Film

»Ich habe immer gerne die Scheiße aufgewirbelt«

Das Kino von Louis Malle ist geprägt einerseits von einer endlosen Empathie gegenüber seinen Figuren und andererseits von einer faszinierenden Zeitlosigkeit. Ob film noir, Erotikdrama oder französische Sommerkomödie – sein Wagemut, sich immer wieder neu zu erfinden, macht ihn zum Schattenkanzler im Kabinett der Nouvelle Vague.

»Wir leben in einer Welt, in der Väter, Alleinlebende oder Künstler so zu leben versuchen, wie man sich in der Phantasie einen Vater, einen Alleinlebenden oder einen Künstler eben vorstellt. Und sie benehmen sich genau so, als ob sie wüssten, wie man sich in jedem Augenblick zu benehmen hätte. Und sie wecken alle einen völlig selbstbewussten Eindruck. Und sie wecken alle einen völlig selbstbewussten Eindruck. Aber in ihrer privaten Sphäre sind die Leute ziemlich durcheinander. Sie wissen einfach nichts mit ihrem Leben anzufangen und lesen all diese Selbsthilfebücher.«

Liest man diese Zeilen, stellt man sich eine lakonische Woody-Allen-Figur vor, die diesen Monolog absetzt. Tatsächlich ist das Kammerspiel, dass der weltoffene Franzose Louis Malle 1981 mit Wallace Shawn und Andre Gregory in einem Restaurant inszeniert hat, in seinen Dialogen genauso spitz und komisch wie Woody Allens Kino. Wenn man Mein Essen mit André eine Schwäche andichten muss, dann die eintönige Inszenierung des fast zweistündigen Am-Tisch-Sitzens der beiden Protagonisten. Diese, ein aristokratischer Schriftsteller in finanziellen Schwierigkeiten und ein Broadway-Autor, der sich eine Auszeit vom Zirkus der Hochkultur genommen hat, treffen sich nach jahrelanger Trennung zu einem bourgeoisen Essen (auf die wiederholte Inszenierung des Essens als kulturelles Ritual in Malles Filmen sei hier nur am Rande hingewiesen) in einem New Yorker Nobelrestaurant und tauschen ihren Blick auf die Welt aus. Da geht es um traditionelle (Walt Whitman, Antoine de Saint-Exupéry, Billy Holliday) und innovative Ansätze in der Kunst (Jackson Pollock, Konstantin Stanislwaski, André Breton, Jack Kerouac), um Erfahrungen im Ausland, um den eigenen künstlerischen Anspruch und das lärmende Vakuum, das mit Erwartungen und Selbsthilfebüchern seine Füllung erfährt. Man wünschte sich, Wallace und Andre würden wie Don Quixote und Sancho Pansa – mit denen der Spiegel die beiden verglich – durch die Prärie reiten, um der kruden Welt, die sie beschreiben, eine Gestalt zu verleihen. Den Gefallen tut Malle seinen Zuschauern nicht, er zwingt sie in ihre eigene Vorstellungskraft, in die Selbstkonfrontation.

Mein Essen mit André
Wallace Shawn und Andre Gregory in »Mein Essen mit André«. Der Film ist in Farbe | IMDB

Louis Malle, dessen Kino so wandelfähig ist wie ein Chamäleon und geprägt ist von seinen Arbeitsaufenthalten in Indien (wo er einen achtstündigen Dokumentarfilm drehte) und Mexiko (wo er Jeanne Moureau und Brigitte Bardot in der Rolle zweier »Tingeltangelkünstlerinnen« in das zapatische Mexiko reisen und auf skurrile Weise Einfluss auf die Revolution nehmen lässt), hat sich in den beiden Akteuren und ihren Themen ein stückweit auch selbst gespiegelt. Vor allem aber hat er der Zeit einen Spiegel vorgehalten.

Man bekommt beim Anschauen des Films unweigerlich den Eindruck, dass dieser Spiegel immer noch nicht blind geworden ist. Die Facebookgesellschaft dieser Tage bekommt mit Sätzen wie »Alle erfüllen ihre Rollen, reden über Nichts und wissen so auch nichts voneinander« ihre Ohrfeige, die Egomanie unserer Zeit wird mit Zeilen wie »die Menschen sind faule und verwöhnte Kinder, die permanent gelangweilt sind« geradezu perfekt umrissen und die allgegenwärtige Zukunftsangst wird in Roboterfantasien und kulturellen Untergangsszenarien eingefangen. Ist Louis Malles Kino womöglich aktueller als das auf Unterhaltung und Animation ausgelegte Gegenwartskino? Eine Auswahl seiner Filme, die als Arthaus-Filmbox erschienen ist, bietet nun die Möglichkeit, dies zu prüfen.

