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»Seit dem Anschlag ist die Gegenwart obszön und lächerlich«

Heute auf den Tag genau jährt sich der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Die Karikaturistin Catherine Meurisse verlor nach den Ereignissen im Januar 2015 den Boden unter den Füßen. Wie sie zurück ins Leben fand, erzählt sie in ihrem Comicalbum »Die Leichtigkeit«. Wir sprachen mit ihr über das dunkle Jahr 2015, ihren stillen Abschied von dem französischen Satiremagazin und ihre Hoffnungen in die Kunst.

Die weltweite Solidarität nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo war gigantisch. Das zuvor umstrittene Satiremagazin wurde unter dem Schlagwort »Je suis Charlie« zum globalen Aushängeschild der Meinungsfreiheit. Wer waren Sie, als alle Welt Charlie war?

Diese Frage habe ich mir im letzten Jahr oft gestellt und ich weiß nicht, ob ich eine klare Antwort gefunden habe. Mit meinem Comic »Die Leichtigkeit« versuche ich es zumindest. Ein Teil der Antwort ist, dass mich die politische Bedeutung des Massakers, national wie international, damals überhaupt nicht berührt hat. All die Reaktionen und Solidaritätsbekundungen sind mehr oder weniger an mir vorbeigegangen. All meine Aufmerksamkeit galt den Ermordeten und Verletzten sowie meinen Freunden und Verwandten, die sich um mich sorgten. Ich war außerdem viel zu sehr mit meinem Schmerz beschäftigt und dachte viel darüber nach, was der Anschlag für mich bedeutet, was er mit meinen Zeichnungen macht und ob ich jemals wieder zeichnen können würde. Die Frage »Wer bin ich?« war deshalb nie mit der riesigen Welle der Solidarität verbunden.

Haben Sie eine Antwort auf die Frage gefunden?

Ich habe die Antwort beim Zeichnen gefunden. »Die Leichtigkeit« ist das Resultat der Suche einer Antwort auf die Frage. Mit dem Album habe ich mich auf den Weg gemacht, um mich selbst wiederzufinden. Schon auf dem Titelbild sieht man, wie ich eine Düne erklimme. Als ich das gezeichnet habe, wusste ich noch nicht, wohin dieser Weg hinter der Düne führt, aber ich war zumindest in Bewegung. Jetzt erst weiß ich, dass dieser Weg durch das Album führt. Mein Alter Ego läuft darin immer weiter, man findet keine einzige Seite, auf der die Figur nicht in Bewegung ist. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich so zu zeichnen, denn Bewegung hieß für mich am Leben zu sein. Ich wollte sehen und fühlen, dass ich am Leben war – wenigstens auf dem Papier.

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Der Comic hat mir die Möglichkeit gegeben, mich der Frage »Wer bin ich?« zu stellen. Die Antwort lautet: Ich bin eine Frau! Ich bin eine Zeichnerin! Ich werde weder den Stift noch meinen Humor zur Seite legen! Ich werde weiterzeichnen und andere Bücher veröffentlichen, in denen ich weitere Antworten auf diese Frage finden kann. Denn diese Frage ist eine universelle. Wer auf der Erde lebt, muss sich ihr stellen. Wir Künstler und Zeichner sind dabei besonders gefordert, Antworten zu finden.

Was war für Sie in den Wochen nach dem Attentat am schwierigsten?

Alles war schwierig, wirklich alles. Leben, denken, essen, lachen, weinen, … einfach alles. Ich lag vollkommen am Boden, wie nach einer Explosion. War wie aufgebrochen, vollkommen neben der Spur. Ich wusste nicht mehr, wie man aus Wörtern Sätze formt. Am Ende meiner Sätze hatte ich schon vergessen, was ich am Anfang gesagt habe. Ich verlor mein Gedächtnis, konnte nicht mehr sehen, was sich neben mir befand, und nahm die Welt um mich herum nicht wirklich war. Nicht einmal meine Freunde, obwohl die sich in den Tagen, Wochen und Monaten nach dem Anschlag intensiv um mich kümmerten. Es kam oft vor, dass ich mich in den Armen von geliebten Menschen extrem einsam fühlte. Ich glaube, dass wir Überlebenden von Charlie Hebdo diese schmerzhafte Einsamkeit teilen. Sie lässt einen nicht mehr spüren, wer man ist und was genau passiert ist. Der 7. Januar wird für uns Hinterbliebene immer unverständlich bleiben.

Sie haben an der Ausgabe der Überlebenden, die eine Woche nach dem Anschlag erschien, mitgewirkt. Wie ist es Ihnen und den anderen Redaktionsmitgliedern gelungen, die Freude an der Absurdität und die Lust an der Provokation so schnell wiederzufinden?

