Comic

Von Brüssel über Rummelsdorf nach Berlin

Zum 80. Geburtstag von »Spirou und Fantasio« erscheinen die gesammelten Werke von André Franquin und Jean-Claude Fournier in edler Aufmachung. Der französische Zeichner Émile Bravo führt in einer Spezialreihe zurück zu den Anfängen des Magazins, der deutsche Zeichner Flix steuert der großen Erzählung ein Wende-Abenteuer bei.

Alles beginnt mit dem Ärger eines Verlegers. Jean Dupuis hat die Nase voll von den amerikanischen und französischen Comics, als er in den ersten Wochen des Jahres 1938 beschließt, ein eigenes Comicmagazin herauszugeben, in dem vorwiegend belgische Künstler aktiv sind. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass mit Robert Velter ausgerechnet ein Franzose einspringt, als es darum geht, die ersten Ausgaben des Spirou-Magazins zu gestalten.

Velter ist der Spiritus Rector für die Titelfigur einer, wenn nicht sogar der erfolgreichsten Comicserie der Welt. Er dachte sich den pfiffigen Hotelpagen Spirou im roten Frack mit großen goldenen Knöpfen aus. Als Blaupause dienten wohl die Schiffsjungen, die er bei einer Überfahrt über den Ärmelkanal beobachtete. Sein Freund Luc Lafnet stand für den aufgeweckten Pagen wohl Modell. Auf der Titelseite des Spirou-Journals vom 21. April 1938 erweckt ein anonymer Zeichner dem Pagen im roten Kostüm mit einem Spritzer »Lebenswasser« zum Leben.

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Diese Aufmachung ist bis heute ein Mythos, den das aktuelle Zeichnerteam Yoann Chivard und Fabian Vehlmann anlässlich seines 70. Geburtstages in der Erzählung Die Geheimnisse der Tiefe noch einmal aufwärmte. Aber zurück zu den Anfängen. Mehr als ein Jahr lang lässt Velter den jungen Pagen durch die Welt stolpern, bevor er ihm mit dem Eichhörnchen Pips einen Freund und Schutzengel zur Seite stellt.

Velter wird jedoch zum Militärdienst eigezogen, kann immer weniger zeichnen, immer öfter muss seine Frau für ihn einspringen. Zweieinhalb Jahre nach dem Start des Magazins stößt ein junger belgischer Zeichner namens Joseph Gillain alias Jijé zu dem belgischen Comicmagazin. Er wird die Serie wegführen von der Ligne Claire, die ein gewisser Hergé in seinen Tim und Struppi-Erzählungen perfektioniert, hin zu einem lebendigeren, die Provokation suchenden Strich. Jijé wird den abenteuerlustigen Reporter Fantasio – zunächst als Nebenfigur – einführen und zu Spirous bestem Freund machen. Unter dem Belgier wird sich die sogenannte École Marcinelle etablieren, die nach der gleichnamigen Stadt benannt ist, in der die Redaktion des Spirou-Magazins damals angesiedelt war. Granden wie André Franquin (Gaston), Morris (Lucky Luke) und Peyo (Die Schlümpfe) werden mit Jijé das Magazin vorantreiben und bald schon zu den herausragenden Zeichnern dieser Schule gehören. Mit ihren Ideen und Geistesblitzen haben sie das Universum des Magazins in den fünfziger und sechziger Jahren wesentlich erweitert.

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André Franquin: Spirou und Fantasio von Franquin. Carlsen Verlag 2018. 1.200 Seiten. 198,- Euro. Hier bestellen

André Franquin zeichnete seit 1946 für das Spirou-Magazin, im Laufe der kommenden Jahre übernimmt er die Titelserie, für die er bis 1969 verantwortlich ist. Niemand hat die Welt von Spirou und Fantasio so sehr geprägt wie der in Brüssel geborene Zeichner. Durch über fünfzig Comics führte er die beiden Titelhelden und verankerte die Serie in der echten Welt. Er erfand das idyllische Universum des zerstreuten Grafen Pankratius Hieronymus Ladislaus Adalbert von Rummelsdorf und seinen Widersacher, den machtgierigen Zyklotrop. Er lockte das wunderlich-anmutige Marsupilami aus dem palumbianischen Urwald und schuf mit dem chaotischen Gaston einen weiteren Sympathieträger. Als Jubiläumsgeschenk erscheinen nun die von Franquin verfassten Abenteuer, zweiundzwanzig an der Zahl, angefangen vom Zauberer von Rummelsdorf bis hin zu Spirou und der Roboter, als Hardcover-Ausgaben in einem edlen Schuber.

