Klassiker, Literatur, Roman

Weder Heimat noch Fremde

Was heißt es, fremd im eigenen Land zu sein? Wie überwindet man die Bürde der eigenen Herkunft? Wie findet man seinen Platz in der Welt? John Okada erzählt in seinem wiederentdeckten Klassiker »No No Boy« eindrucksvoll von den Folgen getroffener Entscheidungen.

Man trifft im Leben viele Entscheidungen, manche sind richtig, andere falsch. John Okadas Roman ist, wenn man so will, ein Post-Entscheidungsroman, denn der richtungsweisende Entschluss für das, was Okada zu seinem Romanthema gemacht hat, ist bereits getroffen worden. Und zwar von tausenden Japanern, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in die USA eingewandert sind.

Mit Ausnahme der Jahre des Ersten Weltkriegs, als Japan und die USA als Alliierte kämpften, waren die Japaner in den USA permanenter Diskriminierung ausgesetzt. So schlimm wie in den Jahren nach dem 7. Dezember 1941, als die kaiserliche Luftwaffe Pearl Harbor angriff, wurde es aber nie, denn US-Präsident Franklin D. Roosevelt verhängte danach eine Order, die es erlaubte, über einhunderttausend an der Westküste Amerikas lebende »Japanese Americans« der ersten, zweiten und dritten Generation in Internierungslager zu bringen. Die männlichen Gefangenen sollten sich dann für den Militärdienst melden und gegen das Land ihrer Eltern in den Krieg ziehen. Wer sich weigerte, wurde zu Gefängnisstrafen verurteilt. »Verdammt, was für eine Scheiße, wenn sie mir das angetan hätten, würde ich garantiert nicht im Bauch einer schrittreifen B-24 hocken«, sagt ein amerikanischer Soldat seinem japanisch-amerikanischen Kameraden zu Beginn des Romans, als der ihm beschreibt, warum er gegen die Heimat seiner Eltern kämpft.

Ichiro wurde vier Jahre lang inhaftiert, weil er sich weigerte, für die Amerikaner gegen Japan zu kämpfen. Zur Verweigerung des Militärdienstes gesellt sich aber auch seine Ablehnung Japans, weshalb er als No No Boy in die amerikanische Nachkriegsgesellschaft zurückkommt, um dort irgendwie neu anzufangen. Okadas auktorialer Erzähler beschreibt die Eindrücke und Erlebnisse von Ichiro, seiner Familie, von Freunden und Bekannten in den Tagen nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis. Dabei wird das gesamte Entscheidungsdilemma der japanischen Amerikaner aufgefächert. Denn wie sollte Ichiro potentiellen Arbeitgebern Auskunft über seinen fehlenden Patriotismus geben? Was sollte er als Alternative zum Militärdienst anführen, den er nicht angetreten ist? »Keine noch so große Lüge konnte seinen Riesenfehler kaschieren.«

Okadas beeindruckender Roman, von Susann Urban wunderbar in Deutsche übertragen, ist in einer gleichermaßen bildreichen wie klaren Sprache verfasst. Die New York Times verglich No No Boy sogar mit den Werken von James Baldwin. Und wie Baldwin hält uns Okada existenziell Menschliches vor Augen.

Verzweifelt wirft Ichiro der Generation seiner Eltern vor, ihm und seinesgleichen ein Leben in den USA verbaut zu haben, weil sie selbst »nach fünfunddreißig Jahren in einem Amerika, das sie so vehement ablehnten, als hätten sie Japan keine Sekunde verlassen, japanisch sahen, fühlten und dachten« – und genau das auch von ihren Kindern erwarteten. Und während Ichiros fanatische Mutter immer noch auf den Sieg Japans wartet, trinkt sich sein Vater die hässliche Wirklichkeit schön. Nichts wie weg hier, denkt sich Ichiro und begibt sich auf eine Reise, bei der er Kenji kennenlernt und damit erstmals jemanden, der einen anderen Weg als er gegangen ist. Erst hier begreift er, dass es kein richtig und kein falsch für seine Generation gibt. Über Kenji lernt Ichiro die junge Emi kennen, deren Mann lieber ein zweites Mal in den Krieg gezogen ist, als bei ihr zu bleiben. Sie kommen sich näher und Emi wird so etwas wie seine Vertraute. Nachkomme japanischer Einwanderer in den USA zu sein, erklärt sie, sei eine Bürde, »weil wir Amerikaner sind und weil wir Japaner sind, und manchmal verträgt sich beides nicht, das ist der Grund. Wenn man Deutscher und Amerikaner ist oder Italiener und Amerikaner oder Russe und Amerikaner ist das okay, aber wenn man Japaner und Amerikaner war, war das nicht okay, wie sich herausgestellt hat. Man müsste entweder das eine oder das andere sein.«