Die Situation in der Redaktion kann ich nur schwer beschreiben. Wir waren alle am Boden zerstört, voller Verzweiflung und Trauer, aber sobald wir an unsere ermordeten Freunde und ihre Zeichnungen dachten, mussten wir lachen. Wir wechselten ständig zwischen Zusammenbruch und Lachanfall. Dieses emotionale Auf und Ab machte uns bewusst, dass unsere Freunde durch ihre Zeichnungen ein stückweit lebendig bleiben würden. Das hat uns die Kraft gegeben, diese Ausgabe zu machen. Die Zeichnung, die ich für die Ausgabe gemacht habe, war eine Zeichnung des Überlebens, ein Reflex. Ich wollte damit zeigen, dass ich nicht unter den Ermordeten war.

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Was hat das Trauma der Gewalt bei Ihnen angerichtet?

Ich hatte enorme Angst, durch die Ereignisse das Zeichnen zu verlieren. Ich litt an Amnesie, hatte meine Erinnerungen und meine Vorstellungskraft vollkommen verloren. Ich konnte von einer Sekunde auf die andere nicht mehr auf mein kulturelles Wissen zurückgreifen, auf dem jede Zeichnung basiert. Sowohl die politische Karikatur als auch der Comic waren für mich im ersten Moment unrettbar verloren, gestorben mit meinen ermordeten Freunden. Das Zeichnen nach dem Massaker war eine Qual, die Zeichnung für die Überlebenden-Ausgabe habe ich mir abgerungen. Nichts war mehr übrig von dem, was mir das Zeichnen zuvor bedeutete. Meine Bilder waren grau, hemdsärmelig und müde, ein Trauerspiel. Ich musste sie erst wieder mit etwas füllen. In meinem Album beschreibe ich die langsame Rückkehr von Inhalt, Sinn und Form. Dafür bin ich nach Italien gereist, habe mich von anderen Künstlern und ihren Werken inspirieren lassen, mir deren Lebensfreude abgeschaut, um sie über Umwege wieder in meine Zeichnungen einbringen zu können. Insgesamt brauchte ich ein gutes Jahr, um das Zeichnen wieder aufnehmen zu können

In »Die Leichtigkeit« sagen Sie an einer Stelle, dass es viel schwerer gewesen sei als vermutet, die Schönheit und Lebensfreude der Künste zu betrachten.

Im Nachhinein weiß ich nicht, ob schwierig das richtige Wort ist. Vor allem in Rom fühlte ich mich von den Künsten und der Literatur magisch angezogen, von all der Schönheit, die unsere Kultur hervorgebracht hat – angefangen von den antiken Marmorskulpturen über die Gemälde von Caravaggio bis zur Literatur von Marcel Proust. Ich habe diese kulturellen Schätze aufgesaugt, um der Schönheit in mir einen Raum zu geben. Literatur, Kunst, Humor und das Schöne sind doch letztendlich nichts anderes als Heilmittel. In Rom habe ich mich wortwörtlich auf all das eingelassen, um zu genesen.

In den Wochen nach dem Anschlag war ich von der Welt des Schönen wie besessen, ich konnte mich mit nichts anderem befassen. Im letzten Jahr habe ich nicht viel mehr gemacht, als das Schöne zu suchen. Ich wollte meinen Kopf damit überfluten, um diese Gewalterfahrung des 7. Januar zu verdrängen. Ich wollte mich dem »Stendhal-Syndrom« hingeben und durch Reizüberflutung eine Ohnmacht herbeiführen, die mich das Grauen vergessen lässt. Ich bin zum Glück nie in Ohnmacht gefallen, sondern konnte die Schönheit, die mich umgab, mit allen Sinnen aufsaugen.

Schon in meinen vorangegangenen Comicalben hatte ich mich intensiv mit der Schönheit in all ihren Facetten beschäftigt. Dabei blieb ich als Künstlerin aber immer außen vor. In »Die Leichtigkeit« stehe ich nun nicht mehr außerhalb der Künste, sondern tauche in sie ein. Ich begegne Malern wie Edvard Munch oder Caravaggio und laufe durch ihre Bilder. Ich habe mich im wahrsten Sinne des Wortes in die Kunst begeben und dabei wiedergefunden.

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  1. […] war das erste Zeugnis, in dem sich eines der überlebenden Redaktionsmitglieder dem Grauen stellte. Catherine Meurisse sollte wenig später ihr Trauma in dem Album »Die Leichtigkeit« reflektieren, Philippe Lançon schrieb sich in dem Roman »Der Fetzen« die verletzte Seele aus dem […]

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