Fahrstuhl zum Schafott
George Poulouly als James Dean-Verschnitt in »Die Liebenden« | Louis Malle

Louis Malle, der am 23. November 1995 im Alter von 63 Jahren starb, war ein Handwerker, ein Mann der Tat, nicht der Worte. Das unterschied ihn von Zeitgenossen wie Jean-Luc Godard, François Truffaut oder Claude Chabrol, die alle aus der Schule der Kritik zum Film kamen und als Gründungsväter des neuen französischen Kinos, der Nouvelle Vague galten. Malle lernte stattdessen bei Jacques-Yves Cousteau unter Extrembedingungen, was Filmemachen hieß. Er tauchte mit ihm hinab in die Meere, diente dem Tiefseetaucher als Assistent und Kameramann, während Costeaus mit einem Oscar sowie einer Goldenen Palme ausgezeichnete Dokumentarfilm Die schweigende Welt entstand.

Anschließend assistierte er bei Robert Bresson, bevor er mit Fahrstuhl zum Schafott, dieser französischen Version von …denn sie wissen nicht, was sie tun mit George Poulouly als James Dean-Verschnitt in der Nebenrolle seinen Durchbruch feierte. Dieser nach einer Vorlage von Roger Nimier und dem Vorbild von Alfred Hitchcock gedrehte film noir, zu dem Miles Davis den jazzigen Soundtrack lieferte, bricht mit allen Konventionen. Darin verwebt Malle die vertrackten Geschichten zweier Morde geschickt miteinander und zeigt, wie brillant er mit der Kamera umzugehen versteht. Vor allem die Aufnahmen im nächtlichen Paris, die Arbeit mit Licht und Schatten, lassen in diesem Filmdebüt anklingen, welch meisterliches Gespür Malle für Szenerie und Atmosphäre hat.

Louis Malle bei den Dreharbeiten zu »Die Liebenden« | Louis Malle
Louis Malle bei den Dreharbeiten zu »Die Liebenden« | Louis Malle

Seine großen Vorbilder waren Jean Renoir und Luis Buñuel, als Mensch aber soll er Michelangelo Antonioni am nächsten gewesen sein, glaubt man Volker Schlöndorff. Dieser arbeitete Jahre vor seinem Oscar-Erfolg mit Die Blechtrommel bei dem Franzosen als Assistent arbeitete, erinnert sich an einen Mann, der nie als Lehrmeister auftrat, »obwohl er alles zu wissen schien«. Als noch ahnungsloser Neuling war Schlöndorff bei den Dreharbeiten zu der wunderbar surrealen Paris-Komödie Zazie dans le Métro dabei und erlebte den französischen Regisseur als offenen und zugewandten Mann. »Seine Art zu leben und zu inszenieren waren eins, er wollte verführen, geliebt werden, vom Publikum wie von seinen Freunden, seinen Frauen und seinem Team«.

Malle verschaffte in Zazie dans le Métro nicht nur einer dreizehnjährigen Göre, die als französische Pippi Langstrumpf einfach nur mal U-Bahn fahren will, einen großen Auftritt, sondern zeigt uns ganz nebenher Paris in all seinen Facetten – als Hauptstadt der Welthauptstadt des Savoir Vivre, als Streikmetropole, als überteuertes und vermülltes Babylon und Paradies der Kleinganoven. Nichts funktioniert in dieser aus Kinderaugen beobachteten Welt der Erwachsenen, schreibt Schlöndorff. »Männer verkleiden sich als Frauen, Frauen verlieben sich in Frauen, Polizisten sind Kinderschänder, Liebende quälen sich, Touristen sind obszöne Voyeure, Gewerkschaftler legen den Verkehr lahm, Architekten zerstören das Stadtbild, die faschistische Miliz CRS wartet auf den Tag der Rache, der da kommen wird. Zazie wundert sich über gar nichts und stiftet alle gegen alle an.«

Zazie dans le Métro | Louis Malle
Standbild aus »Zazie dans le Métro« | Louis Malle

