Geschichte, Gesellschaft, Sachbuch

Wenn schon Utopien, dann konkrete!

Die Geschichte hat kein Telos, sie hat keinen Plan, Geschichte geschieht. Dennoch oder erst recht schreibt Joachim Radkau über die Geschichte der Zukunft und die Möglichkeiten von Gegenwart und kommende Zeiten.

Seine Bücher über die Geschichte haben selbst Geschichte geschrieben. Seine Dissertation etwa über die Rolle deutschsprachiger Emigranten von 1933 bis 1945 im Umfeld des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, die er 1971 Fritz Fischer – glaubt man The Encyclopedia of Historians and Historical Writing der wichtigste deutsche Historiker des 20. Jahrhunderts – vorgelegt hat. Die Habilitationsschrift über Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, die er 1980 bei Hans-Ulrich Wehler, einem weiteren der einflussreichsten deutschen Historiker, eingereicht hat; sie wurde 2013 unter dem Titel Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft erneut aufgelegt. Seine Weltgeschichte über die Ära der Ökologie (2011), seine Studie über das Zeitalter der Nervosität (1998), seine Biographien über Theodor Heuss (2013) und Max Weber (2005). Was Joachim Radkau historiographisch anpackt, ist von Dauer.

So auch sein jüngstes Werk über die Geschichte der Zukunft, für die er, wie er selbst schreibt, sechs Anläufe benötigte. Herausgekommen ist eine Studie, oder vielmehr ein Essay, über die Prognosen, Visionen, Irrungen im Nachkriegs-Deutschland bis heute. Die Irrungen und Wirrungen an Hoffnungen, Prognosen, Visionen und Utopien im Deutschland der Nachkriegszeit lassen sich an einer kleinen, aber prägnanten Anekdote ablesen. Geschichte der Zukunft wurde am 28. Januar 2017 ausgeliefert. An diesem Tag lancierte der Spiegel die Titelgeschichte »Sankt Martin«, eine Geschichte über die neue sozialdemokratische Hoffnung in Gestalt von Martin Schulz. Eine Story, die mit den Sätzen endete: »Martin Schulz wird kämpfen, das ist gewiss. Und wie es aussieht, wird er nicht allein sein.« Ebenso wurde auf dem Cover auf das neue Buch von Radkau verwiesen. Wir kennen den Ausgang der Geschichte, vom Aufstieg und Fall des Martin Schulz, vom Kanzler in spe, dem nach seinem Verzicht auf das Amt als Vorsitzender der SPD und als Außenminister das Mandat als Bundestagsabgeordneter bleibt. Geschichte der Zukunft ist langlebiger als der politische Hoffnungsträger der SPD. Radkau schrieb über die Zukunft der Geschichte. Schulz war erst die Zukunft der Sozialdemokratie, ist jetzt schon wieder Geschichte und hat voraussichtlich auch keine politische Zukunft mehr. Und das innerhalb eines Jahres. So schnell kann es kommen.

Vielleicht ist die Geschichte von Martin Schulz Beleg und Anlass genug für ein solches Buch, wie es der langjährige Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld getan hat. Es geht ihm darum die Bedeutung des Überraschungseffekts, der Überrumpelungen, des Zickzacks der Geschichte deutlich zu machen. »Einstige Fehlprognosen nicht wegzuwischen, sondern in Erinnerung zu rufen öffnet historische Einsichten eigener Art, nicht zuletzt über in der Geschichte«, wie er selbst schreibt. Es geht ihm als Historiker aber vor allem darum, die Menschen vergangener Zeiten zu verstehen. Radkau möchte das Handeln der Menschen nicht lediglich reaktiv oder als bloße Alltagsroutine verstehen, sondern als bewusste Entscheidung, die Zukunft aktiv zu gestalten. So ist die Rekonstruktion damaliger Zukunftserwartungen lohnenswert, auch wenn diese sich himmelweit vom tatsächlichen Fortgang der Geschichte unterscheiden.

Ein schönes Beispiel sind die unterschiedlichen Zukunftserwartungen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. So herrschte während der frühen Jahren der Weimarer Republik geradezu überschwänglicher Optimismus, während die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg großen Pessimismus zeigten. Anfang der 20er Jahre war 1933 nicht vorstellbar, genauso wenig wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg das Wirtschaftswunder. Wir wissen, wie die Geschichte ausging, in welcher Katastrophe die Zwischenkriegszeit mündete und welch prosperierendes Leben in Frieden und Freiheit ein Großteil der Menschen in Deutschland seit 1945 führen durften. So nimmt Radkau das Zitat des großen Historikers des 19. Jahrhunderts Gustav Droysen ernst, das dynamische Element in der Geschichte zu erforschen, statt ewig den Wurzeln nachzugehen.

