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Die Zeit der großen Gebildeten ist vorbei

Thea Dorn hat mit ihrem Roman »Die Unglückseligen« (hier unsere Besprechung) einen fulminanten Wissenschaftsroman geschrieben, mit dem sie den Fauststoff in die Gegenwart hebt. Wir sprachen mit ihr über Grenzüberschreiter, Naturphilosophen, Blowjobs, »Breaking Bad« und die Position der Autorin im Literaturbetrieb.

»Die Unglückseligen« ist unschwer als Faustroman zu dechiffrieren. Ist es nicht ein wenig vollmundig, sich in eine solche Tradition neben beispielsweise Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann, um mal die ganz Großen zu nennen einreihen zu wollen?

Zu dem Thema hat Nikolaus Lenau, dessen »Faust« leider zu den vergessenen »Fäusten« gehört, die schöne Replik formuliert, dass Goethe kein Monopol auf diesen Stoff hat, sondern dass es ein Menschheitsstoff ist. Es ist ja nicht so, dass sich neben Goethe und Mann kein anderer an den Stoff gewagt hätte. Vom letzten Drittel des 18. bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde alle Naslang ein neuer »Faust« geschrieben oder komponiert. Ich habe mich gefragt, warum dieser Mythos vom radikalen Grenzüberschreiter, der uns heute doch am Allernächsten sein müsste, in der aktuellen Literatur nicht mehr vorkommt. Der einzige originäre »Faust« der letzten Jahre ist der Film des russischen Regisseurs Alexander Sokurow, den ich allerdings deutlich zu pittoresk finde. Das Einzige, was man mit einem »Faust«-Roman – wie mit jedem Buch – riskiert, ist, im Schatten der Giganten auf dem Schrotthaufen der Geschichte zu landen. Allerdings kann ich nur sagen, dass ich die Auseinandersetzung mit einem so gewaltigen Stoff, der von dem, der ihn zähmen will, alles abverlangt, zutiefst geschätzt habe.

Haben Sie anfangs einen großen Bogen um »Faust«-Bearbeitungen gemacht oder sind erst recht in den Kosmos eingetaucht?

Bei Goethe habe ich mir nur den »Faust II« nochmals gründlicher angeschaut, den Ersten Teil habe ich seit meiner Schulzeit verinnerlicht, seit ich bei einer Schulaufführung das Gretchen spielen musste. Thomas Manns »Doktor Faustus« habe ich auch noch einmal gelesen – und einmal mehr festgestellt, dass es nicht mein Lieblingsroman von ihm wird. Lange bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe, habe ich eine umfangreiche literarische Recherchetour gemacht. Dabei habe ich Friedrich Maximilian Klingers »Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt« gelesen oder Nikolaus Lenaus »Faust. Ein Gedicht«. Und sehr genau habe ich mir natürlich das Volksbuch aus dem 16. Jahrhundert angeschaut, in welchem der Faust-Mythos zum allerersten Mal erzählt wird. Von Lord Byron habe ich ein sagenhaftes »Kain und Abel«-Drama entdeckt, was nicht direkt mit Faust, aber viel mit dem Teufel zu tun hat.

Die Unglueckseligen von Thea Dorn

Die Auseinandersetzung mit dem Fauststoff lag in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger brach. Was macht den Mythos von Dr. Faust und seinem Pakt mit dem Teufel aus Ihrer Sicht heute wieder aktuell?

Wenn ich über die Menschheit als Grenzüberschreiterin nachdenke, fallen mir Prometheus und Faust als die beiden zentralen Mythen ein. Der eine raubt den Göttern das Feuer und bringt es den Menschen, um ihren Kampf gegens Schicksal, ihre Rebellion gegens Göttliche, im wahrsten Sinne des Wortes zu befeuern, der andere schreckt vor nichts zurück, um die Grenzen dessen zu überspringen, was der Mensch bislang wissen, erfahren, fühlen durfte. Deshalb ist es kein Wunder, dass Faust immer dann Konjunktur hatte, wenn die Menschheit dabei war, eine alte Epoche zu begraben und die Tore zu etwas Neuem aufzustoßen. Der historische Faust war ein Zeitgenosse Luthers, tauchte also an der Grenze vom Mittelalter zur Neuzeit auf. Die zweite Hoch-Zeit des »Faust« begann mit der Aufklärung, in dem Moment, in dem sich die moderne Wissens-, Technik- und Leistungsgesellschaft endgültig durchsetzte. Falls die Menschheit in 100 oder 200 Jahren noch auf sich selbst zurückblicken kann, wird sie vermutlich sagen, dass nicht nur 1500 und 1800, sondern auch die Zeit um 2000 herum einer der großen Epochenumbrüche gewesen ist. Noch haben wir kein rechtes Wort für das höchsttechnologisierte, digitalisierte Zeitalter, an dessen Anfängen wir uns bewegen, aber ich bin sicher, dass die klassische Aufklärungs-Moderne seit einer Weile zu Ende ist. Eigentlich müssten wir uns vor »Fäusten« gar nicht retten können, denn mit all dem Irrationalen, Ungeduldigen, Maßlosen, das dieser merkwürdige Alchemist mit sich herumschleppt, scheint er mir absolut auch ein Kind unserer Zeit zu sein.

