Erzählungen, Interviews & Porträts, Literatur, Zeitgeist

„Das sind schon sehr wilde Verhältnisse“

Ein Gespräch mit Kathrin Röggla über das gesellschaftliche Miteinander im Zeitalter des Postfaktischen, die Mittel der Kunst, dem etwas entgegenzusetzen, sowie darüber, wie das Unheimliche aus der Gesellschaft in ihren Erzählungsband »Nachtsendung« gekommen ist.

Frau Röggla, Donald Trump regiert demnächst in den USA, Angela Merkel strebt in Deutschland eine vierte Amtszeit an und hier in Berlin übernimmt in wenigen Wochen die erste rot-rot-grüne Koalition die Regierungsgeschäfte. Was geht in einer politischen Autorin wie Ihnen in diesen Zeiten vor?

Trump war ein Realitätsschock. Seine Wahl war nach den Präsidentschaftswahlen in Österreich und dem Brexit in Großbritannien der dritte Fall, bei dem sich in diesem Jahr die Demoskopen geirrt haben. Jetzt überschlagen sich die Medien mit Erklärungs- und Einordnungsversuchen. Dennoch ist erstaunlich, wie dreimal bestimmte Meinungsforschungsinstrumente nicht mehr funktionieren konnten und die Volatilität der Wähler unterschätzt wurde. Ich könnte nun sagen, dass das Protestwähler sind, ebenso gut aber die Ansicht vertreten, dass diese Menschen den Faschismus wollen. In dieser Fragestellung befinde ich mich aktuell. Zugegeben, all das verdeckt die rot-rot-grüne Koalitionsbildung hier in Berlin, die durchaus Anlass zur Hoffnung gibt.

Für uns Künstler stellt sich die Frage, ob wir in einem post-aufklärerischen Zeitalter angekommen sind? Und wenn ja, was heißt das und dürfen wir das akzeptieren? Ich sage natürlich ganz klar, nein, das dürfen wir nicht! In der SZ am Wochenende war ein schönes Bild, das die Erde als eine Scheibe zeigt. Sehr passend, denn wenn man im Mittleren Westen der USA unterwegs ist, dann hat man die Kreationisten und einige andere wunderliche Dinge gleich am Hals. In Österreich ist es eine andere Ausrichtung. Norbert Hofer (der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ) poltert nicht so wie Trump, speist seine Politik aber auch aus einem dezidiert rechtsextremen Umfeld. Seine Vorstellungen sind nicht nur rechtspopulistisch, sondern gehen ganz klar darüber hinaus.

Was hat die Kunst dem denn entgegenzusetzen?

Es entsteht hier eine Geisteshaltung, mit der wir einen anderen Umgang finden müssen. Wir müssen das ernster nehmen, als wir es bisher getan haben, zumindest gilt das für mich. Ich merke, dass ich von Parametern ausgegangen bin, die gar nicht mehr existieren. Ich muss mich viel stärker mit der affektive Kultur und den negativen Reaktionsmustern der Menschen auseinandersetzen. Die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy, mit der ich seit einiger Zeit einen Briefwechsel führe, empfiehlt beispielsweise, die gesellschaftliche Empathie zu stärken. Das macht mich nachdenklich, denn ich bin mit Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard groß geworden. Deren kritischer Impetus der Kunst muss auch weiter existieren, denn ein stur humanistisches Konzept hat immer zwei Seiten, es kann auch nach hinten losgehen. Dennoch bin ich sehr nachdenklich geworden über das, was mir A. L. Kennedy geschrieben hat. Zugleich ist mir etwas eingefallen, was auch helfen könnte: Komik und Witz, das hat erstaunliches Potential. Es ist ganz wichtig, auch in diese Richtung zu gehen.

JGSDF Gas mask | Taken by Los688 in Camp Omiya, Japan | Wikimedia Commons
»Immer mehr Menschen werden zu Preppern und pflegen ihre persönliche Untergangsvision.« | Los688 via Wikimedia Commons

Nicht wenige Ihrer Protagonisten in »Nachtsendung« reflektieren und durchlaufen verschiedene Katastrophenszenarien, zahlreiche Erzählungen haben eine Tendenz zum Abgründigen. Wenn die »unheimlichen Geschichten« der Schriftstellerin Kathrin Röggla so nah an der Apokalypse entlangschrammen, wie tief in der Krise ist dann die Gesellschaft, in der diese Schriftstellerin lebt?

