Comic, Interviews & Porträts

»Mich interessiert, wie Gesellschaft funktioniert«

Ich finde in Ihren Alben stets eine gewisse Melancholie, eine Liebe zur Vergangenheit. Mögen Sie die Moderne nicht?

Ich weiß nicht. Eigentlich spreche ich immer nur von heute. Und wenn ich von dem Vergangenen, vom Gestern spreche, dann nur, weil ich mich für das Heute interessiere. Aber natürlich sollen meine Arbeiten die Moderne hinterfragen. Jemand, der die Umstände der Arbeiter in den siebziger Jahren kennt und diese mit dem heute vergleicht, der wird sich zweifellos fragen, was denn da eigentlich passiert ist. Und diejenigen, die in der Lage sind, diese Frage zu stellen, gehen hoffentlich einen Schritt weiter und verknüpfen diese Frage mit der politischen Ebene, um zu verstehen. Und wer versteht, trägt am Ende vielleicht mit dazu bei, die Würde der Menschen wiederherzustellen, die ihnen der libertäre Staat der Moderne genommen hat.

Ist die Aggressivität und Gewalt, die aus all ihren Alben spricht, ein Resultat dieser Liberalisierung von Politik und Ökonomie?

Aber ja, absolut. Die Gewalt in meinen Alben ist die Metapher für die Gewalttätigkeit, die dem Einzelnen in der modernen Gesellschaft angetan wird. Sie steht für die Gewalt der Moderne, entweder weil über das Individuum bestimmt wird, weil es zu einer niedrigeren Klasse gehört oder weil der Einzelne, der dieser Klasse entkommen möchte, daran gehindert wird. Ich spreche hier immer vom Preis, der zu zahlen ist. Dieser Preis ist schlicht und ergreifend die Gewalt, die der Einzelne ertragen muss, wenn er Dinge nicht einfach hinnehmen oder seinen zugeteilten Platz in der Gesellschaft verlassen möchte. Für mich sind meine Erzählungen daher auch immer Geschichten einer Emanzipation, auch wenn diese schmerzhaft und ohne gutes Ende ist. Aber es gibt doch zumindest immer den Versuch meiner Charaktere, den gegebenen Verhältnissen zu entkommen. Das ist für mich eine fundamentale Angelegenheit.

Was auch ihre Hingabe für die Arbeiter, Immigranten, Prostituierten und Halbkriminellen erklärt. Geht es ihnen um ein Porträt eines bestimmten Milieus?

Es erklärt mein Interesse für die einfachen Menschen. Das ist das Milieu, aus dem ich komme und zu dem ich mich zugehörig fühle. Dazu gehören die einfachen Arbeiter ebenso wie die Einwanderer – letztendlich eigentlich alle, die in irgendeiner Art und Weise beherrscht werden. Und natürlich frage ich mich, was ist aus diesem Milieu geworden? Die einfachen Menschen und ihr Schicksal in der Moderne stehen im Zentrum meiner Arbeit. Alle Geschichten werden aus ihrem Blickwinkel erzählt.

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Sehen sie sich selbst als Underground-Zeichner? Als Zeichner, der eine Welt beschreibt, die viele gar nicht mehr sehen?

Nein, überhaupt nicht. Ich zeichne ja nicht für eine kleine Gruppe, sondern meine Alben können von allen gelesen werden. Und wenn dann einige Probleme mit diesen Geschichten haben, dann hat das natürlich seine Gründe. Der Begriff »Underground« steht, zumindest im Frankreich, für einen experimentellen Strich, der auch nicht mehr die gesellschaftliche Anbindung sucht. Underground beschäftigt sich, so sehe ich das, in einer Art Labor mit formellen Aspekten, aber nicht mit dem Wesentlichen, den Grundlagen. Mich aber interessiert genau das, die Grundlagen.

Und wenn die Art und Weise meines Strichs und der Charakter meiner Alben manch einem Probleme bereiten, weil sie nicht dem klassischen franko-belgischen Album entsprechen, dann kann ich das verstehen. Aber ich mache das ja nicht mit der Absicht, diese abzuschrecken, sondern vielmehr deshalb, dass selbst sie eines Tages meine Alben in die Hand nehmen und lesen.

Auch vom Erzählstil her verstehe mich selbst nicht als Underground-Zeichner, wenngleich dieser Stil sehr intensiv und rhythmisch ist. Er treibt die Geschichte immer voran und wirft die Dinge durcheinander. In diesem Sinne ist er auch sehr musikalisch. Und das trägt dann dazu bei, dass jeder diese Geschichten lesen und verstehen kann.

Collage-Titel

Welche Rolle spielt die Kolorierung ihrer Alben?

Die gleiche wie der Strich, sie trägt zur Erzählung bei. Ich kümmere mich nicht um hübsche Farben. Das ist mir vollkommen egal. Aber die Farbe trägt am Ende wie der Strich, das Format und die Seitenaufteilung dazu bei, die perfekte Seite zu finden. Und diese perfekte Seite entsteht mit dem Rhythmus der Bilder, ihrer inneren Konstruktion, die Aufteilung der Elemente im Bild, mit der Erzählung, dem Ton und natürlich auch mit der Farbe. All das trägt am Ende zur perfekten Seite und zum perfekten Bild bei. Ein Bild, am Rande bemerkt, das mir bis heute noch nicht gelungen ist. Ab und an gelingt es mir, ziemlich nah an dieses perfekte Bild heranzukommen. Aber wie oft gelingt mir das, vielleicht fünf oder sechs Mal in einem Album. Die anderen Bilder muss man einfach lassen, sonst wird man nie fertig. Ich kann die Leute nicht verstehen, die immer wieder neu anfangen oder Dinge überarbeiten, weil sie mit irgendetwas nicht zufrieden sind. Sie wollen, dass jedes Bild perfekt ist, aber das ist unmöglich. Das ist nicht menschlich.

Arbeiten sie gerade an einem neuen Album?

Ich möchte eine Trilogie beenden, mit der ich meine Karriere als Zeichner begonnen habe. Es ist ein Porträt der einfachen Menschen, der Arbeiterklasse, die all die Fragen behandelt, die wir hier aufgeworfen haben: die Fragen der Ortsveränderung, der Einwanderung, der persönlichen und sozialen Veränderung. Einwandern heißt, seine sozial zugeteilte Position verlassen zu wollen, auch deshalb interessiert mich dieses Thema so brennend. Es ist die perfekte Metapher in der Moderne für die Dinge, die mich interessieren.

Vielen Dank für das Gespräch.