Erzählungen, Literatur, Roman

Die Verwortung der Welt

Saša Stanišić erfüllt mit seinen Erzählungen alle Hoffnungen seiner erwartungsschwangeren Leser und beweist sich »im Artikulieren von Gedanken, im Formulieren, im Meinen« selbst als der beste aller »Fallensteller«

»Es ist so viel einfacher, jemanden zu mögen, als jemanden nicht zu mögen. Man muss es nur wollen.« Alles an dieser simplen Aussage ist so offensichtlich richtig, dass man Gefahr läuft, viel zu schnell über sie hinwegzulesen. Dabei erschließt sich ihre tiefe Weisheit erst, wenn man sie sacken lässt. Und bald schon erinnert man sich, wie schwer es ist, sich jemanden willentlich aus dem Herz zu reißen.

Leser sind nach solchen Erkenntnissen geneigt, die jeweilige Lektüre heftig in die Ecke zu schmeißen. Denn sie sind eitle und scheue Tiere, lebenserklärende Klugscheißerei geht ihnen schnell auf den Wecker. Nicht jedoch, wenn sie ein Buch von Saša Stanišić in den Händen halten, dem wohl größten Dompteur im Zirkus der deutschsprachigen Literatur. Mit seiner zugeneigten, empathischen und liebevollen Prosa versteht er es wie kein anderer, in seinen Lesern ein melancholisches Gefühl wohlwollender Selbsterkenntnis zu erzeugen.

Der 1978 im bosnisch-herzegowinischen Višegrad geborene Stanišić, der mit 14 Jahren nach Deutschland kam, ist ein Magier der Sprache, der sein Handwerk perfekt beherrscht. Das zeigen auch die zwölf Prosatexte, die unter dem Titel Fallensteller erschienen sind und wie amuse gueules das Warten auf seinen nächsten Roman (hoffentlich) verkürzen. Zwischen seinem Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert, der 2006 im Finale um den Deutschen Buchpreis Katharina Hackers Die Habenichtse unterlag und von der begeisterten Kritik kurzerhand zum Buchpreis-Gewinner der Herzen erklärt wurde, und dem mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten zweiten Roman Vor dem Fest vergingen immerhin sieben lange Jahre.

Fallensteller von Saa Stanii
Saša Stanišić: Fallensteller. Luchterhand Literaturverlag 2016. 288 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Ob es sich bei seinen nun vorgelegten Prosatexten um Erzählungen im klassischen Sinne handelt, darüber könnte man prächtig diskutieren. Beispielsweise können die Geschichten, in denen es den anonymen Erzähler und seinen Freund Mo von den »immens schönen tragischen blöden glückseligen deutschen Flüssen« bis nach Stockholm führt, zwar für sich stehen, ihre chronologische Zusammengehörigkeit aber ist nicht zu leugnen. Die drei meisterhaft komponierten Texte über den Manager Georg Horvath, der sich auf einer Geschäftsreise in Brasilien von einem falschen Fahrer und seinen wirren Gedanken durch Zeit und Raum treiben lässt, ergäben zusammengenommen wohl auch eine wunderbare Novelle. Allein kann der Durchschnittsleser mit dieser Gattung kaum noch etwas anfangen, weshalb Verlage zum übergeordneten Begriff der Erzählung greifen, wenngleich das Genre (trotz Franz Kafka und Heinrich Böll) hierzulande vollkommen unterschätzt wird. Feiern in den USA Nachwuchsautoren mit der Publikation einer Shortstory oft ihren Durchbruch, gilt in Deutschland einzig der Roman als ernstzunehmendes Zeugnis literarischen Schaffens.

Das zeigt sich auch bei der Vergabe von Literaturpreisen, die fast ausschließlich der Königsdisziplin des Epischen vorbehalten sind. Nur deshalb wird Saša Stanišić mit seinem neuen Buch erstmals nicht für einen Literaturpreis nominiert werden und dasselbe Schicksal nehmen, wie Karen Köhler vor zwei Jahren. Ihre raffinierten, rührenden und abgrundtiefen Erzählungen im Band Wir haben Raketen geangelt wurden zwar von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert, blieben aber ohne größere Auszeichnung.

Dabei sind die neuen Texte des inzwischen 38-jährigen Stanišić wahre Wunderwerke, in denen das Unmögliche möglich wird. Da heben Schweine plötzlich zu sprechen an, Eschen plaudern die Geheimnisse fremder Postkarten aus und ein verstummter, alter Mann redet seinem erfolgreichen Enkelsohn noch einmal schweigend ins Gewissen. Man kennt die ungewöhnlichen Perspektiven des Hamburger Fähigkeitenzauberers spätestens seit seinem vielstimmigen Uckermark-Epos Vor dem Fest, das von dem kollektiven Wir der in Fürstenfelde Ansässigen erzählt wird.

Dennoch ruht im Kern der Erzählung eine Fabel über die Angst vor dem Fremden. Ausgelöst wird diese nicht von den Flüchtlingen, sondern von einem in Reimen wispernden »Rattenfänger«, einigen hungrigen Wölfen und einem wildgewordenen Keiler. Gegen die Tiere macht eine Gruppe »besorgter Bürger« Stimmung, gegen den mysteriösen Kammerjäger, der in die Einliegerwohnung der Bäckersfamilie Zieschke einzieht, irgendwie alle und keiner. Einerseits nährt er die Hoffnung, die ins Dorf eindringende Natur zurückzuschlagen, andererseits sorgt seine unheimliche Kunst des Fallenstellens für allgemeines Unbehagen. Der »Bäcker-Angie« verdreht er nebenbei noch den Kopf, was Günter Zieschke auf die Palme und den gemeinsamen Sohn Lada zum Schreiben bringt. Seit ihm der preisgekrönte »Jugo-Schriftsteller« gesagt hat, er solle alles aufschreiben, was um ihn herum passiert, damit ihm nichts verloren gehe, füllt er wie ein Spänesammler Seite um Seite in seinem schwarzen Notizheft, wobei er von den Geschichten unauffällig die Lügen abraspelt.

Die titelgebende (und mit Abstand längste) Erzählung in diesem Prosaband spielt in jenem halbechten Fantasieort im Norden Berlins, greift den Literaturtourismus auf, der seither über das kleine Fürstenwerder hereingebrochen ist (siehe auch die Galerie), und knüpft im Ton des erzählenden Dorfes auch stilistisch an den Roman an. Die Einwohnerzahl in Fürstenfelde ist seit 2013 von ungerade auf gerade gekippt, was nicht am Ableben des Fährmanns, sondern am Zuzug von fünf syrischen Familien liegt, die im Block gegenüber von Ullis Garage eingezogen sind. »Babylonisches Sprachengewirr, wenn die Säufer, die Einheimischen, die Berliner und die Syrer zusammenkommen. Und alles läuft wie am Schnürchen. Können sich die Herrschaften in Berlin mehrere Scheiben abschneiden.«

Kehren die Leser hier noch einmal in die brandenburgische Provinz zurück, werden sie in anderen Fällen in die Welt gelockt. Erzählungen wie das sprachverspielte »Billard Kasatschok« oder das mythische »In diesem Gewässer versinkt alles« sind literarische Miniaturen, in denen der Begriff Heimat im Brennglas von Globalisierung und Migration verhandelt wird.

Saša Stanišić, der seit Jahren in Hamburg lebt, ist ein Poet und Revolutionär, der seine eigentliche Heimat in der Sprache gefunden. Oder wie es in einer der Horvath-Geschichten heißt: »In der eigenen, nicht in der Sprache allgemein. Präziser: im Artikulieren von Gedanken, im Formulieren, im Meinen. Präziser: in dem, was zum Ausdruck gebracht werden sollte.«

In Fallensteller begegnet dem Leser ein wildes und zugleich stilsicheres Spiel mit den Möglichkeiten des Deutschen, das in der hiesigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Stanišić beweist sich dabei einmal mehr als Virtuose dessen, was sich die deutsche Sprache nennt. Näher kann man diesem Sprachartisten nicht kommen, als in diesen Texten, in denen er unbekümmert (selbst)ironisch die Gegenwart »verwortet«.

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