiger Freidenker“ taugt nichts. Solche Fehlschüsse rühren daher, dass man keines meiner Bücher gelesen hat, und wenn, dann dösköppig.« Einträge wie dieser aus dem Jahr 1954 erschienen regelmäßig in der in Paris herausgegebenen polnischen Exilzeitschrift Kultura und zeitigten eine entsprechende Wirkung. Gombrowicz und die Kritik sollten bis zu seinem Lebensende ein konfliktbeladenes Verhältnis pflegen. In Kronos liest man davon vor allem zwischen den Zeilen, etwa wenn er von den Schwierigkeiten berichtet, Auszüge aus seinen Arbeiten andernorts zu publizieren, oder über zu niedrige Angebote für seine neuen Schriften lamentiert.

Mit der Rückkehr nach Europa bekommt das radikal nüchterne Schreiben des Polen einen fast larmoyanten Tonfall. Zum einen ist er nun wieder näher an seinen Kritikern dran, zum anderen werden die Sorgen um seine Gesundheit immer konkreter. »Ich bin aus Buenos Aires aufgebrochen in den Tod… und das zieht sich hin…« schreibt er 1965, im Jahr darauf dann unter dem Stichwort Ero[tik; A.d.A.]: »Nichts. Ich kämpfe gegen eine Vielzahl von Krankheiten, ich verrecke, mit Rita insgesamt besser, aber nicht immer… Gott, Gott, wie lange?« Während es mit seiner Gesundheit bergab geht, wächst nun wieder die Anerkennung. Gombrowicz wird inzwischen als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt, doch auch das kann ihn nicht mehr mit den Jahren unzureichender Beachtung und Anerkennung versöhnen. »Ich glänze nicht gern im Licht der anderen. Ich möchte leuchten, wenn es dunkel ist«, schreibt er 1966 in einem »Interview mit mir selbst«, dass er auf Einladung der Welt verfasst und in seinem Tagebuch ebenfalls veröffentlicht hat.

Wie nennt man ein solches Ich-bezogenes Schreiben? Künstlerisch radikal und kühn oder nicht doch besser selbstverliebt und unerbittlich? Wer mag das schon beurteilen? In jedem Fall trifft es den aktuellen Trend der Selbstentblößungsprosa, wie sie von Karl Ove Knausgård oder Tomas Espedal betrieben wird. Wenngleich einen der Gedanke beschleicht, dass Gombrowicz’ vollkommen nacktes Schreiben selbst deren öffentliche prosaische Selbstkasteiung übertrifft. Füllwörter gibt es in diesem persönlichen Protokoll nicht. Jedes Wort kämpft um seine Existenz in dem Versuch, »mich selbst zu schaffen und Gombrowicz zu einer Gestalt zu machen – wie Hamlet, oder Don Quijote«, schrieb er im Tagebuch. Näher als mit Kronos kann man dem nicht kommen.

Eine Galerie mit zahlreichen Fotografien von Witold Gombrowicz (u.a. mit dem Titelbild) ist unter www.wojciechkarpinski.com zu finden.

6 Kommentare

  1. […] mehrfach gebrochene Ostbiographie überdeutlich. Was das genau war, wurde mir mit einem Zitat von Luc Bondy deutlich: »Im Westen spaziert man durch das Leben, während man im Osten durch die Geschichte […]

  2. […] des Talmud bricht, aber Seite für Seite zu lesen, nein, das übersteigt meine Kräfte«, hielt Witold Gombrowicz in der Niederlage seine Bewunderung für Kafkas Texte fest. Nun kann jede:r dem Grund dieser […]

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