Thomas Melle hat »Die Welt im Rücken«, Antonia Baum setzt nimmt »Tony Soprano« auf die Stoßstange und Dmitrij Kapitelman geht in seinem ausgezeichneten Debütroman dem »Lächeln meines unsichtbaren Vaters« auf den Grund.
»Die Welt im Rücken« von Thomas Melle
Irgendwann in dieser zwischen Selbstentblößung und Selbstbefreiung changierenden Prosa übernimmt die Ausweglosigkeit, die Thomas Melle seit Jahren empfindet, den Erzählrhythmus. Die Realität des erfolgreichen Autors und Übersetzers, der sich als eine »Gestalt aus Gerüchten und Geschichten« sieht und in diesem Buch dagegen anschreibt, verschiebt sich erneut ins Zentrum der »monumentalen Verzerrung« der Welt. »Jedes Du konnte Ich sein, also wurde ich stets umworben, angegriffen, verachtet oder geliebt«, schreibt Melle, ein freier Radikaler.
Er sieht sich in London neben Curt Cobain sein Bier trinken und erblickt den jungen Pablo Picasso inmitten der tanzenden Menge im Berghain. Dass er kurz darauf in Bukowski-Manier und unter dem Decknamen seines Alter Egos Jean-Christophe von Toulouse-Wichsgockel – ein der Lyrik verfallener isländischer Physiker, der in Berlin zu Besuch ist und Dadaistisches in einer Fantasiesprache bloggt – eine Rainald-Goetz-Lesung stört, wundert da nicht.
Wolf-Haas-mäßig passiert im Leben dieses Ich-Erzählers immer wieder noch etwas, bis er eines Tages ein richterliches Schreiben auf seinem Tisch findet, in dem ihm mitgeteilt wird, dass man ihm einen Betreuer »auf den Hals hetzen« müsse. Melle wirft dieses Schreiben in die Papiertonne im Hof, holt es wieder heraus, zündet es an, wirft es zurück und sieht, wie die Flammen um sich greifen. Gemeinsam mit einem Nachbarn versucht er, das Schreiben wieder herauszuholen. Doch beim Löschen der Flammen gelingt nur mäßig und das glimmende Schreiben frisst sich durch die Tonne, bis eine schwarze Rauchsäule über Kreuzberg steht. »Ich dachte an die Papstwahl, habemus papam, und ging hoch in meine Wohnung«.
Doch zunehmend kippt die Manie in die Depression, der Verwahrlosung, Selbstzerstörung und Psychiatrie folgen und der Zyklus aus Höhenflug und Zusammenbruch irgendwann wieder von vorn beginnt. Sprachlich beeindruckend weiten diese schonungslosen, sich um das Selbst drehenden Innenansichten eines Manisch-Depressiven den Blick auf dessen Gefangenschaft in dem unaufhaltsamen Kreislauf aus Weltenbildung und Weltenvernichtung. Man lacht hier immer wieder über die Witze eines Verzweifelten, der um seine eigene Verzweiflung nicht wusste. Die Welt im Rücken ist kein Roman, weshalb die Nominierung des Buches für den Deutschen Buchpreis aus formalen Gründen nicht nachvollziehbar ist. Es ist aber auch kein typisches Sachbuch, sondern das Porträt einer Krankheit, die keine Empathie hervorruft. Melle aber will keinen Ablass, sondern einfach nur »eine gewisse Flexibilität in der Perspektive auf den Erkrankten«. Mit diesem Buch hat er seinen Teil für einen solchen Perspektivwechsel beigetragen.
»Tony Soprano stirbt nicht« & »Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren« von Antonia Baum
Erwachsene haben in ihrer Kindheit vor allem mit Abwesenheit geglänzt, aber dass sich der risikoverliebte Theodor zum 25. Geburtstag seiner Zwillinge Clint und Romy gar nicht meldet, ist beunruhigend. Deshalb setzen sich die Geschwister mit ihrem älteren Bruder Johnny volltrunken und drogenberauscht in dessen Porsche, um den gemeinsamen Vater zu suchen. Das kann natürlich nicht gutgehen, aber »fick alle, die das nicht verstehen«.
