Sasa Stanisic gewinnt im dritten Anlauf und mit seinem vierten Roman »Herkunft« den Deutschen Buchpreis. Seine Kunst ist die Fiktion, aber nichts ist erfunden. Er verbindet Zugetragenes und Gehörtes mit Erfahrenem und Empfundenem zu einem magisch-realistischen Mixtape, bei dem am Ende jeder selbst über den Ausgang entscheiden kann.
Nun ist es endlich raus. Franz Kafkas »unerhörte« Literatur hat Sasa Stanisics Begeisterung für das Schreiben geweckt. Oder war es gar nicht Kafka? Haben nicht eher die übertriebenen Erzählungen der Aral-Crew in Heidelberg seinen Drang zu schreiben ausgelöst? Oder beginnt alles bei seinen Großeltern Kristina und Petar, bei Gavrilo und den letzten Bewohnern des bosnischen Bergdörfchens Oskorusa, dessen Existenz am seidenen Faden hängt.
Wo komme ich her und wie kam ich zum Schreiben? Diese Fragen bilden den roten Faden im vierten Buch des in Hamburg lebenden Schriftstellers. Darin geht es um Zeit und Erinnerung, um Geschichte und Biografie, um Prägung, Heimatgefühl und Identität; kurz um das Gepäck im Rucksack der eigenen Biografie.
Gestern habe ich das vierte Buch beendet.
Ich schrieb und recherchierte und dachte nach ziemlich genau zwei Jahre.
Das Buch heißt HERKUNFT.
Es hat 335 Seiten und 467.757 Zeichen.
Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits.— Saša Stanišić (@sasa_s) January 9, 2019
Für Stanisics fängt die eigene Geschichte der »Herkunft« bei seiner Großmutter an. Sie ist, weil sie am Ende Ihres Lebens an Demenz erkrankt, die tragische Heldin in diesem Roman, der deshalb auch eine Hommage an sie ist. Mit ihr beginnt und endet die Reise des gleichermaßen bosnisch-deutschen wie deutsch-bosnischen Schriftstellers zu den eigenen Ursprüngen. Großmutter Kristina hält die Orte und Geschichten dieses Buches mindestens ebenso zusammen wie der autofiktionale Ich-Erzähler, um dessen Herkunft es schließlich geht.
Dafür kehrt er zumindest zeitweise zurück zum Handlungsort seines ersten Romans »Wie der Soldat das Grammofon reparierte«, nach Bosnien, wo alles seinen Anfang nahm. »Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits«, schrieb Stanisic Anfang des Jahres auf Twitter, nachdem er den Roman abgeschlossen hatte. Er erzählt darin, wie seine Urgroßmutter einen schwimmunfähigen Flößer zu sich gesungen hat, wie sich seine Großeltern fast nicht kennengelernt haben, wie er mit seinem Vater die Sternstunden von Roter Stern Belgrad erlebt hat, wie er sich erst in die rothaarige, grünäugige Rike und dann in Heidelberg verliebte und wie beinahe die Ausländerbehörde verhindert hätte, dass hier einer der fantastischsten deutschsprachigen Autoren aufwachsen konnte.
Wenn sich Stanisic nun an seine Jugend erinnert, dann scheint die Möglichkeit, dass da ein Autor von Rang heranwächst, schon am Horizont auf. »Ich las. Lernte. Spielte Nirvana auf der Gitarre und übte Headbangen und manchmal schloss ich einfach lange die Augen, um mich zu erfinden.« Wie oft hat er sich inzwischen schon erfunden, der in Hamburg lebende Autor, dem nach dem Leipziger Buchpreis für seine grandiose Uckermark-Saga »Vor dem Fest« nun für diesen Roman der Deutsche Buchpreis zugesprochen worden ist (nachdem er mit beiden Vorgängerromanen bereits auf der Longlist des Buchpreises stand)? Aleksandar in seinem Debüt ist nicht Sasa und doch spricht aus ihm unverkennbar sein Erfinder.