Mitglieder der Mochida-Familie warten auf ihre Evakuierung mit dem Bus | Foto: National Archives at College Park
Mitglieder der Mochida-Familie warten auf ihre Evakuierung mit dem Bus | Foto: National Archives at College Park

Über die Charaktere wie Kenji und Emi öffnet Okada seine Erzählung für die verschiedenen Schicksale, die Amerikaner japanischer Abstammung im und nach dem Zweiten Weltkrieg ereilen konnten. Er reflektiert hier ausgehend von Ichiro, der beständig das Gefühl hat, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, dass es keine richtigen und falschen Entscheidungen für diese Menschen gab. Kenji etwa hat sich für den Militärdienst entschieden, sich im Kampf gegen das faschistische Japan aber eine Kriegsverletzung zugezogen, die nicht heilen will. Stück für Stück müssen ihm die Ärzte sein Bein abnehmen, die Aussichten auf Heilung sind schlecht.

In Kenji findet Ichiro sein absolutes Gegenstück. Im Gegensatz zu ihm hat er Amerika gedient und sich damit die Grundlage einer Zukunft geschaffen. Einer Zukunft, von der ihm nun doch nichts mehr bleibt. »Der eine, bereits tot, aber immer noch lebendig, grübelte über fünfzig, sechzig weitere Jahre totes Leben nach und der andere lebte und starb langsam. Zwei Extreme: der Japaner, der amerikanischer war als die meisten Amerikaner, weil er für Amerika bis an den Rand des Todes gerobbt war, und der andere, der weder Japaner noch Amerikaner war, weil er von dem Geschenk seines Geburtsrechts keine Notiz genommen hatte, als alles davon abhing.«

John Okada: No No Boy. Aus dem amerikanischen Englisch von Susan Urban. Weltlese / Büchergilde Gutenberg. 292 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen

Kenji ist einer von drei Protagonisten mit japanischem Hintergrund, die am Ende von John Okadas meisterhaftem Roman ums Leben gekommen sind. Bevor er das letzte Mal (mit Ichiro) in die Klinik fährt, gesteht ihm sein weinender Vater, dass er es war und nicht sein Sohn, der eine falsche Entscheidung getroffen hat. »Ich bin nach Amerika gegangen, um reich zu werden, damit ich, wenn ich in mein Dorf in Japan zurückkehre, etwas darstelle. Ich war gierig und ehrgeizig und stolz. Ich war kein guter oder kluger Mensch, sondern ein Dummkopf. Und du hast dafür bezahlt.«

Ichiro verliert mit Kenji einen Freund, gewinnt aber die Erkenntnis, dass es keine richtige Entscheidung für ihn geben konnte. So wie es auch keine richtige Entscheidung für Emi und für all die anderen jungen Amerikaner gab, deren Vorfahren aus Japan in die USA gezogen sind, um ihren Nachfahren eine bessere Zukunft zu geben. Sie alle sind Überlebende, gestählt hervorgegangen aus einem Spiel, das es nicht gut mit ihnen gemeint hat.

Gut gemeint mit uns hat es hingegen Ilja Trojanow, der diesen literarischen Kristall wiederentdeckt und in seine bei der Edition Büchergilde erscheinende Reihe Weltlesen – Lesereisen ins Unbekannte aufgenommen hat. John Okadas Roman ist ein Lehrstück im wahrsten Sinne des Wortes, dass nicht nur die Wissenslücke über das Schicksal der japanischen Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg schließt, sondern zugleich unermesslich viel von der inneren Zerrissenheit jener Menschen vermittelt, die multiple Identitäten in sich tragen, weil ihre Eltern oder Großeltern woanders geboren und verwurzelt sind. Sie müssen sich eine neue Heimat schaffen, die den Platz, an dem das eigene Herz schlägt ebenso anerkennt wie den Sehnsuchtsort, an den das Herz der Vorfahren gebunden ist. Von diesen Menschen leben hunderttausende in diesem Land. Dieser Roman trägt einen Teil dazu bei, sie besser zu verstehen.