Der Fauststoff allein war Ihnen aber scheinbar nicht genug. Ganz nebenbei flechten Sie Motive und Anspielungen von Werken aus dem westlichen Kanon der Weltliteratur ein. Wenn es da heißt, »unser Ritter… eine traurige Gestalt«, denkt man sofort an Cervantes, bei der »ungläubigen Johanna« an die Bibel. Eine Komponente des Stoffes scheint aber zu kurz zu kommen, oder um mal eine Gretchenfrage zu stellen: Nun sag, wie hast Du’s mit der Melancholie?

Finden Sie nicht, dass Ritter ein großer Melancholiker ist? Aber vielleicht haben wir unterschiedliche Melancholie-Begriffe. Für mich ist Melancholie ein prinzipielles Leiden an der Wirklichkeit, die Sehnsucht, für eine Sekunde hinter den Schleier schauen zu können, den Kern der Dinge zu erfassen. Ritter ist tief davon überzeugt, dass alles, was er treibt, vollkommen sinnlos ist. Und auch Johanna ist, obwohl sie die Unsterblichkeit erringen will, alles andere als ein lebensfroh vergnügter Mensch. Es ist eine meiner liebsten Dialogstellen im Buch, wenn Ritter Johanna fragt, was sie eigentlich genau durch die Unsterblichkeit zu gewinnen glaubt, wo sie doch jetzt schon nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll.

Die Figur der Johanna macht im Roman eine enorme Entwicklung durch. Aus der selbstbewussten, karriereorientierten Wissenschaftlerin wird eine beinahe esoterische Naturphilosophin, die in traditionelle Genderrollen zurückfällt. Ist ein Faust mit einer durchgehend modernen und selbstbewussten Frau nicht machbar, weil es immer ein naives Gretchen braucht?

Meine Johanna scheint mir, auch wenn sie sich zum Schluss in einer komplizierten Schwangerschaft wiederfindet, nur eine sehr entfernte Verwandte von Goethes Gretchen sein. Viel eher ist sie selbst eine Faust-Figur. Und Faust ist ein viel zu gebrochener, widersprüchlicher Charakter, als dass er sich eignen würde, um eine glatte Emanzipations- beziehungsweise Erfolgsgeschichte zu erzählen. Ganz gleich, ob es sich um einen männlichen oder einen weiblichen Faust handelt. Vergessen wir nicht: Bevor Goethe kam, musste Faust am Schluss jedes Mal zur Hölle fahren. Und selbst wenn wir heute nicht mehr an eine Hölle mit ewigem Feuer und Kesseln und Hilfs- und Nebenteufelchen glauben, bleibt es dabei, dass »Faust« die Geschichte einer großen Verzweiflung ist. Und überhaupt: Ist es nicht ein gewaltiger Emanzipations-Erfolg, dass der verschrobene, kaputte, aber eben auch höchst interessante Doktor zum ersten Mal eine Frau sein darf?

Johannas Gegenüber ist Johann Wilhelm Ritter, ein Zeitgenosse von Goethe, Brentano und Schlegel, der noch die universellen wissenschaftlichen Ideale vertritt, wie sie am Übergang von der Aufklärung in die Romantik noch typisch war. Worin bestand die Herausforderung bei dieser einerseits faustischen und andererseits modernen Figur?

