Essay, Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Die Toleranz, die keine ist

Didier Eribon hat mit »Rückkehr nach Reims« das Buch zur Stunde geschrieben. Er blickt darin auf das Leben seiner entfremdeten Eltern, die sich von den vereinigten Proletariern aller Länder ab- und den Rechtspopulisten zugewendet haben. Wer den gesellschaftlichen Rechtsruck in Europa verstehen will, findet hier wichtige Erklärungsansätze. Denn statt sich in die eigene Blase zurückzuziehen, braucht es eine Auseinandersetzung mit dem Leben der kleinen Leute.

»Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat,
sondern darauf, was wir aus dem machen,
was man aus uns gemacht hat.«
Jean-Paul Sartre

Gleich vorneweg: Rückkehr nach Reims gehört zu den Büchern, die mich in den letzten Jahren am meisten bewegt und am stärksten ergriffen haben. Allenfalls der Roman Stoner von John Williams konnte es mit der Tiefe und der Sensibilität dieses Sachbuch aufnehmen. Verfasst wurde es von dem Soziologen und Philosophen Didier Eribon, einem der bekanntesten Intellektuellen Frankreichs, der aktuell an der Universität in Amiens politische Theorie lehrt und sich dabei mit sozialen Klassen und Bewegungen sowie Gender und Sexualität auseinandersetzt. Eribon erzählt in seinem zum Bestseller avancierten Titel von seiner familiären Prägung als Arbeiterkind und dem sozialen Aufstieg durch sein Studium in Reims und Paris. Ursprünglich wollte er nur Lehrer werden, erhielt dann aber die Möglichkeit, ein Promotionsstudium aufzunehmen. Letztendlich begann er aber als Journalist zu arbeiten und veröffentlichte in den renommierten Zeitungen Libération und Nouvelle Observateur. Über diesen Umweg gelangte er dann doch an die Uni. Mit seinen Gesprächsbänden mit französischen und internationalen Geistesgrößten wie Georges Dumézil, Claude Lévi-Strauss oder Ernst H. Gombrich machte er sich einen Namen, international bekannt wurde er mit einer beeindruckenden Biographie zu Michel Foucault. Daneben wurde er mit seinen Schriften zur Homosexualität bekannt, insbesondere mit »Réflexions sur la question gay« aus dem Jahr 1999 oder »Papiers d’identité – Interventions sur la question gay« von 2000.

Mit Rückkehr nach Reims gelang ihm ein großer publizistischer Erfolg, nicht nur in Frankreich, sondern eben auch in Deutschland, wo es vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden Erfolge populistischer Bewegungen wie Pegida oder AfD gelesen wurde. Allerdings vergaß der ein oder andere Kommentator den Hinweis, dass das Original Retour à Reims bereits 2009 erschienen ist und daher keine Antwort auf jüngste Entwicklungen ist. Eribon gibt uns aber Hinweise auf strukturelle Gründe für die Erfolge rechter oder rechtsextremer Bewegungen diesseits wie jenseits des Rheins. Gerade deswegen ist es ein eminent wichtiges Buch.

Was hier literarisch ist, ist nicht eindeutig zu klären. Es wurde als »nonfiktionaler Roman« bezeichnet und als »autobiografische Milieu-Analyse«verfasst in einer klaren Sprache, »die einerseits von Sozialanalyse, andererseits von einer gewissen Boshaftigkeit bestimmt ist«. Beworben wird das Buch auch als »gesamteuropäische Erzählung« über sozialen Aufstieg und die Krise linker Bewegungen. Eribon schreibt an einer Stelle, es sei »eine vielleicht unmögliche mentale und soziale Reise«. Die Bezeichnungen stimmen alle und doch treffen sie nicht den Kern dieses Buches. Denn eigentlich sind es mindestens vier Bücher, ja sogar fünf Bücher in einem – damit ähnelt es Claude Levi-Strauss’ Traurige Tropen, einem Klassiker der französischen Anthropologie. Aber der Reihe nach.

Zunächst ist Rückkehr nach Reims die Autobiographie eines Arbeiterkindes, das von seinem sozialen Aufstieg schreibt, von seinen eigenen, willentlich gezogenen Abgrenzungen wie von den gesellschaftlichen Grenzen, an die Eribon immer wieder gestoßen ist. Zugleich, dies ist der zweite autobiographische Strang, ist es die Geschichte von Eribons Coming-Out. Er bettet beide Stränge in die Geschichte seiner Familie ein, von der er sich oft genug abgrenzt. Dabei schont er in seiner Offenheit nichts und niemandem, nicht einmal sich selbst. So ist dieses Buch auch eine knallharte Abrechnung mit dem Selbst – bereits das ist die Lektüre wert.