Die literarische Vorlage von Raymond Queneau galt als unverfilmbar, Malle war das egal und brachte den Roman als wilde Persiflage und Genremix auf die Leinwand. Auch wenn das Projekt finanziell schrecklich floppte, ist es eine künstlerische Offenbarung. Entsprechend tief verneigten sich seine Zeitgenossen, François Truffaut schrieb ihm nach der Premiere: »Mein lieber Louis, ZAZIE hat mich verblüfft; es ist ein wahnsinnig ehrgeiziger und ungeheuer mutiger Film. Ich hätte bestimmt mehr und häufiger gelacht, aber oft haben mich die technischen Tricks, die Nahaufnahmen vor bewegtem Hintergrund usw. einfach überwältigt… Selten habe ich dem Film eines Kollegen so sehr Erfolg gewünscht wie diesem!… Dein François.«

Tatsächlich ist das Bemerkenswerte an diesem Film sein leichtfüßiger Umgang mit Kulissen und Räumen, die Malle mit wenigen Handgriffen als surrealistische Elemente in seinen Erzählstrom einbindet. Regisseure wie die Coen-Brüder oder Wes Anderson hätten an diesem mitreißenden satirischen Spiel mit Reflektion, Verfremdung und Perspektivverschiebung ihre helle Freude. Dass am Ende das gesamte Set kurz und klein gehauen wird und die bissige Zazie auf die Frage, ob sie nun Metro gefahren sei, nur lakonisch antwortet »Nein, ich bin älter geworden«, ist Malles persönliches Statement zum Aufbruch des Kinos, das in der Nouvelle Vague einen neuen Weg fand.

Die Liebenden | Louis Malle
Die Liebenden | Louis Malle

»Ich habe mir gewünscht, geliebt zu werden, damit mir es vorkommt, als liebte ich«, sagt der tragische Held in Das Irrlicht, Malles Tragikomödie, mit der er 1963 in Venedig den Spezialpreis der Jury gewann. Dieses Porträt eines gescheiterten und lebensmüden Schriftstellers, der kurz vor seinem selbstgewählten Tod Scott F. Fitzgeralds Der große Gatsby noch zu Ende lesen muss, ist einer der persönlichsten Filme des französischen Regisseurs, dessen Maßstab aller Liebessehnsucht zum Trotz stets der eigene künstlerische Anspruch war und nicht irgendeine Mode oder Markttauglichkeit. Seine Erfahrungen, seine Phantasie und sein Wissen um die Zufälle des Lebens waren ausschlaggebend für seine Kunst.

Entsprechend liegt das Programmatische seiner Filme in der Abwesenheit jeder Programmatik. Mit jedem neuen Film scheint er genau das gemacht zu haben, was man am allerwenigsten von ihm erwartet hat. Nach seinem Debüt folgte mit Die Liebenden einer seiner bedeutendsten Filme, 1958 mit dem Spezialpreis der Jury in Venedig ausgezeichnet. Seinen Ruhm erhielt der Film jedoch vor allem wegen des internationalen Skandals, den seine für damalige Verhältnisse recht explizit erzählte Handlung auslöste. Die konservativen Sittenwächter in den USA bewerteten die Geschichte einer Ehefrau und Mutter, die ihre Familie für ihren Geliebten verlässt, als obszön und zogen bis vor den Obersten Gerichtshof, wo sie aber schlussendlich unterlagen. In Deutschland schnitt der Verleih wegen moralischer Bedenken einige Szenen aus dem Film, das deutsche Fernsehen stellte Jahre später die vollständige Fassung wieder her. Dass sich in der größten Louis-Malle-Filmsammlung, die jemals vorgelegt wurde, nun nur die »zensierte« deutsche Fassung befindet, ist mehr als ein Faux Pas.

Pierre Blaise und Aurore Clément als Lucien Lacombe und France Horn in »Lacombe Lucien« | Louis Malle
Pierre Blaise und Aurore Clément als Lucien Lacombe und France Horn in »Lacombe Lucien« | Louis Malle

Bildet Die Liebenden von 1958 den Auftakt für seine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Toleranzschwellen, schließt das Erotikdrama Verhängnis – das 1992 neben Paul Verhoevens Erotikthriller Basic Instinct in die Kinos kam und als frankoeuropäische Variante des Genres (mit einer großartigen Juliette Binoche und Jeremy Irons in den Hauptrollen) als »erotischer Totalschaden« unterging – dieses Themenfeld. Dazwischen brach Malle immer wieder die Tabus. Etwa mit der Inzestgeschichte Herzflimmern, mit Pretty Baby von 1977, einem Film, in dem er um Kinderprostitution geht, oder in dem Suchtfilm Atlantic City. »Es ist gar nicht so, dass ich den Skandal mag. Aber ich mag es, feste Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Oder auch Klischees und Tabus. Das habe ich immer gerne gemacht. Ich habe immer gerne die Scheiße aufgewirbelt, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe diese Filme gemacht, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Ich fühle mich nämlich nicht dazu verpflichtet, alles zu glauben, was man mir erzählt.«