Mein Erzählungsband zeigt einen allgemeinen Orientierungsverlust an, der typisch für das Unheimliche ist. Er zeigt aber natürlich auch, dass viele Modelle in die Krise geraten sind. Immer mehr Menschen werden zu Preppern und pflegen ihre persönliche Untergangsvision. Mich hat daran interessiert, Momente einzufangen, in denen sich Zeiten überlappen, Orte verschwinden und man sich seiner eigenen Identität nicht mehr sicher sein kann. In den Erzählungen von »Nachtsendung« ging es mir um klassische Motive des Unheimlichen wie das Doppelgängermotiv, das etwa bei Mittelalterspielen auch heute zu finden ist und für den Orientierungsverlust steht. Beim Schreiben hat mich erstaunt, wie lange es diese Motive schon gibt und wie stark sie mit der Ausbildung des Bürgertums verbunden sind. Es ist nicht zufällig, dass es im Buch zentral um den heute etwas vage definierten Mittelstand geht. Er ist stark unter Druck geraten. Das Bürgertum hat eine lange Geschichte und ist nun, so scheint es, an einem Endpunkt angelangt.

Eigenschaften und Atmosphären beschreiben Sie immer wieder mit dem Zusatz der -haftigkeit. Da ist von »Marriott-Hotel-Haftigkeit« die Rede, von »Seminarraumhaftigkeit« und so weiter. Wie würden Sie denn die aktuelle Deutschland-Haftigkeit umreißen?

Ich würde den Begriff ja eher umgehen, weil er mir politisch konstruiert scheint, geprägt von Merkels Raute und ihrem »Wir schaffen das!«, aber auch von Schröders Deutschland-AG. Dazu kommt auch die Geschichte in all ihren Höhepunkten und Abgründen. In der Summe macht mir das eine Deutschland-Haftigkeit unbehaglich. Die wenn man so will treffendste Beschreibung der aktuellen Deutschland-Haftigkeit habe ich von Flüchtlingen aus Nordafrika gehört, die Deutschland als Sieger der Finanzkrise beschrieben haben. Das kann ich nachvollziehen, schließlich ist Deutschland das einzige Land in Europa, wo es den Menschen im weitesten Sinne noch gut geht, wenngleich die Schere zwischen Arm und Reich auch hierzulande auseinander geht.

Sie schreiben für das Theater und Prosa, sind Mitglied in der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache, nehmen universitäre Berufungen wahr, machen sich für den Nachwuchs stark und sind, ganz nebenbei, noch Vize-Präsidentin der Akademie der Künste. Wie bekommen Sie das alles nebst Familienleben unter einen Hut?

Es entspricht meiner Art zu arbeiten. Ich bin keine Schriftstellerin, die vorrangig im stillen Kämmerlein über ihren Texten brütet. Das muss ich mitunter auch machen, aber ich brauche vor allem die Auseinandersetzung, den Dialog. Ich schreibe meist auf der Basis von Interviews und Gesprächen und profitiere daher viel von der Arbeit an der Akademie der Künste. Ich bekomme durch die Begegnungen dort einfach viel mit. Das Interdisziplinäre an der Akademie entspricht mir extrem. Ich glaube auch, dass ich daraus etwas gewinnen kann, in andere Medien hineingehen, sehen, wie es da läuft. Das ist einfach meine Arbeitsform. Aber ich mache eben auch nichts perfekt, sondern praktiziere den Mut zur Lücke.

Wie ist Ihr aktueller Erzählungsband entstanden?

»Nachtsendung« ist nach zwölf Jahren intensivster Recherche, vor allem für das Theater, entstanden. Es ging dabei um Dolmetscher, politische Konferenzen und das Leben des internationalen Personals. Vieles von dem, was ich gesammelt habe, stand für sich. Ich wollte das aber verbinden, eine Art Kartografie erstellen. Das war die Grundidee des Buches. Ich dachte erst, es wird eher dystopisch werden, bis ich gemerkt habe, dass mir das zu abgeschlossen ist. Ich wollte ein offenes System haben und bin auf das Motiv des Unheimlichen gestoßen. So ist es dann zu den »Unheimlichen Erzählungen« gekommen, die im Untertitel stehen.