Tatsächlich ist Ritter eine solch interessante Kippfigur. Einerseits war er als früher Elektrizitätsforscher ein großer Empiriker, hat nur geglaubt, was er experimentell nachweisen konnte. Das hat dazu geführt, dass er zum Teil äußerst schmerzhafte Versuche am eigenen Leib durchgeführt hat, um seine Hypothesen zu überprüfen. Andererseits war er durch und durch Romantiker, d.h. die Dinge waren für ihn nie, was sie zu sein schienen. So war er bspw. davon überzeugt, dass es sich bei der Elektrizität um die große, eine Naturkraft handeln muss, die alles durchströmt, die den Kosmos zum Schwingen bringt, die Planeten bewegt und Pflanzen, Menschen, Tiere zum Leben erweckt. Außerdem war er Pfarrerssohn, ein ganz wichtiger Punkt. Einer meiner Lieblingssätze von ihm: »Ich versuchte Zeit meines Lebens, ein frommer Physiker zu sein.« In seiner kurzen Zeit an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat er einen Vortrag gehalten: »Physik als Kunst«. Dieser Text hat mir sehr geholfen, sein Weltbild zu verstehen. Ebensogut hätte der Titel lauten können: »Physik als Religion«, denn dort vertritt Ritter die These, dass jede Art der echten Naturforschung Gottesdienst sei, indem der Mensch der blinden Natur hilft, sich zu sich selbst »hinaufzuläutern«. Der junge Ritter hätte sich nicht träumen lassen, dass er eines Tages, als uralter Mann, erleben muss, wie die von ihm verehrte, ja für heilig gehaltene Naturkraft der Elektrizität zu einer reinen Nutzangelegenheit verkommt, die der Mensch auf Schritt und Tritt dazu missbraucht, sich seine »viehische Existenz« angenehmer zu gestalten.

Mit Ritter lernen wir einen der letzten Vertreter der Naturphilosophen kennen, wie es sie vor Beginn der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung in Natur- und Geisteswissenschaften gab, mit Johanna scheinbar eine prototypische Expertin der modernen Welt und Wissenschaft. Prallen hier zwei Prinzipien aufeinander, das Interesse für das Detail und die Neugier am großen Ganzen – oder sind sie eher zwei Seiten derselben Medaille?

Es ist noch komplizierter. Ritter ist ein Vertreter der Generation, die zur Ausdifferenzierung der modernen Naturwissenschaften immens beigetragen hat. Sein Ziel war es, das Große, Ganze zu durchdringen, zwischendurch glaubte er sogar, die »Urformel« gefunden zu haben. Doch aus heutiger wissenschaftlicher Sicht waren das nichts als naturpoetische Phantastereien. Unbestritten ist hingegen, dass Ritter einer der ersten war, die begriffen haben, dass elektrische Vorgänge stets von chemischen Vorgängen begleitet sind. Er ist er also einer der Väter der Elektrochemie, hat, ohne es zu wollen, selbst eine spezielle Unterdisziplin mitbegründet. Die Zeit um 1800 ist mir so ans Herz gewachsen, weil sie vermutlich die letzte Epoche war, in der es noch so etwas wie einen Universalgelehrten geben konnte. Danach zersplitterte die Wissenschaft in zu viele Einzeldisziplinen, die sich jeweils zu schnell entwickelten, als dass ein einzelner Kopf noch die Chance hätte, den Gesamtüberblick zu bewahren. Ich habe mir sagen lassen, dass es bei CERN, der Kernforschungsorganisation in Genf, noch keine fünf Wissenschaftler gibt, die erklären könnte, wie der gewaltige Teilchenbeschleuniger dort insgesamt funktioniert. Allesamt nur Spezialisten für bestimmte Abschnitte. In den Einzelwissenschaften hat die Menschheit in den letzten 200 Jahren enorme Erkenntnisfortschritte gemacht. An Geist haben wir durch dieses Spezialistentum allerdings ebenso enorme Einbußen gemacht. Die Zeit der großen Gebildeten ist vorbei.

Berliner Aufklärung

Ist Johanna vielleicht sogar ein Alter Ego von Johann und umgedreht? Haben wir es hier mit einem Doppelgängermotiv zu tun?

