Comic

Kubistischer Kolonialtraum

Olivier Schrauwen zeichnet die Afrikareise seines Großvaters in kühnen Strichen nach. »Arsène Schrauwen« ist die kafkaeske Geschichte einer Irrfahrt, deren Ausgang bis zum Schluss unklar bleibt.

Der in Berlin lebende Flame Olivier Schrauwen hat sich für sein Album Arsène Schrauwen für grafische Strenge entschieden. In seinem naiv-kubistisch anmutenden Comic erzählt er von einer Reise, die sein Großvater 1947 in eine der afrikanischen Kolonien Belgiens unternommen hat. Eingeladen von seinem umtriebigen Cousin Roger Desmet reist er in das namenlose Land, um mit Desmet gemeinsam ein vielversprechendes Utopia in den undurchdringlichen Dschungel zu bauen.

Abenteuerlustig und naiv macht er sich auf, die neue Welt zu erobern, nicht ahnend, dass er dort bald schon auf sich allein gestellt sein wird. Denn der visionäre Cousin leidet an manischer Begeisterungsfähigkeit für alles und nichts und wird nach einem Anfall von Zerstörungswut erst einmal aus dem Verkehr gezogen. Arsène ist das so unrecht nicht, denn ihm hat es die schöne Frau seines Vetters angetan. Sie macht den von Hitzewallungen und Fieberschüben geplagten Arsène kurzerhand zum Leiter des wahnwitzigen Großprojekts. Liebestrunken übernimmt er die Exkursion in den Dschungel, nicht wissend, was ihn dort erwartet.

Erzählerisch will Schrauwen mit dieser Geschichte vielleicht etwas zu viel. Allein der koloniale Kontext eröffnet derart viele Subtexte und Assoziationen, dass man Gefahr läuft, über all die anderen Themen im Comic – Gewalt, Psychologie, Traumdeutung, Liebe, Vertrauen, das Fremde und Angst – zu schnell hinwegzulesen. Wer sich allerdings gegen den Sog, der von dieser Geschichte ausgeht, sperrt und die Anweisungen im Album, vor dem Weiterlesen eine Pause einzulegen, befolgt, der findet in diesem Comic einen Meilenstein der Auseinandersetzung mit Geschichte. Nicht umsonst ist das Album für die Rudolph Dirks Awards nominiert.

9783956400773
Olivier Schrauwen: Arsène Schrauwen. Aus dem flämischen Niederländisch von Helge Lethi. Lettering von Olivier Schrauwen. Reprodukt Verlag 2016. 260 Seiten. 39,00 Euro. Hier bestellen

Grafisch allerdings ist dieses faszinierende Album ein avantgardistisches Meisterwerk. Man findet Anleihen aus nahezu allen Kunstrichtungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die aufgeräumte Grafik erinnert an die Neue Sachlichkeit, die Dekomposition der Figuren verweist auf kubistische und surrealistische Traditionen, der koloniale Subtext ist grafisch mit exotistischen Anspielungen verankert. Zugleich atmet die Geschichte den Geist der amerikanischen Comictradition, Frank King und Winsor McCay haben hier zweifellos Pate gestanden. Dieser Stilmix wirkt nie willkürlich, sondern erweist sich als klug arrangiert. Denn er dient ganz dem Ziel, die kafkaeske Geschichte einer Irrfahrt zu erzählen, deren Ausgang lange Zeit unklar bleibt.

Die Handlung verläuft doppelbödig, nie ist ganz klar, wo die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verläuft. Die anfängliche Vermutung, dass diese Grenze mit der Farbwahl des streng in Blau und Rottönen gehaltenen Werkes oder aber den stilistischen Ausflügen vom Piktogrammatischen ins Surreale korrespondiert, erweist sich schnell als falsch. Vielmehr dienen all diese Verschiebungen allein dazu, den Leser selbst in dieses Labyrinth der Sinne und Sinnlichkeiten hineinzuziehen, um Teil dieses faszinierend schönen, aber auch verstörenden Tagtraums zu werden. Diese Rechnung geht voll und ganz auf.

Schrauwens Grafik versöhnt mit der thematisch übervolle Geschichte, in der man sich schnell mal verirren kann. Aber das ist dem Lesenden irgendwann vollkommen egal, es geht dann nur noch darum, gemeinsam mit dem Protagonisten durch diese surreale Welt zu schwimmen, ohne Druck und ohne Ziel, um sich davon überraschen zu lassen, wohin es einen treibt. Dieses verwirrende Gefühl der Schwerelosigkeit hält auch nach der letzten Seite noch lange an.

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