Haben Sie zwölf Jahre lang gesammelt und dann am Stück geschrieben? Oder entstehen bei Ihnen die Texte im Laufe des Prozesses? Angesichts der Kürze der Erzählungen könnte man meinen, Sie hätten wenig Zeit zum Schreiben und daher schnell geschrieben.

Das täuscht. Viele Texte sind extrem verdichtet, entsprechend lang habe ich an ihnen gearbeitet. Grundsätzlich arbeite ich nicht mit einem jahrelangen Rechercheblock. Vielmehr ist mein literarisches Schaffen ein ständiges Hin und Her, ein Pingpong zwischen Recherche und Schreiben. »Nachtsendung« fußt auf anderen Texten und Stücken, die innerhalb von vier, fünf Jahren entstanden sind und sehr ruhig entwickelt wurden.

Die thematische Fülle ihrer Erzählungen ist erschlagend. Es geht um Arbeit und Wohnen, Krankheit und Erziehung, Armut und Reichtum, Gegenwart und Geschichte, mediale Zerstreuung und »Sex in Tüten«. Sie handeln von Fluchtkapital, Minority-Report-Autos und der Abkehr vom Scheinhumanismus. Die Handlungsorte reichen dabei von Marokko bis Neukölln. Nichts steht hier für sich, alles hängt miteinander zusammen. Wenn man so will, ist die Erzählungssammlung »Nachtsendung« ein Abbild der Komplexität der Moderne, in der sich auch immer wieder die Systemfrage stellt. Ist es möglich, ein richtiges Leben im falschen System zu führen?

Nein, natürlich nicht. Es gibt Versuche, die alle mehr oder weniger schlecht funktionieren, aber mehr als Versuche sind es eben nicht. Ich merke das an meinem eigenen Dasein als Schriftstellerin, wie sich das Berufsbild unter dem Eindruck des Neoliberalismus verändert hat. Gerade ich bin da kein gutes Beispiel für das richtige Leben im falschen System. Als freier Journalist werden Sie damit ja auch Ihre Schwierigkeiten haben.

Ja natürlich, man ist dem ausgesetzt und muss einen Umgang damit finden. Welchen Weg haben Sie dabei für sich gefunden?

Es ist halt ein ständiger Kompromiss. Ich baue selbst immer eine Art Gegenstromanlage ein, etwa indem ich meine Bücher nicht schnell herunterschreibe. Es gibt viele Dinge in meiner Arbeit, die überhaupt nicht der wirtschaftsliberalen Effizienz entsprechen. Und solange die noch da sind und ich das Gefühl habe, ich lerne da etwas, dann ist das für mich okay. Es gibt Grenzsituationen, wenn thematische Cluster entstehen. Aber in meiner schriftstellerischen Arbeit arbeite ich so vielseitig und unökonomisch, dass es fast schon utopisch ist. Aber all das, was sich darum herum sortiert – die Panels, das Unterrichten –, das ist schon sehr angekränkelt von der neoliberalen Logik. Ich bin aber auf dieses Drumherum angewiesen, denn ich bin keine Bestsellerautorin und kann mich nicht einfach zurücklehnen. Aber dass ich damit derart konfrontiert bin, finde ich schon wieder interessant. Ich habe meinen Kollegen Ulrich Peltzer noch im Ohr, der im Roman die widerständigste Form sieht und fordert, diesen Widerstand gegen das System zu stärken. Ich stimme dem zu, aber im Wissen, dass es an den Rändern Kompromisse gibt.

»Mich hat interessiert, Momente einzufangen, in denen sich Zeiten überlappen, Orte verschwinden und man sich seiner eigenen Identität nicht mehr sicher sein kann« | Ralf Hüls, Sascha Rathjen via Wikimedia Commons  (CC BY-SA 4.0)
»Mich hat interessiert, Momente einzufangen, in denen sich Zeiten überlappen, Orte verschwinden und man sich seiner eigenen Identität nicht mehr sicher sein kann« | Ralf Hüls, Sascha Rathjen via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Das heißt, Sie schreiben gerade an einem neuen Roman?