Das weiß die Autorin nicht, dass müssen Sie mit dem Buch diskutieren. Aber natürlich lockt einen die Namenswahl »Johann-Johanna« bereits auf diese Fährte. Wenn sich meine beiden Protagonisten begegnen, haben sie sich anfangs allerdings weniger als nichts zu sagen: Die kühl rationale Johanna hält den kauzigen, von Höllenvisionen gepeinigten Einsiedler, den sie durch einen Zufall aufgabelt, für komplett wahnsinnig – und die meisten Leser geben ihr vermutlich recht. Doch nach und nach verschiebt sich der Wahnsinn, so dass zumindest ich am Schluss nicht mehr sicher gewesen bin, ob in Wahrheit nicht Ritter der Vernünftige und Johanna die komplett Verrückte ist. Dass es zu dieser Rochade kommen würde, war mir nicht klar, als ich mit dem Roman begonnen habe. Aber das sind ja die schönsten Momente beim Schreiben, wenn die Geschichte, wenn die Figuren ein solches Eigenleben entwickeln, dass sie den Autor selbst überraschen.

Großen Spaß hat Ihnen offenbar auch der Teufel gemacht. Dieser stellt das herkömmliche Bild seines Wirkens in einer Art Himmelsgesang an die Menschheit auf den Kopf. Bei der Lesung im Berliner Ensemble wirkten Sie, als täte Ihnen der arme Kerl fast Leid. Gehen Sie Ihrem Teufel selbst auf den Leim?

Die klassische Gegenüberstellung »Gott = gut« und »Teufel = böse«, wie sie alle naiven Religionsauslegungen anbieten, habe ich nie gekauft. Wenn man sich den Gott des alten Testaments anschaut, lernt man einen Gott kennen, der alles andere als lieb ist: Er schickt Plagen, er begünstigt, er ist jähzornig und ungerecht. Und es fällt mir genauso schwer, den Gott des Neuen Testaments, der seinen Sohn am Kreuz sterben lässt, für gnädig zu halten. Wer aber ist der Teufel, wenn er nicht der böse Gegenspieler Gottes ist? Die Antwort kam mir, als ich über Prometheus nachgedacht habe. Sein griechischer Beiname lautet »Phosphoros«, also »Lichtbringer«. Und jetzt übersetzen Sie »Lichtbringer« mal ins Lateinische: Bei wem landen Sie? Bei »Luzifer«. Mein Teufel ist also, wie Prometheus, ein Dogmatiker der Aufklärung. Er stachelt die Menschen zur Rebellion gegen Gott an, d.h. er hat den klassischen religiösen Haltungen wie Unterwerfung und Demut den Krieg erklärt. Seine Devise: »Mensch, wenn Du nur willst, kannst du aus eigener Kraft alles erreichen!« Irgendwann wachte ich auf und wusste: Ein solcher Dogmatiker kann nur der älteste Sohn Gottes sein, der Erstgeborene, der den jähzornigen, übermächtigen Vater endgültig besiegen will. Und dazu braucht er den Menschen, weil dieser als einziges irdisches Wesen imstande ist, gegen seinen Schöpfer zu rebellieren.

In Ihrem ersten Roman, der Berliner Aufklärung, fällt der Satz „Wer die Philosophie sucht, kommt in ihr um.“ Das schreiben Sie als Dozentin für Philosophie ist, die die Wesensmerkmale der deutschen Seele erkundet und nun mit dem Fauststoff zu dem wohl am stärksten philosophisch grundierten Stoff der deutschen Literatur gegriffen hat. Haben Sie beim Schreiben zuweilen das Gefühl, darin umzukommen?

Meistens empfinde ich das Schreiben eher als Rettung. Aber natürlich gab es bei der Arbeit an diesem Buch Momente, in denen ich mich gefürchtet habe: vor der Wucht des Stoffs, dem Wahnsinn der Figuren, der teuflischen Verstiegenheit – all dem musste ich mich hemmungslos hingeben, um die Geschichte erzählen zu können.

Wie riskant ist es heute eigentlich, einen Roman zu veröffentlichen, in dem nicht nur ein antiquiertes Deutsch, sondern auch Englisch und Latein gesprochen wird? Brauchten Sie viel Überzeugungskraft gegenüber ihrem Verleger?