Der allwissende Erzähler in »Vor dem Fest« ist natürlich ein Alter Ego des Autors, der selbst monatelang in Fürstenwerder gelebt und sich auf die Menschen im Dorf sowie die die Ortschaft umgebende mythenreiche Seenlandschaft eingelassen hat. Und in seinen fulminanten »Fallensteller«-Erzählungen kehrt er zurück nach Fürstenfelde – so heißt der fiktive Ort im Roman –, um zu sehen, was der Sommer 2015 mit den ankommenden Flüchtlingen mit diesem Ort macht. Und auch da taucht er auf, der »Jugo-Schriftsteller«, der alles aufschreiben soll, damit nichts verloren geht. In »Herkunft« nun schreibt er, dass der Sommer, in dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ, ähnlich war wie jener Sommer, als er mit seinen Eltern nach Deutschland floh.
Um diesen Sommer und den Jugoslawienkrieg ging es auch in Stanisics Dankesrede für den Deutschen Buchpreis. Denn nur wenige Tage zuvor wurde ausgerechnet Peter Handke der Literaturnobelpreis zugesprochen. Eben jenem Handke, der in den Neunzigern das serbische Regime verteidigte und schrieb, dass es Opfer einer Verschwörung von Medien und der Nato sei, und der selbst Jahre später nicht von seiner pro-serbischen Position abrücken wollte und beim Begräbnis von Slobodan Milosevic sprach. Stanišić machte in der Rede seinem Ärger darüber Luft, dass da jemand mit den höchsten Meriten auszeichnet, der wissend Geschichtsverleugnung betrieb. Literatur, so der Wahl-Hamburger, sei ihrer Zeit und der Wahrheit verpflichtet.
Er beendete damit das peinliche Schweigen des deutschen Kulturbetriebs über eine Entscheidung, die die Internationale Künstlervereinigung PEN-America mit deutlichen Worten kritisierte: »In einem Moment des zunehmenden Nationalismus, der autokratischen Führung und der weit verbreiteten Desinformation auf der ganzen Welt verdient die literarische Gemeinschaft etwas Besseres als das.« Und weiter heißt es: »Wir lehnen die Entscheidung ab, dass ein Schriftsteller, der hartnäckig gründlich dokumentierte Kriegsverbrechen in Frage gestellt hat, es verdient, für seinen ,sprachlichen Einfallsreichtum‘ gefeiert zu werden.«
Mit der Auszeichnung von »Herkunft« als Roman des Jahres wird die schwedische Entscheidung nicht revidiert, aber sie erfährt doch zumindest eine Kommentierung, durch den Autor und den Roman selbst. »Ackerfurchen. Zäune. Das Kreuz in der Schnapsflasche. Polenta für die Schwiegereltern. Vijarac. Die widerspenstige Schafsherde. Gavrilo und Großmutter – später auch Dragomir – erzählten von all dem, auch um zu gedenken. Sie legten für ihre Toten eine gute Geschichte ein. Der Geschmack des Brunnenwassers ist aus Sprache gemacht. Die Sprache wird weiterfließen. Einer erzählt weiter, einer überlebt. Um zu sagen: Mein Leben ist unverständlich.« Einer erzählt weiter, einer überlebt.
Sasa Stanisic hält die Geschichte lebendig, indem er Erinnerungen in Romanform konserviert. Seine Kunst ist die Fiktion, aber nichts ist erfunden. Der in Hamburg lebende Autor ist ein moderner Bänkelsänger, zweifellos der beste, den wir haben. Mit jedem Satz trägt er die oft steife deutsche Sprache weiter hinein ins Leben. Indem er sie mutig erweitert und dekonstruiert, lässt er sie Weltläufigkeit atmen. Ob es noch eines Romans bedarf, oder zwei oder drei, bis ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den überfälligen Georg-Büchner-Preis zuspricht, bleibt abzuwarten. Aber dass es dazu kommt, kann niemand, der etwas von Literatur versteht, anzweifeln. Er verbindet in seinen gleichermaßen fantasiereichen wie realistischen Erzählungen Zugetragenes und Gehörtes mit Erfahrenem und Empfundenem, Mythen und Legenden. Dabei entführt er mit seinen Geschichten in ferne Welten, die sich bei aller Fremdheit so vertraut anfühlen, als wäre man Teil von ihnen. Was daraus entsteht ist ein magisch-realistisches Mixtape, das ebenso viel mit den halbfiktiven Figuren wie mit dem Autor und seinen Leser:innen zu tun hat. Im Kern geht er immer wieder der Precht’schen Frage »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« nach und gibt sie an den Leser weiter.