Foto von Maria Geller von Pexels

Der Bielefelder Historiker verweigert sich also dem Spiel, aus der Rückschau alles besser zu wissen, sondern beschäftigt sich mit historisch verortbaren Zukunftsgeschichten, die er als »Spiegel von Zeitstimmungen«, als »Triebkraft des Handelns«, aber eben auch als »Quelle der Überraschungen« begreift. Überraschungen sind Radkau essentiell. Die Geschichte hat kein Telos, sie hat keinen Plan, Geschichte geschieht. Historiker sollten erkennen, warum historische Entwicklungen sich ergeben haben, wie sie stattfanden. Sie sollten auch aber auch erkennen, wo diese Entwicklungen auch in eine andere Zukunft hätten abbiegen können. Radkau zitiert das Werk Zukunft in der Geschichte von Reinhard Wittram aus dem Jahre 1966: »Der Historiker hat davon Kenntnis zu nehmen, dass die Zukunft wie ein Feuer die Gegenwart frisst.« Überraschung und Unsicherheit als zentrale Kategorien von Geschichtsschreibung, so zwei der zentralen Lehren von Zukunft in der Geschichte. Sie gelten noch heute. Expect the Unexpected!

Eine weitere Lehre: Der Selbstzweifel. Dies gilt in einem besonderen Maße für Historiker, die aus der Vergangenheit in prognostizierte Zukünfte sehen. Gerade sie haben sich zu prüfen, ob die Zukunftsszenarien einer historischen Analyse oder vielmehr ihren Hoffnungen und Ängsten entspringen. Auch Historiker sind Kinder ihrer Zeit, auch ihre Prognosen sind charakteristische Zeitprodukte. Die Zukünfte, die sie beschreiben, entziehen sich einem systematischen Zugriff, sind zu beschreiben und zu analysieren, indem man die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit der Gegenwart genau beobachtet. Radkau beklagt, dass Diskussionen über Zukunftsszenarien allzu oft ahistorisch, in überkommene Denkmuster geführt werden. Wie schärfen wir den Blick auf das Neue der Gegenwart und wie befreien wir uns von den eingefahrenen Gewohnheiten der Zukunftsschau? Und wie vermeiden wir den Fehler, den Blick in die Zukunft als bloße Verlängerung bisheriger Trends zu verstehen?

Der Blick in die Zukunft wirft mehrere Probleme auf. Erstellt man Kurzzeitprognosen, so läuft man Gefahr, das Trägheitsgesetz des Bestehenden zu unterschätzen. Langzeitprognosen unterschätzen hingegen die Möglichkeiten überraschender Wenden. Überraschungen entstehen auch dadurch, dass es zu Synergien kommt, die niemand vorhergesagt hat. Synergien durch die Verknüpfung bestimmter Entwicklungsstränge mit anderen, mit denen sie bis dahin nicht zusammen gesehen wurden. Radkau, dessen intellektuelle Innovationskraft bei gleichzeitiger Lebensweisheit in diesem Buch deutlich zu Tage tritt, plädiert für den vagabundierenden Blick, denn nur er bietet die Chance, Synergien frühzeitig zu bemerken.

Unter diesen intellektuellen Vorgaben begibt sich Radkau in einen Parforce-Ritt durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es geht um die Themen, die Radkau als Umwelt- und Technikhistoriker umtreiben. Um Fragen der Ökologie, um das Atomzeitalter, um die Zukunft der Arbeit, die bereits in den 50er Jahren gestellt wurde und angesichts der Digitalisierung aktuell erneut aufgeworfen wird, es geht um das deutsche Bildungssystem, um die Realität und Hoffnung von Multikulti, um DDR-Horizonte von Ulbricht bis Honecker und um das Wirtschaftsmodell nach der Wiedervereinigung. Große Hoffnungen, schlimme Befürchtungen, keine traten später in Reinform ein. Radkau leistet hier Kärrnerarbeit für ein neues, ein anderes Verständnis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Radkau verwandelt die vielfach als dröge abgestempelte deutsche Nachkriegsgeschichte in eine dramatische Abfolge von Überraschungen und Überrumpelungen. In eine Geschichte von Vorahnungen, Visionen, Irrungen.