Ja, aber ich befinde mich noch in der frühen Phase. Davon unabhängig leistet aber nicht nur der Roman Widerstand. Es geht mir um die Arbeit, die etwas Widerständiges haben muss, um die Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ordnung und die unökonomischen Formen des Schriftstellerdaseins. Die wenigsten schreiben ein Buch nach dem anderen, von Juli Zeh oder Dietmar Dath mal abgesehen.

In den USA würden ihre Erzählungen mutmaßlich in unzähligen Zeitungen und Magazinen gedruckt, in Deutschland interessiert man sich herzlich wenig für die große Kunst der Short Story. Was läuft hier falsch? Braucht es einen gesonderten Preis dafür?

Ich weiß nicht, ich kann das schwer greifen. Und vielleicht würde ein Preis helfen. Wer weiß? Ich habe mal an einer Kulturkarawane in den Iran teilgenommen und in Isfahan sollten wir die Gesellschaft der Kurzprosaautoren treffen. Wir haben uns da alle ein wenig höhnisch ins Fäustchen gelacht. Aber dann kamen wir in eine Wohnung, wo 80 Autoren auf uns warteten. So etwas gibt es hierzulande tatsächlich nicht, der Roman ist und bleibt die Königsdisziplin. Bitter ist, was im Buchhandel und bei den Verlagen aktuell passiert. Überall besteht der Zwang, den großen Roman zu schreiben, am besten einen sehr voluminösen Roman. Da findet eine Art extreme Mainstreamisierung statt.

Welche Folgen hat das?

Die Verkäufe gehen insgesamt nach unten, also setzen die Verlage auf den einen Titel, der es dann richten soll. Bei einem großen Programm sind es vielleicht zwei Titel, aber das war es dann auch. Die anderen? Naja… Der Deutsche Buchpreis hat zudem vieles versaut, zumindest was mein Buch betrifft. Ich hatte vor der Messe eine ganz gute Resonanz, dann fokussierte sich alles auf den Deutschen Buchpreis und nach der Verleihung nur noch auf den Siegertitel. Durch solche Mechanismen verlieren wir am Ende alle.

Diese Aufmerksamkeitssteuerung nehmen im Wesentlichen die Medien vor. Ich stelle fest, dass nicht nur die anlassbezogene Kritik zunimmt, sondern dass Bücher auch oft zum gleichen Zeitpunkt, in der gleichen Wochenendausgabe der verschiedenen Medien, besprochen werden. Als gäbe es ein Rezensionskartell, in dem Kritiken abgesprochen werden.

Ich nehme das ähnlich wahr. Die anlassbezogene Kritik wird immer präsenter. Ich hatte in Berliner Zeitungen gleich zwei Home-Stories, in deren Rahmen »Nachtsendung« mit erwähnt wurde. Das finde ich schon seltsam, als müsste man etwas um ein Buch herum inszenieren.

In der Geschichte »Absolutionsgeschehen« holen sich Menschen bei einem Kneipenstammgast die Absolution dafür ab, Mieter wegen »Eigenbedarf« aus ihren Wohnungen zu klagen oder unliebsame Kitaerzieherinnen im Elternladen zu entlassen. Will tatsächlich keiner mehr ein Arschloch sein? Mein Eindruck ist eher, dass sich im Zeitalter des Individualismus jeder seine persönliche Arschlochrolle vorbehält.

Es gibt gerade hier in der Nachbarschaft Menschen, die das Gute wollen und dann doch nicht so ganz können. Sie suchen dann Mittel und Wege, das zu decken. Mir ging es darum, die Bigotterie in dem Milieu, das mich umgibt, zu entlarven. Hier leben viele Künstler, die mitunter alternativen Lebensentwürfen nachgehen, aber dennoch keine besseren Menschen sind. Das wollte ich zeigen.

Bot die sogenannte Flüchtlingskrise gesellschaftlich die perfekte Gelegenheit zur Absolution für ein Leben auf Kosten der anderen?