Als Franquin nach fast 25 Jahren die Verantwortung für Spirou und Fantasio abgibt, fügt er der Serie eine Wunde zu. Er nimmt seine Kreaturen – das Marsupilami und Gaston, die das Magazin wesentlich geprägt haben – mit und hinterlässt seinem Nachfolger Jean-Claude Fournier ein Rumpfkabinett. Unerschrocken ergriff dieser die Flucht nach vorn und schuf Erzählungen, in denen er politische Geschehnisse reflektierte, wie man dem Sammelband Spirou und Fantasio 1969 – 1972 entnehmen kann. Er enthält die drei umfassenden Geschichten Die Goldmacher, Zucker im Tank und Zauberei in der Abtei, in denen Demokratie, Drogen oder Umweltschutz mit spielerisch, aber nie ohne Ernst aufgegriffen werden.

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Jean-Claude Fournier: Spirou und Fantasio Gesamtausgabe 9. Aus dem Französischen von Peter Müller und Michael Hein. Carlsen Verlag 2018. 240 Seiten. 30,- Euro. Hier bestellen

Gesellschaftspolitische Debatten sind plötzlich keine Tabuthemen mehr. Fournier prägte das Magazin mit seinen Geschichten mehr als ein Jahrzehnt, zwischen seit den achtziger Jahren versuchten sich verschiedene Zeichner an der Fortsetzung dieses Erbes. Vor allem das Duo Tome und Janry war hier federführend, beide brachten das Magazin mit einigen Verdiensten bis in die neunziger Jahre. Dann wurde es still um das Magazin, zum 70. Geburtstag führten Morvan und Munuera mit Unterstützung von Yann Lepenntier durch Franquins Spirou-Geschichten.

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Émile Bravo: Spirou oder: die Hoffnung. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Carlsen Verlag 2018. 96 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen

Seit 2008 modernisieren Yoann Chivard und Fabian Vehlmann behutsam den Klassiker und sind damit ziemlich erfolgreich. Zudem wird in verschiedenen Nebenreihen und Kurzgeschichten, zu denen unter anderem Manu Larcenet, Émile Bravo oder Lewis Trondheim beitragen, der Mythos Spirou fortgestrickt. Herausragend hier vor allem Émile Bravos auf vier Bände angelegten Comicroman Spirou oder: die Hoffnung, in dem die Geschichte ins Belgien des Jahres 1940 und zurückgeführt wird. Bravo schont die Leser nicht, lenkt nicht mit einer cartoonesken Blase einer Parallelwelt ab, sondern zeigt ohne Umschweife die Lebensumstände, Herausforderungen und Entbehrungen, mit denen die Belgier während des Zweiten Weltkriegs konfrontiert waren.

Auszug aus Flix' »Spirou in Berlin«
Auszug aus Flix’ »Spirou in Berlin«

Ebenfalls in der Geschichte etwas zurück, zugleich aber neue Räume erobernd führt der erste Spirou-Einzelband eines deutschen Zeichners. Spirou in Berlin von Felix Görmann alias Flix schickt den weltweit berühmtesten Pagen gewitzt ins Berlin des Jahres 1989. Aus Braunkohle werden in dem Band Diamanten gemacht und der DDR damit eine vermeintlich unerschöpfliche Geldquelle in Aussicht gestellt. Eine gewitzte Geschichte im typischen Flix-Stil, der auch, wie er in einigen Interviews deutlich gemacht hat, einige lizenzrechtliche Vorgaben einhalten musste. Eine besondere Herausforderung also, die der Berliner Zeichner clever gelöst hat. Belohnt wird das damit, dass die bislang nur in deutsch vorliegende Geschichte auch in Belgien erscheinen wird.

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Flix: Spirou in Berlin. Carlsen Verlag 2018. 64 Seiten. 16,- Euro. Hier bestellen

Seit 80 Jahren bewegen die Helden des Spirou-Magazins die Gemüter ihrer Leser. Es gab viele große Momente und Arbeiten wie die von Emile Bravo zeigen, dass es weitere große Momente geben wird und das 80-jährige Jubiläum zumindest künstlerisch kein End- oder Höhepunkt ist, schon gar nicht für die bestehende Fangemeinde. Was den medialen Transfer des Magazins und die Gewinnung neuer Leserschaften im Internetzeitalter betrifft, ist das noch einmal eine andere Frage. Aber vielleicht bieten die prächtigen Gesamtausgaben, die nun vorliegen, einen guten Anlass, dem eigenen Nachwuchs diese zeitlosen Geschichten noch einmal in Buchform nahezubringen. Der Autor selbst hat das bei seinem 13-jährigen Sohn versucht, es hat funktioniert. Spirou und Fantasio können eine Alternative zu Youtube und Fortnite darstellen. Eine Alternative, kein Ersatz! Dennoch: gibt es eine bessere Nachricht für ein 80-jähriges Magazin?

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag ist in kürzerer Form im Rolling Stone erschienen. Dort stand, dass Jean-Claude Fournier die Redaktion mehr als ein Jahrzehnt leitete. Das ist missverständlich. Fournier war nie Chefredakteur, übernahm aber die redaktionelle Verantwortung. In diesem Text ist das korrigiert.

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