Foto von Matthias Hefner von Pexels

Radkau endet sein vielstimmiges Finale mit zehn Thesen auch mit einer Warnung, vorsichtig zu sein mit dem »Utopie-« und dem „»Apokalypse«-Vorwurf. Für ein Buch, das im Untertitel das Wort Irrungen beinhaltet, bestimmt nicht die schlechteste Warnung. Radkau schreibt: »Auch wenn man gegenwartsferne Utopien für praktisch wertlos, ja womöglich für fatal hält, ist doch Vorsicht geboten, wenn Zukunftsentwürfe vorschnell als Utopien abgefertigt werden. Dass das geistige Klima der Bundesrepublik bislang für Utopien nicht gerade günstig war, muss nicht unbedingt bedauern; aber ebendeshalb bedeuteten Utopien bislang für die Bundesdeutschen nur eine geringe Gefahr. Stattdessen weckt die Rekapitulation bundesdeutscher Zukunftserwartungen nicht selten eine Sehnsucht nach ausgiebigeren, farbig-konkreten und konsequent durchgespielten Zukunftsentwürfen.«

In einem Vortrag im Rahmen der Reihe Konkrete Utopien der Heinrich-Böll-Stiftung und der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung ging er dieser Fragestellung noch einmal konkret nach. Dabei tut sich die Reihe selber schwer mit dem Utopiebegriff. Lange Zeit, so die Annahme der Reihe, stand er in der gesellschaftspolitischen Arena für eine zukünftige Tröstung, für eine Art vorwärtsgewandtes Heimweh. Utopie wurde mehr und mehr zu einem spöttischen Schlagwort für sozialromantische Vorstellungen, welch lachhafte Vorstellung nach dem Ende der großen Erzählungen. Für unsere Generationen scheint zu gelten: Eine andere Welt ist nicht länger möglich! Alternativlosigkeit allerorten. Wo dies hinführt, haben wir in den letzten Jahren bitter realisieren müssen. Ohne utopischen Esprit erstarrt das politische Denken, es läuft leer in der unermüdlichen Reproduktion des immer Gleichen. Allerdings sind die (linken) Gegenentwürfe zur (rechten) Alternativlosigkeit oft genauso wenig zufriedenstellend. Utopisches Denken im Politischen verweist zu sehr auf das Unrealisierbare, das Unmögliche. »Wenn schon Utopien, dann konkrete«, so Radkau.

Eine Geschichte der Zukunft mit der Subbotschaft »Wie unsere Gegenwart vorgestern werden sollte« verweist auf die Frage, ob wir Visionen brauchen und was die Geschichte beweist. Oder mit den Worten des Autors: »Um die Menschen zu verstehen, darf man nicht nur in den Ursprüngen stöbern, sondern man muss auch deren Erwartungen und Hoffnungen kennen.« Radkau kommt zugute, dass er weder Optimist noch Pessimist ist, sondern sich als Possibilist versteht. Ihm geht es um Möglichkeiten, um Chancen, Überraschungen und Überrumpelungen, um das Zickzack der Geschichte, in der wir uns gerade eben in einem Zack oder in einem Zick befinden.

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Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. Hanser Literaturverlag 2017. 544 Seiten. 28,-. Hier bestellen

In dem genannten Vortrag stellte er Kriterien für konkrete Utopien auf, konkrete Utopien, die aktivieren und inspirieren können. Diese Utopien dürfen zunächst einmal nicht monomanisch verfolgt werden. Sie dürfen sich vor allem nicht das Denken fixieren, gegen Andersdenkende und andere mögliche Zukunftsszenarien abschotten. Die Polarisierung politischer Diskurse gerade in jüngster Zeit trage, so Radkau, den Keim monomanischen Denkens leider in sich. Konkrete Utopien müssen zum anderen ihren scharfen Blick auf die Gegenwart beibehalten, insbesondere auf die vielfältigen Potentiale der Gegenwart. Die Gegenwart bietet einen riesigen Pool von Möglichkeiten, Chancen und Enttäuschungen. Utopien, konkrete zumal, dürfen schließlich kein pures Wunschdenken sein, sondern sie müssen auf ihre potentiell realistischen Voraussetzungen hin geprüft werden.

Zukunft der Geschichte ist ein immenser Fundus vergangener Fehlprognosen. Radkau geht es aber nie um die hämische Lust an der retrospektiven Besserwisserei, sondern um den Verweis auf historische Alternativen, auf mögliche Zukünfte. Zukunftsgeschichte hat eine Zukunft, vor allem dann, wenn es kritische Analyse, historisches Detailwissen und Phantasie um die Gegenwart verbindet. Wir leben in einer Gegenwart, in einer Variante von Gegenwart. Diese Variante war nur von den wenigen gedacht, erhofft oder befürchtet worden. Radkau erinnert mit seinem Spätwerk an den Possiblismus der Geschichte, an die verschiedenen Möglichkeiten von Gegenwart und daran, dass unsere Vorstellungen von Zukunft nicht eintreten werden. Ganz sicher wird aber eine andere Zukunft eintreten, wenn wir uns nicht um sie kümmern. Wir sollten keine Angst haben vor der Zukunft, sondern uns um sie sorgen. Weil sie ein besseres Mit- und Füreinander verspricht. »Die Sorge ist eine Quelle der Vorsorge – und der Fürsorge.«

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