Ja, das hat sicher mitgespielt. Ich empfinde Unbehagen dabei, Menschen, die geholfen haben, unlautere Motive nachzusagen oder schlechtzureden. Ich hatte in der Akademie auch ein Panel mit Vertretern von Organisationen, die Flüchtlingen geholfen haben. Da tauchte genau das auf, was den Demokraten in den USA gerade vorgeworfen wird: es gibt einen klaren Fokus auf Rassismus und Genderperspektiven, die soziale Frage aber bleibt völlig außen vor. Das ist aber eben die andere Seite, die mitgedacht werden muss. Hier an der Rütli-Schule gibt es Kinder, die haben nicht einmal einen Bleistift dabei. 70 Prozent der Schüler kommen aus Haushalten von Transferempfängern. Die sind abgehängt, sich um sie zu kümmern ist nicht sexy. Es zu unterlassen ist jedoch absolut falsch. Das muss man aber zudem politisch einfordern, alleine als Helferorganisation wird man nur ein Stück weit kommen.

In Ihrem Buch taucht mehrmals der Radiojournalist Peter Wols auf, der der Erzählung »Der Wiedereintritt der Geschichte« den Gedanken vorausschickt, es sei »einfach zu laut«. Das hat mich unweigerlich an den politischen Ton denken lassen, der auch hierzulande um sich greift. Welche Bilder werden in diesem lauten, polternden Diskurs reproduziert?

Die Verschränkung, dass es nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um Sichtbarkeit geht, weckt bei mir die Assoziation einer narzisstischen Störung. Es sind Gesprächstechniken hoffähig geworden, die nur das Ziel haben, Menschen zu manipulieren und Interessen durchzusetzen, die nicht mehr an sachliche Argumente gebunden sind. Das sind schon sehr wilde Verhältnisse.

»Es gibt einen klaren Fokus auf Rassismus und Genderperspektiven, die soziale Frage aber bleibt völlig außen vor. Das ist aber eben die andere Seite, die mitgedacht werden muss.« | Bernd Schwabe via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
»Es gibt einen klaren Fokus auf Rassismus und Genderperspektiven, die soziale Frage aber bleibt völlig außen vor. Das ist aber eben die andere Seite, die mitgedacht werden muss.« | Bernd Schwabe via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Ich kenne aufgrund meiner verschiedenen Funktionen den administrativen Unterbau ein wenig und weiß daher, dass man irgendwann zu den Argumenten zurückkehren muss. Wenn das nicht geschieht, wird das System dysfunktional. Man sieht das in kleptokratischen Ländern, wo die Leute noch ärmer werden und ethisch-moralische Normen ins Rutschen geraten. Da wird dem Nachbarn dann schon mal der Hammer über den Kopf gezogen. Nun kann man meinen, wir wären von solchen Verhältnissen weit entfernt. Aber es reicht schon der Blick nach England, wo solche Verhältnisse schon herrschen, wie mir A. L. Kennedy schreibt. Morddrohungen sind dort an der Tagesordnung und der Mord an der Politikerin Jo Cox hat gezeigt, dass es die Hemmschwelle, davor zurückzuschrecken, nicht mehr gibt.

Braucht der Mensch solche Krisen, um sich seiner Existenz bewusst zu werden?

Sicher haben Krisen auch eine produktive Seite. Wahrscheinlich würde ein alternativer Kinderarzt sagen, dass wir Krankheitskrisen brauchen, um das Immunsystem zu stärken. Ich denke allerdings nicht, dass man das auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen sollte. Zumal es zu einer Erzählung führt, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Denn Krisen zeigen doch eher Verluste an. Nichts desto trotz ist zu hoffen, dass durch die extreme Veränderung, die wir erleben – das Umdefinieren von Europa und der ganzen Welt durch den Rechtspopulismus –, positive Gegenkräfte entstehen. Es ist viel vorhanden, die einen treten in Die Linke ein, die anderen gründen Initiativen. Vielleicht eignet sich die Krise als Mittel zur Re-Politisierung der Gesellschaft.

An der Akademie der Künste läuft aktuell das Programm »Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen«. Was können wir von dort für solche Ausnahmezustände lernen?

Beispielsweise, dass es auch andere, visionäre Ideen gibt. Der Ökonom und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus hat vor kurzem eine Rede gehalten, in der er seine Wirtschaftsprogramme in Bangladesch noch einmal vorgestellt hat. Rita Süssmuth sprach darüber, ob die deutsche Zuwanderungspolitik hilfreich für ein besseres Miteinander ist oder eher nicht. In der Reihe »Affective Societies« werden künstlerische und wissenschaftliche Positionen gegen die erstarkenden rechtspopulistischen Kräfte in Europa vorgestellt. Denn die gibt es, das darf man nicht vergessen.

