Interviews & Porträts, Literatur, Roman

»Die Melancholie des Unvollständigen ist schon wieder verschwunden«

Der junge Kommissar Ariel Spiro wird ins Berlin der 20er Jahre versetzt und mit seinem ersten Fall direkt in das existenzialistisch-schillernde Tages- und Nachtleben der Metropole geschubst. »Der weiße Affe« von Kerstin Ehmer ist mehr als nur ein historischer Berlin-Krimi. Es ist der Auftakt einer Serie mit Suchtpotential. Ein Gespräch über das historische Westberlin, die Liebe zum Detail und das Leben hinterm Tresen.

Sie betreiben mit Ihrem Mann seit 16 Jahren die Victoria Bar, eine der 50 besten IndependentBars der Welt. War Ihnen das irgendwann zu langweilig oder wie kamen Sie zum Schreiben?

Die Triebkräfte, die in der Langeweile versteckt sind, können gar nicht hoch genug bewertet werden. Lässt man mal die Finger vom Smartphone und den Fernseher aus, passiert Unglaubliches. Manchmal. Vielleicht.

Sie haben einen historischen BerlinKrimi geschrieben. Lokale und historische Verortung machen den Verkauf eines Buches nicht unbedingt einfacher, zumal es schon einige Berliner Krimireihen gibt. Wenn man das macht, muss man einen guten Grund haben. Welcher ist Ihrer? Warum die zwanziger Jahre und warum das alte WestberlinKreuzberg einerseits und Charlottenburg andererseitsals Handlungsorte

Ich habe 10 Jahre im südlichen Tiergarten gewohnt und war von Anfang an sehr fasziniert, mit welch gelassener Grandezza hier die Stadt langsam zum Grün des Parks hin ausfranst und ihre Kriegswunden trotzig belässt. Franz Hessel nennt die Gegend den »Alten Westen«. Schon in den Zwanzigern war sie unmodern geworden. Die Erbauer der prachtvollen Häuser waren längst weiter gezogen an den Kudamm oder gleich mit Villa in den Grunewald. Der »Alte Westen« blieb irgendwie beleidigt und etwas hochnäsig in all seiner Schönheit zurück wie eine alternde Diva, der die Verehrer abhandengekommen sind. Aber auch das verändert sich schon wieder. Mittlerweile sind fast alle Baulücken geschlossen und die Gegend städtebaulich ordentlich nachverdichtet worden. Die Melancholie der unvollständigen Straßen ist eigentlich schon wieder verschwunden. Die Gegend hat mich fasziniert, vielleicht weil sie so stark im Wandel ist, so sehr der Mode unterworfen. Es gibt Stadtteile, in denen das weniger deutlich zu Tage tritt.

Gibt es einen Auslöser, diesen Kriminalroman zu schreiben?

Der Auslöser war tatsächlich mein erstes Buch »Die Schule der Trunkenheit«, geschrieben zusammen mit Beate Hindermann. Das Buch ist zunächst im Metrolit Verlag erschienen, den es dann relativ bald auch schon nicht mehr gab. Das Buch war damit zunächst mal tot. Jetzt wird es vom Verbrecher Verlag wieder wachgeküsst und kriegt einen großen, feinen Rezeptteil hintendran, der allerdings kommentiert daherkommt. »Das ABC des angewandten Alkohols«. Daran arbeite ich gerade und habe unglaublichen Spaß. Die Leser später hoffentlich auch. Nicht dass ich hier die ganze Zeit alleine lache, während der Saal schweigt.

Aber zurück zur Frage. Für die »Schule der Trunkenheit« habe ich entsetzlich viel recherchiert und musste mich an die Fakten halten. Danach hatte ich ein unbändiges Bedürfnis freier schreiben zu können, mir eigenes Personal zu erfinden und durch die Geschichte zu schicken.

Sie beschreiben mit großer Liebe zum Detail. Wie viel Arbeit hat es gemacht, all die Details zu recherchieren? Und kann man die Schauplätze ihres Romans heute noch so vorfinden

Natürlich macht das viel Arbeit. Aber wer mit Recherche nicht viel anfangen kann, schreibt wahrscheinlich keinen historischen Roman. Hoffentlich. Die Schauplätze der Geschichte haben sich stark verändert. Ich bin ja schon seit 1985 in der Stadt, also noch vor dem Mauerfall gekommen. Seitdem hat sich die Zahl der Geschäfte und Läden dermaßen vervielfacht. Das Scheunenviertel in Mitte ist eine große Shopping Zone. Das glaubt einem kein Mensch, dass die Stadt lange Jahre mit vielleicht 20 Trendboutiquen, verteilt über Ost und West, ausgekommen ist.

Ihre Liebe fürs Detail betrifft auch die kulturelle Prägung des Romans, sei es die Alltagskultur der 20er betreffend oder aber die Hochkultur, sprich Literatur, Bühnenkunst, Handwerk und Musik. Das ist nicht unbedingt typisch für einen Krimi. Warum war Ihnen das hier so wichtig?

Es kommt vor, weil ich mir eine Zeit ohne ihre Kultur gar nicht vorstellen kann und die hat ja gerade in den 20ern die schönsten und schrägsten Blüten hervorgebracht.

Sie zeichnen das Bild des explodierenden hedonistischen Berlins, aber auch das des Zusammenbruchs am unteren Ende der Gesellschaft. Inwieweit hat Ihr Roman auch einen politischen Anspruch?

Kerstin Ehmer: Der weiße Affe. Pendragon Verlag 2017. 280 Seiten. 17,- Euro. Hier bestellen

»Der weiße Affe« spielt 1925, als die Goldenen 20er tatsächlich golden waren, in einem nur wenige Jahre währenden Zeitraum zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. Aber niemand hat daran geglaubt, dass die Weimarer Republik, diese Gesellschaft wirklich Bestand haben und in fünf Jahren noch da sein wird. Geschweige denn in 50. Dieses unterliegende Gefühl, dass aus dem gegenwärtigen Tun und Handeln keine Zukunft erwächst, das verbindet den »Weißen Affen« mit der Gegenwart, mit dem Heute.

Da kommt dann auch der politische Anspruch. Und diese Unsicherheit ist der Grund, warum ich mich für gerade diese Zeit entschieden habe. Vielleicht wird das mit dem zweiten Ariel Spiro Krimi noch deutlicher, an dem ich arbeite, der aber noch lange nicht fertig ist.

Im kommenden Frühjahr erscheint von Ihnen und Beate Hindermann im Verbrecherverlag »Die Schule der Trunkenheit«. Werden Sie darin ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern und von Erlebnissen in der Victoria Bar erzählen oder worum wird es in dem Buch gehen?

»Die Schule der Trunkenheit« schaut in sieben Kapiteln nach, wie die einzelnen großen Spirituosen, Gin, Wodka, Whisky et cetera zu dem geworden sind, wie wir sie heute kennen. Und tatsächlich haben sämtliche historischen Ereignisse, Erfindungen, Kriege, Eroberungen, Allianzen und politische Schachzüge Auswirkungen auf den Alkohol gehabt. Erhebliche. Das Buch ist ein wilder Ritt durch die letzten 500 Jahre Geschichte, nicht immer ernsthaft, aber ernsthaft recherchiert. Erst nach der Lektüre weiß man wirklich, was da so im Glas vor einem kurvt. Gipfel und Abgründe, alles dabei.