»Herkunft« ist auch ein Buch für mehr Offenheit, ein Appell, all den Abendlandsapologeten – und Handke gehört für ihn zweifellos mit dazu – nicht zu folgen. »Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben«, schreibt sein Alter Ego.
Herbert Grönemeyer, der ebenfalls durch diese Erzählungen geistert, besingt Heimat nicht als Ort, sondern als Gefühl. Wenn dem so ist, dann ist Herkunft all das, was dieses Gefühl hervorruft. Oder wie es Stanisics Erzähler schreibt: »Heimat ist das, was wir tun an einem Ort für einen Ort. Das, was nach uns bleiben könnte, weil es super ist oder zumindest merkwürdig. Heimat ist das, was wir aus einem Ort machen, für uns, für andere, damit es uns und den anderen besser geht. Heimat ist ein Verb. Wir heimaten miteinander irgendwo.« Und das ist der Moment, in dem man dankbar ist, dass in den Ausländerbehörden in Heidelberg und Leipzig in den neunziger Jahren zwei Personen saßen, die ihren jungen Klienten fragten, was er denn vorhabe mit seinem Leben. Die verschiedenen Antworten kann man in »Herkunft« nachlesen. Sie sind ein Ausgangspunkt für den Autor von Rang, der Sasa Stanisic heute ist.
[…] ist allgegenwärtig. Übrigens auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wie die Werke von Saša Stanišić, Olga Grjasnowa, Olivia Wenzel, Sharon Dodua Otoo, Senthuran Varathatajah, Ronya Othmann, Olga […]
[…] Gewonnen hatte 2019 schließlich Saša Stanišić mit seinem Roman »Herkunft«, vorher wurde die Shortlist kontrovers diskutiert. Auch Kühmels Titel, der neben begeisterten Kritiken auch deftige Verrisse auslöste. Kein Wunder, dass Kühmel findet, dass es nicht immer ein Geschenk sei, mit einem Debüt bis auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis vorzudringen. Damals hätten sich gewisse Dynamiken ineinander verschränkt. »Wenn das Debüt einer völlig unbekannten Autorin gleich zwei Preise abräumt und dann auch noch auf die Shortlist vom Deutschen Buchpreis kommt, dann ist da einfach viel Aufmerksamkeit. Einerseits war das natürlich eine gute Werbung für das Buch ist, andererseits wuchs in mir die Befürchtung, dass über das Buch hinweg gebügelt wird. Dabei war es eher ein leises Buch, das den richtigen Moment und die richtigen Leute brauchte, um zu wirken.« […]
[…] überraschend, wenngleich nicht unverdient. Der in Neu Delhi geborene und in Wien lebende Autor stand bereits 2019 mit seinem ersten Roman »Nicht wie wir« auf der Shortlist für den Deutschen Bu…, damals gewann Saša Stanišić mit seinem Roman »Herkunft« den […]
[…] Preis ausgezeichnet, der bei Preisträgern wie Clemens Meyer, Ursula Krechel, Clemens J. Setz, Saša Stanišić oder Antje Rávik Strubel auch als Steigbügelhalter für die großen Buchpreise gelten […]
[…] Es ist ein utopischer Gedanke, den Fatih, Piero, Nico und Saša da an einem heißen Sommernachmittag in einem dieser betonverbauten Viertel für die Abgehängten und Abgeschriebenen der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft wälzen. Die Erzählung führt – unverkennbar Mark-iert – in die neunziger Jahre, in die späte Jugend des 1978 geborenen in Višegrad geborenen Autors, der 1992 mit seinen Eltern vor dem bosnischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen ist. In Heidelberg fand er ein neues Zuhause und zur Faszination am Erzählen. Wer daran den größten Anteil hat, ob die Aral-Crew mit ihren übertriebenen Geschichten, die grünäugige Rieke, die mürrische Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde oder doch Stanišić selbst, kann man in seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman »Herkunft« nachlesen. […]