Was kann die Kunst den rechtspopulistischen Kräften entgegenhalten?

Neben der Empathie, die A. L. Kennedy einfordert ist es auch unsere Aufgabe, andere Modelle zu entwerfen, die wir den Ausnahmezuständen entgegensetzen können. Wir können es uns nicht erlauben, uns in einer »Ihr seid alle ätzend«-Haltung einzurichten. Dazu gab es auch ein Panel, das ich geleitet habe. Dabei hat mich insbesondere das Modell der weißrussischen Schriftstellerin Marina Naprushkina, die die »Neue Nachbarschaft Moabit« aufgebaut hat, überzeugt.

Wie begegnen Sie persönlich der zunehmenden Aggressivität im gesellschaftlichen Miteinander, den Angriffen und Attacken im Internet und den sozialen Netzwerken?

Ich bin vor allem mit dem verhaltenen Ton von Journalisten konfrontiert. Wenn ich zum Rechtspopulismus der AfD oder der FPÖ gefragt werde, bin ich immer verwundert, wie verhalten da die Fragen ausfallen. Ich denke mir dann immer, das sind Rassisten, was soll man denn da herumdiskutieren. Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, dass wir erst einmal wieder die Grundlagen erklären und etablieren müssen. Das liegt mir nicht, ich finde das mühsam und unheimlich. Wenn sich mein Gegenüber nicht zu sagen traut, dass Menschen, die gegen Ausländer Stimmung machen, Rassisten sind, dann ist das unheimlich. Ich hatte gestern ein Gespräch mit dem ORF und ich musste vorher recherchieren, ob ich Norbert Hofer einen Nazi nennen darf oder nicht. Ein SPÖ’ler hatte das getan und bekam in erster Instanz Recht zugesprochen, in zweiter aber nicht. Das ist sehr eigenartig, denn Hofer trägt schließlich die Kornblume, das Symbol der Illegalen Nazis. Er ist Mitglied dieser einschlägigen Burschenschaft Marko-Germania. Er hat Sachen geschrieben, die rechtsradikales Gedankengut vertreten, aber ich darf ihn nicht so nennen, weil es justiziabel wäre. In Österreich hat sich mittlerweile allerdings eine derart gereizte Kommunikationsstimmung etabliert, dass es tatsächlich nichts mehr taugen würde, das zu tun. Es führt nur zur Abwehr.

Führt das zu einer falschen Political Correctness?

Political Correctness ist ein sehr interessanter Punkt, weil der Begriff gerade in Österreich stark von rechts usurpiert wurde. Die Bewegung der Identitären hat ihn für sich reklamiert und propagiert, dass die Täter von damals die Verletzten von heute sind. Das finde ich absolut widerlich. Literarisch kann ich da aber gut agieren, denn diese grauslichen Verdrehungen sind genau mein Feld.

Wird es darum auch in Ihrem neuen Roman gehen?

Ja, irgendwie schon. Ich beginne mit der Frage der Konsequenzlosigkeit. Wie kann man übersehen, jemanden umgebracht zu haben, und wie kann die Gesellschaft das übersehen? Das ist eine ganz zentrale Frage, die mich stark umtreibt. Ich werde sehen, wo das hinführt. Die Tatsache aber, dass das Maß verloren geht, greift wieder stark um sich. Es wird immer öfter mit zweierlei Maß gemessen.

In einer Geschichte werden Vorräte für den Plan B angelegt.

Pure Autobiografie (lacht).

Haben Sie denn einen Plan B, was die Gegenwart betrifft?

Eigentlich nicht. Noch glaube ich, dass man auch sehr viel in unserer bestehenden Gesellschaft ändern kann. Vor einem Plan B muss erst einmal ein Plan A her.

»Ökonomie hat auch etwas mit privaten Gefühlen zu tun, das sollten wir nicht vergessen.«
»Ökonomie hat auch etwas mit privaten Gefühlen zu tun, das sollten wir nicht vergessen.«

Als Kunst- und Kulturschaffende denken Sie in Ihren Texten immer wieder über die gesellschaftlichen Dimensionen Wirtschaft und Politik nach? »The world is flat« ist nicht nur Thomas L. Friedmans Globalisierungsbibel, sondern auch der Titel einer ihrer Geschichten. Warum ist das Nachdenken über diese Größen eine zentrale Aufgabe von Künstlern?

Wir sind doch alle total davon erfasst. Ich selbst organisiere mich darin und entfliehe den wirtschaftlichen Zwängen nur ab und an beim Schreiben. Ich führe immer wieder den Tanz des Neoliberalismus auf, mit der Selbstvermarktung, mit dem unternehmerischen Selbst, mit dem Alleinstellungsmerkmal des Künstlers. Ich bin immer überrascht, wenn ich gefragt werde, warum ich über so »abseitige Themen« wie Arbeit oder politische Ökonomie schreibe. Dabei definieren sich doch alle über ihre Arbeit. Mir kann keiner sagen, dass das abseitig ist.

Aber es scheint schon so, dass die Literatur mit ihrem Hang ins Explorative die Idee des Rückzugs ins Private sehr stark repräsentiert. Der Gedanke, die Literatur sei der Ort des Verhandelns von privaten Gefühlen, ist einfach zu stark verinnerlicht. Aber Ökonomie hat auch etwas mit privaten Gefühlen zu tun, das sollten wir nicht vergessen.

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Kathrin Röggla: Nachtsendung. Unheimliche Geschichten. S. Fischer Verlag 2016. 288 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

Sie führen gemeinsam mit Jeanine Meerapfel die Akademie der Künste? Wie arbeiten Sie miteinander?

Mit dem, wie wir arbeiten und was wir machen, bringen wir sehr unterschiedliche Perspektiven zusammen. Wir verstehen uns sehr gut und können gut miteinander sprechen. Wir führen die AdK aber nicht allein. Wichtig ist auch Johannes Odenthal als Programmbeauftragter und Werner Heegewaldt vom Archiv, die zum Wirken der Akademie beitragen. Das Verhältnis zwischen Jeanine Meerapfel und mir ist sehr freundschaftlich, ich kann sehr viel von ihr lernen. Wie sie das macht und mit welcher Ruhe und Klarheit sie das Amt ausfüllt, ist beeindruckend.

Stärkt es ihr gutes Verhältnis, dass Sie beide Frauen sind?

Mit Sicherheit, denn wir kennen beide viele Probleme, die Frauen in der Öffentlichkeit haben und mit denen sie umzugehen versuchen. Frauen werden immer noch oft übersehen. Jeanine Meerapfel würde als klassische Linke wohl sagen, dass es um gleichen Lohn für gleiche Arbeit geht, während ich mich stärker für die ganzen Genderfragen einsetze, wenngleich ich mich auch links einordne.

„Es wird ein heller Tag“ lautet einer der letzten Sätze in Ihrem Buch. Was gibt Ihnen gegenwärtig Hoffnung?

Im letzten Jahr war für mich noch einmal wichtig, mich mit alternativen Lösungsmodellen auseinanderzusetzen. Wir hatten auch eine Konferenz zu »Gedächtnis und Gerechtigkeit« mit Wolfgang Kaleck, bei der ich ihn gefragt habe, was ihn bei seiner Arbeit antreibt. Er sagte mir, dass er oft sehr inspirierende Menschen trifft, die ihn immer wieder neu motivieren. Solche Erzählungen geben mir Mut, daran versuche ich mich zu orientieren. Menschen, die bereit sind, sich politisch zu organisieren für eine offene Gesellschaft, die darüber nachdenken, wie man miteinander umgeht und Dinge ändert, auch wenn es nur Kleinigkeiten und Gesten sind, geben mir Anlass zur Hoffnung.

Frau Röggla, vielen Dank für das Gespräch.

Eine Kurzfassung des Interviews erschien im tip Berlin 25/2016

1 Kommentare

  1. […] von Meinungsfreiheit und Zensur sowie von Humanismus und ökonomischem Pragmatismus aufscheinen. Die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla erkennt im Krieg nicht den vielfach heraufbeschworenen Einbruch des Realen ins Leben, sondern […]

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