Das Warten auf Theodor bildet den Rahmen für Romys Erinnerungen an die berauschte Kindheit der drei Halbwaisen zwischen Spielhölle, Jugendamt und Drogensumpf. Nach ihrem vielgelobten Debüt Vollkommen leblos, bestenfalls tot erzählt Antonia Baum in Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren von der Schicksalsgemeinschaft dreier Geschwister und der aufreibend-verzweifelten Liebe zu ihrem anarchistischen Vater. Diese Geschichte begeistert nicht nur Leser, sondern inzwischen auch das Theaterpublikum.
Kurz bevor der Roman Anfang letzten Jahres erscheinen sollte, erlebte Baum ihre persönliche »super-realistische Verarschungsparty mit mir als taumelnder Gastgeberin«, wie sie in Tony Soprano stirbt nicht schreibt. Denn als der Roman um die um ihren Vater bangenden Geschwister erscheinen sollte, verunglückte ihr Vater schwer. Die Fiktion brach in ihre Wirklichkeit ein und brachte ihre Welt zum Einsturz. Und so wie wir versuchen, all dem, was uns passiert, einen Sinn zu geben, versucht auch Baum einen solchen in den Geschehnissen zu erkennen.
Doch als sie im Krankenhaus ankommt, beginnt sie zu begreifen, worin der Unterschied zwischen einem Roman und der Wirklichkeit besteht. »In einer Geschichte hat alles Sinn«, schildert sie ihre Gedanken in ihrem Buch, in der Wirklichkeit jedoch nicht. Entsprechend setzt sie sich eine Parallelwirklichkeit aus den Versatzstücken der Informationen zusammen, die sie Stück für Stück erhält, um die Unerträglichkeit der Gegenwart erträglicher zu machen. Es sind Varianten einer Vater-Tochter-Beziehung, in der die Vaterfigur immer wieder scheitert, um deren Verlust weniger schlimm erscheinen zu lassen.
Wie man mit Verlustangst und innerer Verlorenheit produktiv umgehen kann, beweist dieses Angstbewältigungsbuch, das sich dem Tabu des eigenen Leids einfühlsam nähert, um einen Umgang damit zu ermöglichen.
»Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters« von Dmitrij Kapitelman
Der ungläubige Spross einer Rabbinerdynastie Leonid Kapitelman kam Anfang der neunziger Jahre mit Frau und Sohn aus Kiew nach Leipzig. Die jüdischen Kontingentflüchtlinge fanden in einem der Plattenbauviertel eine Wohnung, direkt nebenan wohnte der tätowierte Plattennazi, ein äußerst unangenehmer Nachbar. Dann eröffnete Leonid einen Russische-Spezialitäten-Laden, der aber eher schlecht als recht läuft. Aber er will sich nicht beklagen.
Als Leipzigs Pegida-Ableger bei seinem wöchentlichen Dumpfbackenpogo eine ganze Straße in einem linken Szeneviertel zerlegt, fragt sich Leonids Sohn Dmitrij, was die jüdische Identität seines Vaters eigentlich bedeutet. Eine Frage existenzieller Bedeutung – nicht nur aufgrund der wachsenden rechtsextremen Gewalt. Um eine Antwort zu finden, reist er mit ihm ins heilige Land.
Zwischen Quick-Bar-Mitzwa und sexuellen Nahosteskapaden lernen sie sich neu kennen. Von dieser Reise durch die »Judkraine« und die angrenzenden palästinensischen Gebiete erzählt der Wahlberliner Journalist und Musiker Dmitrij Kapitelman ebenso klug wie witzig. Eingebettet in diese berührende Vater-Sohn-Geschichte ist die kritische Reflektion der gegenwärtigen Verhältnisse im Nahen Osten mit gelegentlichen Gedankensprüngen in ein Deutschland, das sich, konfrontiert mit den Schutzsuchenden dieser Welt, ebenso zerrissen zeigt wie die nahöstliche Gesellschaft.
Ein Erzähler, zwei Länder und viele Identitäten – all das verbindet Kapitelman zu einem Nachdenken über sich selbst und die ihn umgebenden Gesellschaften, die von Hoffnung, Angst und Vorurteilen zerrissen sind. Nicht zuletzt ist dieses literarische Debüt, das als bester Erstling des Jahres mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnet wurde, eine der schönsten Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater.