Literatur, Roman

Der Porträtist des »Homo Hierarchicus«

Weil Sie gerade die Dominanz der Männer angesprochen haben… Es gibt nur wenige Frauen in Ihren Romanen. Woran liegt das?

Die Mutter von Radha und Manju ist im Roman in einer abstrakten Form anwesend. Ihre Abwesenheit ist so präsent, dass sie darüber schon wieder Teil der Handlung ist. Die Abwesenheit von Frauen in meinen Büchern hat aber auch einen direkten Bezug zur Wirklichkeit. Indien befindet sich in einer bizarren Situation. Es gibt deutlich mehr Männer als Frauen. Jahrelang haben Mittelklassefamilien, die Kinder erwarteten, Mädchen systematisch abgetrieben, was dazu geführt hat, dass heute 15 Millionen Frauen fehlen, um das Verhältnis einigermaßen auszugleichen. Das wird künftig ein enormes Problem sein. Die Vorboten dessen, was uns da droht, können wir heute schon beobachten. Die wachsende Aggression in den Familien, die Gewalt gegenüber Andersdenkenden und Minderheiten, die brutalen Vergewaltigungen, die Männergruppen an Frauen verüben – all das hängt zusammen. Angesichts der demografischen Verhältnisse in Indien fürchte ich, dass sich das fortsetzen und verschlimmern wird.

Wir leben in Indien in einer Welt, in der er viel zu viele Männer gibt. Und zugleich gibt es eine Krise der Männlichkeit, die sich darin äußert, dass Unklarheit darüber herrscht, was es heißt, ein Mann zu sein. Vor allem in einer Gesellschaft, in der das Scheitern vorprogrammiert ist. Die typische männliche Reaktion auf Scheitern ist Gewalt. Die zentrale Frage für Indiens Zukunft wird lauten, wie lernt eine ganze Generation junger Männer, damit umzugehen, dass ihre Hoffnung auf ein besseres und erfüllteres Leben in den meisten Fällen vergebens sein wird.

Eine der wenigen Frauen im Roman, die Direktorin von Manjus Schule, sagt an einer Stelle, dass sie daran gescheitert sei, einen großen Mumbai-Roman zu schreiben, weil sie nicht so perfekt sei wie Homer, Salman Rushdie oder Amitav Gosh. Handelt es sich hier um ein kleines kritisches Selbstporträt?

Tatsächlich ist sie als Selbstporträt gedacht. Ich habe mal ein kleines Buch darüber geschrieben, warum es unmöglich ist, ein gutes Porträt von Mumbai zu schreiben. Die Figur war tatsächlich eine Anlehnung an meine Zweifel. Jedes Buch ist ein Kampf mit den eigenen Ängsten und Beschränkungen sowie mit der grundsätzlichen Frage, ob es Sinn macht, dieses Buch zu schreiben. Die Welt hat viel zu viele Romane, ich glaube, es erscheinen allein in englischer Sprache mehr als 50.000 Romane im Jahr. Da muss man schon sehr von sich und seinem Buch überzeugt sein, wenn einem die Frage gestellt wird, ob es den Roman, an dem man gerade sitzt, tatsächlich braucht. Und wenn ich sehe, dass große Autoren aus den Neunzigern, darunter auch einige meiner Idole, heute schon vergessen sind, dann überkommt mich Angst.

Es gibt in ihrem Roman zwei recht diametrale Positionen zum Intellektualismus. Auf der einen Seite heißt es, dass die Gedanken zwischen den Menschen stehen und für Konflikte sorgen, auf der anderen Seite wird behauptet, Indien kranke an der Abwesenheit von Reflektion. Was ist nun das Problem? Der Wettstreit der Ideenlehre oder die simple Ideenleere?

Es sind nicht meine Gedanken, die da stehen, sondern die meiner Figuren. Deshalb sind beide Aussagen richtig. Ich habe beide Positionen in meinen Roman aufgenommen, um die Beliebigkeit des indischen Meinungsaustauschs zu spiegeln. Es fehlt ein intellektueller Diskurs in Indien, aber auch das ist nur eine Seite der Medaille. Mir fällt es immer schwerer, über Politik und Gesellschaft in Indien zu sprechen, weil Gespräche immer darauf hinauslaufen, die eine Antwort geben zu müssen. Ich bevorzuge deshalb gute Filme, gelungene Gemälde oder ein gutes Buch, weil diese Kunstwerke sowohl eine These als auch die jeweilige Antithese beinhalten. Das ist mehr wert als ein rein intellektueller Austausch. Deshalb halte ich mich auch von Buchmessen fern, die Gespräche sind mir dort zu eindimensional.

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In all ihren Romanen stößt man auf Menschen, die den ehrgeizigen Versuch unternehmen, die Leiter der indischen Gesellschaft emporzusteigen. Warum fasziniert Sie der Aufstieg und Fall durch das indische Klassensystem so sehr?