Die Schule der Parti Communiste (CC BY-SA 3.0)
Die Schule der Parti Communiste (CC BY-SA 3.0)

Eingebettet ist seine Autobiographie in eine Sozialgeschichte Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Land und eine Zeit, die uns fremd geworden sind, auch wenn sie nur einige Jahrzehnte zurückliegt. Eribon wurde 1953 geboren, er beschreibt eine Realität, die in der zweiten Hälft des 20. Jahrhunderts liegt. Es ist eine Welt, in der das Rauchen und das Trinken zum Alltag gehören, in der nicht alle, die zur Generation seiner Großeltern zählten, bereits alphabetisiert waren. In der es uneheliche Kinder gab, aber damit verbunden auch soziale Ausgrenzung. In der die Empfängnisverhütung Paare vor Probleme stellte und Abtreibungen deswegen auch irgendwie dazu gehörten. Beklemmend ist hier insbesondere die Stelle, an der Eribon die Rückkehr seiner Eltern von einem Arztbesuch schildert, bei dem vermutlich ein solcher Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wurde.

Das dritte Buch ist die Intellektuellengeschichte Frankreichs seit Mitte 80er Jahre, in dem Eribon den Kosmos der französischen Geistesgrößen der 70er, 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Ein einzigartiger Kosmos, geprägt von den bereits genannten Personen und nicht zuletzt von Pierre Bourdieu. Ein Kosmos, der aufgrund seiner analytischen Kraft die intelligenteren gesellschaftspolitischen Diskurse in Europa nach wie vor prägt.

Rückkehr nach Reims ist vor allem aber auch eine Analyse der Probleme der Arbeiterklasse sowie ihrer Abkehr von den Linken. Geographisch stimmen die einstigen Hochburgen der Kommunisten mit den neuen Hochburgen der Anhänger des rechtsextremen Front National überwiegend überein. Dass die strukturellen Probleme der Linken keine jüngere Entwicklung sind, lässt sich alleine dadurch belegen, dass Retour à Reims bereits 2009 veröffentlicht wurde. Vor allem ist zu konstatieren, dass der Aufstieg rechter Parteien als Vertreter der Arbeiter ein paneuropäisches Phänomen ist, welches sich in Frankreich in Form des Front National zeigt, in Deutschland in Form der AfD. Ich werde darauf zurückkommen.

Schließlich haben wir es hier mit einem Entwicklungsroman zu tun, in dem Eribon sein zerrüttetes Verhältnis zu seiner Familie nachzeichnet, vor allem aber das zu seinem Vater. Bereits auf einer der ersten Seiten legt er es offe. »Ich bin nicht zur Beerdigung meines Vaters gegangen. Ich hatte keine Lust, meine Brüder wiederzusehen, zu denen ich seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte.« Eribon vergisst an keiner Stelle, in der er seinen Vater erwähnt, darauf hinzuweisen, wie sehr er sich von ihm entfremdet hatte, ja, wie sehr er ihn verachtete. Ein grober, despotischer, prügelnder Mann, ein Vater, unfähig Liebe zu geben, schon gar nicht einem Sohn, der sich zu seiner Homosexualität bekennt.

Die politische Entfremdung, auch bewusst gezogen von Eribon selbst, trug zu diesem Nicht-Verhältnis bei. Und dennoch kann sich auch der kühle Intellektuelle, dieser Analytiker nicht von seinen Gefühlen für seine Familie und seinen Vater freimachen. Ganz am Ende des Buches findet sich eine bewegende Stelle, die den Menschen Eribon adelt: »Mit klammen Herzen dachte ich an ihn [den Vater] zurück und bedauerte, ihn nicht wiedergesehen zu haben. Nicht versucht zu haben, ihn zu verstehen. Oder mit ihm zu reden, früher. Dass ich, in der Tat, zugelassen hatte, dass mich die Gewalt der sozialen Welt überwältigte, wie sie auch ihn überwältigt hatte.«

Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen während einer Demonstration für Bankenregulierung in Berlin im November 2011 (CC BY 2.0)
Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen während einer Demonstration für Bankenregulierung in Berlin im November 2011 (CC BY 2.0)

Einige Bemerkungen zur Frage, warum dieses Buch so erfolgreich geworden ist und warum man mit ihm erklären kann, warum populistische Bewegungen aktuell so großen Zulauf erfahren. Zunächst einmal liegt es an einem Unverständnis von Lebensrealitäten derjenigen Menschen, die prekär, ökonomisch bedrängt und randständig leben müssen. Sie finden auch keine Vertretung in Parlamenten, ihre Fürsprecher sind oft fürsorgliche Belagerer mit der Hoffnung auf eigenes Fortkommen. Machen wir uns nichts vor, wir, die ökonomisch Bessergestellten mit guten Schul- und Universitätsabschlüssen kennen die Milieus und Lebenswirklichkeiten dieser anderen kaum oder ungenügend. Die Schichten jenseits von Abitur und Universitätsabschluss sind vielen fremd. So fremd, wie die Welt, die Eribon uns von seiner Kindheit und Jugend zeichnet. Obwohl ich nur 16 Jahre älter bin, liegen gefühlt Generationen dazwischen. Es scheinen ethnologische Annäherung an soziale Welten wie historisch vergangene Zeiten nötig zu sein.