Ich habe das Glück, dass ich meinen Verleger seit meinem ersten Buch »Berliner Aufklärung«, also seit über 20 Jahren, kenne. In all den Jahren ist zwischen uns ein großes Vertrauen gewachsen. Natürlich hat sich der Verlag ab und an Sorgen gemacht, ob ich den Leser nicht überfordere, wenn der Teufel immer wieder den Erzählfluss unterbricht, um seinen Senf dazuzugeben, oder wenn Ritter so eine eigentümliche Sprache spricht. Aber letzten Endes war die Haltung von Seiten des Verlags immer: »Es ist dein Buch. Du musst es so schreiben, wie du musst.« Nach circa 50 Lesungen habe ich mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass es im Publikum drei Fraktionen gibt: Diejenigen, die entzückt sind, dass ein Roman, sowohl was die Tonart, als auch was die Erzählweise angeht, aus dem Zeitgeist ausschert. Dann gibt es die, die sich vor allem mit den Versmaß-Passagen und der alten Sprache zunächst schwertun, aber nach den Lesungen mit leuchtenden Augen zu mir kommen und sagen, dass sie nun, durchs Zuhören, begriffen hätten, dass diese Sprache wie Musik sei, die zum Klingen gebracht werden muss. Und natürlich gibt es auch diejenigen, die mit meiner barocken, überbordenden und zum Teil auch sehr emotionalen Schreibweise tatsächlich nichts anfangen können. Zu denen kann ich nur sagen: Schade. Ihr bringt euch um ein Erlebnis.

Nicht ganz einfach ist auch die Erzählperspektive des Romans. Da ist zum einen der vermeintlich allwissende Kommentator, ein allzu bekannter Zaungast und vielleicht der Spiritus Rector hinter allem, zum anderen die mal auktoriale, mal personale Erzählsituation, wenn die Geschichte von Johann und Johanna vorangetrieben wird. Überfordert das nicht einige Leser?

Vermutlich. Trotzdem halte ich überhaupt nichts davon, als Schriftstellerin ständig die Schere im Kopf zu haben und mir alles zu verbieten, was eine – in der Tat zunehmend ungeduldige – Leserschaft vergraulen könnte. Wie soll denn auf solche Weise noch Literatur entstehen? Ist es nicht schlimm genug, wenn im Fernsehen, bei den Zeitungen und leider auch an den Schulen das Niveau permanent gesenkt wird, um bloß niemanden zu überfordern? Das einzige Genre, das sich derzeit von solchen Ängsten freimacht und dennoch als Mainstream funktioniert, ist interessanterweise die avancierte Fernsehserie. »Breaking Bad« etwa ist erzähltechnisch ungemein mutig. Einer meiner absoluten Lieblingsmomente: Wenn Walter White plötzlich aus der Handlung aussteigt, sich als Mexikaner verkleidet, zur Klampfe greift und eine Ballade auf sein eigenes Ableben singt. Da stellt doch auch kein Zuschauer die kleinkarierte Frage: »Wo kommt jetzt das her? Wieso wird da die Handlung durch so ein albernes Lied unterbrochen?« Sondern er freut sich über diese Verrücktheit. Die Krux mit dem gegenwärtigen Leser scheint zu sein: Für solche Scherze ist er zu konservativ. Auf der anderen Seite ist er nicht mehr konservativ genug, als dass er seine Freude an komplizierten, langen Sätzen oder einem entlegenen Vokabular hätte.

Die deutsche Seele von Thea Dorn

Wobei ich mir vorstellen könnte, dass eine Schwierigkeit des Textes durch die Montage mit anderen Texten zustande kommt. Briefe, Traktate, Lieder, Verse oder Comicpassagen finden sich in Ihrem Roman. Ist diese Montage eine bewusste Anlehnung an die experimentierfreudige Universalpoetik der Romantiker und des Romans des 18. Jahrhunderts?

Absolut. Und es ist, wie eben schon angedeutet, auch der Versuch, erzählerische Mittel, die heutzutage sonst eher Fernsehserien anwenden, auf den Roman zu übertragen. Denn auch mein oberstes Gebot ist: Die Handlung, die Charaktere müssen es tragen! Experimentelle Avantgarde-Prosa ohne starke Figuren, ohne starken Plot langweilt mich ungemein. Nehmen Sie z.B. den Hirsch-Comic, den ich an einer Stelle in die Erzählung einbaue. Johanna fleht insgeheim zu wem auch immer, dass der Kollege, der dabei ist, ihrem geheimen Treiben auf die Spur zu kommen, einfach weg sein möge. Vorher hofft sie noch, ihn mit einem Blowjob so zu besänftigen, dass er vergisst, weiter unangenehme Frage zu stellen. Doch dann stolpert Ritter in die gute Stube und prügelt den armen Kerl grün und blau. Natürlich hätte ich jetzt einfach brav erzählen können, wie der Kollege auf sein Motorrad steigt und nachts die Alpenstraße hinunterrast, bis er mit einem Hirsch zusammenkracht. Aber ist es nicht viel abgründiger und auch lustiger, wenn da plötzlich ein Hirsch auftaucht, der uns an seinen Gedanken teilhaben lässt, und wir also erfahren, dass auch er gerade von einem Nebenbuhler gedemütigt worden ist, weshalb er jetzt Ausschau nach jemand anderem hält, an dem er seinen Frust ablassen kann? Und nochmals: Faust ist Alchemist! Wer an literarischer Alchemie keinen Spaß hatte, sollte von diesem Stoff die Finger lassen.

Nach Klinger, Goethe, Grabbe, den Manns, Dürrenmatt und Frisch sind Sie – zumindest hierzulande – die erste Frau, die sich dem Fauststoff stellt. War Ihnen das beim Schreiben bewusst? Hat sie das vielleicht sogar angespornt oder beeinflusst?

In den schlimmsten Momenten des Zweifels habe ich mich in der Tat bei dem scheußlichen Gedanken ertappt: Es wird schon einen Grund geben, warum sich – abgesehen von Dorothy Sayers – bislang keine Frau an den »Faust« herangewagt hat. Braucht man vielleicht ein übersteigertes Männerego, um mit diesem Monsterstoff zurande zu kommen? Kann man als Frau, die ohnehin viel mehr Zweifel mit sich herumschleppt, daran nur scheitern? Gottseidank war es mir eine solche Lust, dieses Buch zu schreiben, dass die Zweifel zwischendurch immer wieder verstummt sind.

Sie haben vor Jahren in »Die neue F-Klasse« den vermeintlichen Siegeszug des Feminismus als Irrtum bezeichnet. Schaut man in die deutsche Literaturlandschaft, dann kann man Zweifel an dem Aufholen der Chancen von Autorinnen haben. Beim Leipziger Buchpreis war in diesem Jahr nur eine Frau nominiert, die großen Romane von Ihnen oder Juli Zeh sowie Ann Cottens kühnes Versepos wurden links liegen gelassen. Hat sich der Literaturbetrieb seinen Chauvinismus bewahrt?

Auf eine sehr perfide Weise hat er das – und würde es natürlich meilenweit von sich weisen, dass dem so ist. In den 90ern, als ich meine ersten Kriminalromane veröffentlicht habe, durfte ich immer wieder von pseudobesorgten – männlichen wie weiblichen – Rezensenten lesen: »Diese Frau ist so kalt, die gehört in Behandlung.« Können Sie sich vorstellen, dass einem männlichen Krimi-Kollegen »Seelenkälte« vorgehalten wird? Ein Scherzkeks hat dieses alte Totschlag-Argument wieder aufgewärmt, um jetzt auch »Die Unglückseligen« zu diffamieren. Natürlich gibt es großartige Kolleginnen wie Felicitas Hoppe, die sich dem Bild des weiblich empfindsamen Schreibfräuleins radikal entziehen und damit im Betrieb trotzdem äußerst erfolgreich sind. Aber mein Verleger hat mir neulich den Artikel einer jungen britischen Journalistin geschickt, die sich die Mühe gemacht hat, einmal durchzuzählen, welche Bücher aus dem Deutschen ins Englische übersetzt werden: Abgesehen davon, dass es ohnehin erbärmlich wenige sind, waren es fast ausschließlich Bücher von männlichen Autoren. Außerdem muss man leider feststellen, dass der literarische Zeitgeist insgesamt sehr auf Bücher vom Schlage »(vermeintlich) authentische Lebensberichte« fixiert ist. Ich kann diese ganze Knausgård-Manie nicht verstehen. Mich fasziniert es viel mehr, einem Autor dabei zuzuschauen, wie er mit einem echten Stoff ringt. In unserem eigenen, kleinen Leben stecken wir doch ohnehin die ganze Zeit fest. Und einer Frau will man es offensichtlich schon gleich gar nicht zugestehen, dass sie in ihrem Werk von den eigenen Alltagsbefindlichkeiten abstrahiert. Aber was soll’s? Als Schriftsteller muss man so oder so ein ziemlicher Häutungskünstler sein: Solange man am Schreibtisch sitzt, dünnhäutig bis zur Dauerverletzlichkeit. Und sobald das Werk draußen in der Welt ist, gilt’s, sich so schnell wie möglich das dickste aller Felle zuzulegen. Sonst wird man verrückt.

Frau Dorn, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch wurde von Dr. Sabine Blackmore von litdocs.de & Thomas Hummitzsch geführt.