Indien hatte tausende Jahre die am stärksten hierarchisierte Gesellschaft der Welt. Ein französischer Anthropologe nannte die in Kasten gezwungenen Inder einmal »Homo Hierarchicus«, weil die Menschen in Indien jahrhundertelang von der Hierarchie besessen waren. Aber diese 5000 Jahre alte Kultur fällt seit 25 Jahren in einem atemberaubenden Tempo in sich zusammen. Ich bin noch in einem vollkommen anderen Indien groß geworden als wir es heute haben. Seit ich vier Jahre alt war, wurde mir eingebläut, dass ich in der Schule herausragen muss, weil nur die Allerallerbesten aus den unteren Klassen einen Zugang zu höherer Bildung bekamen. Deshalb sind mir die jungen Cricket-Spieler auch so nah, weil so wie sie der Gedanke bestimmt, zu den Besten der Besten gehören zu müssen, hat er auch meine Kindheit geprägt. Das ist das alte Indien, strikt und festgelegt in allem, was man sich vorstellen kann. Es ist ganz ormal, dass es mich als Schriftsteller interessiert, wie es Menschen unter diesen Bedingungen gelingt, so zu leben, wie sie leben wollen. Mich interessieren, wenn Sie so wollen, vielmehr die Triebkräfte hinter der Hoffnung auf ein besseres Leben als der soziale Aufstieg.

Warum bleiben Sie dann mit all Ihren Romanen in Mumbai? Das, was Sie beschreiben, findet doch im ganzen Land statt.

In Mumbai verstärkt sich das, was ich gerade beschrieben habe. Die Hoffnung auf ein besseres Leben wird in der Stadt von einer rechtsnationalistischen Partei erstickt, die seit zwanzig Jahren die Stadt regiert. Wenn man Mumbai von außen betrachtet, dann nimmt man das nicht so wahr, weil die letzten 25 Jahre natürlich nicht spurlos an der Stadt und ihren Bewohnern vorbeigegangen sind. Wenn man aber wie ich dort lebt, dann sieht man all des, was seit Jahren nicht funktioniert. Die Infrastruktur ist kaputt, die Wirtschaft schrumpft, die Korruption steigt und der Fremdenhass nimmt von Jahr zu Jahr zu. Vor zwanzig Jahren war Mumbai eine der reichsten Städte Indiens, jetzt liegt die Stadt wirtschaftlich am Boden.

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Aravind Adiga: Golden Boy. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Verlag C.H.Beck 2016. 335 Seiten. 21,95 Euro. Hier bestellen

Das klingt überaus deprimierend. Woher nehmen die Menschen dann ihre Hoffnung auf ein besseres Leben?

Während meiner Recherchen traf ich einen wohlhabenden Mann, der sich der Lethargie, die von dieser Situation ausgeht, nicht hingeben wollte. Er ging in die Slums und bot den Familien von talentierten Cricket-Nachwuchsspielern Verträge an. Er zahlte den Familien Monat für Monat einen kleinen Betrag und verlangte im Gegenzug einen Anteil an möglichen zukünftigen Einnahmen der Söhne, sollten sie erfolgreich sein. Man kann diesen Deal abscheulich finden, zumal er illegal ist, aber er zeigt doch zumindest, dass sich da jemand gegen die festgefahrene und frustrierende Situation zur Wehr setzt und sein Glück sucht. Seine Glückssuche weckt die Hoffnung anderer, und so geht das immer weiter. Ohne diesen Mann hätte ich das Buch nicht geschrieben. Auch er taucht in »Golden Boy« auf und wie alle anderen Figuren muss auch er scheitern. Der Roman handelt letztlich mehr vom Scheitern als vom Erfolg, aber genau das wird das Thema der Zukunft in Indien sein.

»Golden Boy« ist ihr vierter Roman, der der Suche nach einem besseren Leben im Indien der Gegenwart nachgeht. Ist schreiben ohne Sozialkritik für Sie überhaupt denkbar?

Der gesellschaftliche Realismus prägt all meine Romane. Stets geht es um die Suche nach Frieden und Zufriedenheit. Das ist bis heute die spannendste Frage, weil sie damit verbunden ist, die festen Strukturen der Gesellschaft aufzulösen oder hinter sich zu lassen. Kann man in Indien wirklich frei und selbstbestimmt leben? Über diese Frage denke ich seit Jahren immer wieder nach. Die Antworten, die ich dabei gefunden habe, stehen in meinen Romanen. Jetzt bin ich mit dem Thema fertig, ich merke, dass ich neue Wege gehen möchte. Schließlich braucht es einen guten Grund, ein fünftes Buch zu schreiben.

Ist das Schreiben mit einem Man Booker Prize in der Rückhand eigentlich einfacher oder schwerer?

Es ist schwieriger. Ich meine, dass mir das Schreiben vor der Auszeichnung leichter gefallen ist als danach. Aber auch das ist nun schon einige Jahre her, so dass der Preis eigentlich keine Rolle mehr spielt. Ich fühle mich inzwischen nicht mehr so unter Druck wie noch vor vier, fünf Jahren. Das Schöne an der Zeit ist, dass die Menschen mit ihr vergessen und man immer wieder eine neue Chance bekommt, unabhängig davon, was man vor fünf oder zehn Jahren gesagt oder gewonnen hat.

Herr Adiga, vielen Dank für das Gespräch.

1 Kommentare

  1. […] weiteren Büchern ist Adiga seither dem indischen »Homo Hierarchicus« auf den Grund zu gehen. Im Interview sagte er mir vor Jahren: »Mich interessieren, wenn Sie so wollen, die Triebkräfte hinter der Hoffnung auf ein besseres […]

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