Die Entfremdung wird aber auch von denen verstärkt, so lese ich zumindest Eribons autobiographische Skizze, die eine soziale Aufstiegsgeschichte aufzuweisen haben. Der eigene soziale Aufstieg ist zugleich eine Emanzipation von der eigenen Vergangenheit. Wesentlich sind aber auch die permanenten offensichtlichen und weniger offensichtlichen Abschlussmechanismen der, ja sagen wir, herrschenden Klasse, die zur Entfremdung führen. Gerade das Bildungssystem, mit dem die große Hoffnung an Chancengerechtigkeit verbunden wird, verstärkt den Mechanismus sozialer Differenzierungen. Die sozialen Unterscheidungen, von den Pierre Bourdieu in seinen Studien immer wieder geschrieben hat, schlagen gerade hier drastisch zu. Besonders hart in jenem elitären System Frankreichs, nicht minder hart in den eher sozialdemokratischen Bildungssystemen Deutschlands. Sie führen zu jener Akademisierung von Politik, in denen die Bildungsgewinner, die sozial vorselektiert wurden, auch jene vertreten, die durch das Bildungssystem aussortiert wurden.

Wir, das heißt die gut Verdienenden und gut Ausgebildeten, klopfen uns auf die Schulter, weil wir vermeintlich so gut mit Heterogenität umgehen können. Natürlich zählen zu meinem Freundeskreis Menschen aus den verschiedensten Regionen der Welt, mit den unterschiedlichsten Konfessionen und Religionen. In einem gleichen sie sich jedoch sehr: Es sind alles Akademiker, Intellektuelle oder Künstler. Ich tausche vermeintliche Heterogenität durch eine Homogenität auf sozioökonomisch-bildungspolitischer Basis. Auch uns gut Ausgebildeten fällt Fremdheit schwer!

Eribon-Rückkehr nach Reims
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp-Verlag 2016. 240 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen

Ein weiterer Aspekt: Die Arbeiterbewegung hat einen langen Weg hinter sich, in die Gesellschaft der herrschenden Schichten zu integrieren. Es führte sie von der »negativen Integration« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie es Dieter Groh beschrieben hat, zu einer zur positiven Integration im 20. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, wieder hin zu einer aktuell negativen Integration. Negative Integration, wie sie Groh für die Arbeiterbewegung im Deutschen Kaiserreich beschrieb, war gekennzeichnet durch eine zunehmende ökonomische Besserstellung und Tendenzen zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung einerseits bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verweigerung der Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft und Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits. Am Ende war die Arbeiterschaft in die Gesellschaften Europas integriert. Ja, sie übernahmen sogar die Regierungsverantwortung in vielen europäischen Staaten und bestimmten politisch, sozial wie kulturell die Geschicke ihrer Länder. Sie war angekommen und dieser Erfolg machte stolz. Mit der Wahl der Kommunisten, so schildert Eribon das Milieu seiner Familie und ihres Umfeldes, versicherte man sich stolz seiner Klassenidentität.

Dieser Stolz ist gekippt. Nun werden AfD und Front National gewählt, nicht, weil sie sich als Teil des Systems verstehen, sondern das System in Frage stellen. »Man könnte sagen, dass die Stimme für die Kommunisten eine positive Selbstaffirmation darstellt, die für den Front National eine negative«, schreibt Eribon dazu. Die Parteien und Institutionen, die die Arbeiterschaft stolz repräsentiert haben und auf die die Arbeiter stolz waren, scheint es in dieser Form nicht mehr zu geben. Sie haben sich verirrt zwischen Interessensvertretung und Staatsverantwortung, Klassenbewusstsein und Drang zu etwas Besseren.

Rückkehr nach Reims ist aufgrund seiner Vielschichtigkeit ein wundervoll anregendes Buch. Seine politischen Botschaften werden lange nachwirken und die linken Parteien in ganz Europa nötigen, über ihre Identität, ihre Interessen, ihre Verantwortung und Repräsentation sowie über ihre Machtperspektiven nachzudenken. Die europäischen Parteien, die in nationalen Kontexten im 19. Jahrhundert entstanden, die gleichzeitig immer das Postulat der Internationalität vor sich hergetragen haben, müssen sich ihre Verortung in einer globalisierten und europäisierten Welt des 21. Jahrhunderts erstreiten. Ein »Weiter so!« führt geradewegs in die politische Belanglosigkeit. Auch das kann man zwischen Didier Eribons Zeilen lesen.

2 Kommentare

  1. […] Nacht zum hellsten Stern am französischen Literaturhimmel. Dazu beigetragen hat sicherlich auch seine enge Verbindung zu Didier Éribon und dessen Lebensgefährten Geoffroy de Lagasnerie. Zu dritt treiben sie mit ihrer gleichermaßen autobiografischen wie gesellschaftskritischen […]

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