Herzflimmern, Pretty Baby und Atlantic City Filme fehlen in der Collection ebenso wie sein berühmtestes Werk Auf Wiedersehen, Kinder, dass er selbst als »eine kleine private Suche nach der verlorenen Zeit, also meiner eigenen Vergangenheit« bezeichnete. Stattdessen das schräge surrealistische Endzeit-Gemälde mit Lewis Carroll-Anlehnung Black Moon sowie – immerhin – Lacombe Lucien, die von Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano mitgeschriebene Geschichte eines jungen Kollaborateurs, der sich in ein jüdisches Mädchen verliebt. Der Film öffnet die Tür zu Malles historischem Kino, für dessen Einordung in Malles Filmo- und Biografie Auf Wiedersehen, Kinder jedoch entscheidender gewesen wäre. Denn es gab in Malles Leben einen Vorfall, den er selbst als Skandal, als Katastrophe und Trauma erfuhr. 1944, Malle besuchte damals die Jesuitenschule, verschwindet ein Schüler aus seiner Schule. In Auf Wiedersehen, Kinder erzählt er von der Denunziation und Deportation dieses jüdischen Schulkameraden, indem er ihn als Racheakt eines von allen gehänselten Mitschülers inszeniert. Es war der erste rein autobiografische Film des Franzosen. Er geht darin Fragen nach der eigenen Schuld und Sühne, nach Verantwortung und Vergebung nach und setzt zugleich der (eigenen) Kindheit ein Vergänglichkeitsmahnmal. Dabei entschuldigt er nichts, vielmehr versucht er in dieser Versuchsanordnung, zu verstehen.

Juliette Binoche als unwiderstehliche Anna Barton in »Verhängnis« | Louis Malle
Juliette Binoche als unwiderstehliche Anna Barton in »Verhängnis« | Louis Malle

Diese empathische Haltung zieht sich durch all seine Filme. Die ethischen Positionen seiner Figuren nahm er als gegeben hin. Moralische Urteile sollten andere treffen, er wollte einfach nur Geschichten erzählen, indem er seine Zuschauer mit der Ambivalenz des Daseins konfrontiert. Dass diese Ambivalenz zuweilen auch einfach nur luftig leicht sein kann, zeigt er in der Komödie im Mai, einer Art Blaupause für all die Provence-Familien-Tragikomödien, die das französische Kino hier so beliebt machen. Da muss der gealterte Dandy Vieuzac seine verstorbene Frau unter die Erde bringen, lässt seine Familie anreisen und schon beginnt – vor dem Hintergrund der Studentenunruhen und Sozialstreiks – das liebevolle Hauen und Stechen um den bourgeoisen Nachlass.

»Wir geben uns der Liebe hin, weil sie uns fühlen lässt, was wir noch nicht wissen«, sagt der gescheiterte Staatssekretär Fleming in Malles Erotikdrama Verhängnis. Hier ist es vor allem die Liebe zum Kino, der man sich vollkommen hingeben kann. Auch wenn nicht alles gelungen ist, so wird hier zumindest etwas gewagt – nicht einmal, sondern mit jedem neuen Film.

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Louis Malle Edition. Mit: André Gregory, Wallace Shawn, Jeanne Moreau, Maurice Ronet, Lino Ventura, Vittorio Caprioli, Yvonne Clech, Philippe Noiret, Jeremy Irons, Juliette Binoche, Cathryn Harrison, Therese Giehse, Joe Dallesandro, Alexandra Stewart, Michel Piccoli, Miou-Miou, Burt Lancaster u.v.m. Mit den Filmen: Fahrstuhl zum Schafott, Die Liebenden, Zazie, Das Irrlicht, Lacombe Lucien, Black Moon, Mein Essen mit André, Eine Komödie im Mai, Das Verhängnis. 912 Minuten. FSK: 16 Jahre. Mehr Informationen zur Louis Malle Edition bei Arthaus.

3 Kommentare

  1. […] verweisen darauf, wie sich die Dinge zuspitzen. »The Dinner« ist nicht zu vergleichen mit etwa Louis Malles Dinnerfilm Mein Essen mit André, denn Movermanns Kammerspiel ist ein Familienthriller. In Rückblenden und Introspektion erzählt […]

  2. […] Filme drehte. Er hat mit den Granden seiner Zeit gearbeitet, neben den bereits genannten auch mit Louis Malle, Jean-Pierre Melville, Jean-Paul Rappeneau, Henri Verneuil, Georges Lautner, Alain Resnais oder […]

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