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Good Sex for Future oder: Love kills kapitalism

»Wir brauchen einen Systemwandel«, meint die amerikanische Linksintellektuelle Kristen R. Ghodsee und ruft zum Aufstand gegen den Hyperkapitalismus auf. Frauen spielen dabei eine besondere Rolle. Ein Gespräch über die Arbeitsmarktzugänge, guten Sex im Sozialismus und eine erstrebenswerte Gesellschaft, in der Frauen besseren Sex haben.

Woher rührt Ihr Interesse an der Erforschung der Geschlechterverhältnisse in postsozialistischen Ländern?

Ich begann meine Recherchen für meine Doktorarbeit im Jahr 1997. Damals interessierte mich die Privatisierung und Marktöffnung in Bereichen des bulgarischen Tourismussektors. Während meiner Forschung stellte ich fest, dass die Tourismuswirtschaft fest in der Hand von Frauen war, das galt sogar für die höchsten Posten, und dass diese Tatsache ein Erbe der sozialistischen Vergangenheit des Landes war. Mich faszinierte die Frage, wie sich der Einzug der Demokratie und des freien Marktes auf Frauen und ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt auswirkten.

Was haben private Beziehungen und die weibliche Sexualität mit Politik zu tun?

In der freien Marktwirtschaft werden Fürsorgetätigkeiten, damit meine ich Kindertagespflege sowie Kranken- und Altenpflege, also sogenannte Care-Arbeit, grundsätzlich abgewertet, weil sie zuhause verrichtet werden. Solange in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften erwartet wird, dass diese meist von Frauen ausgeführten Arbeiten, außerhalb des formellen Sektors erledigt werden, bleiben Frauen von den Brotverdienern – und das sind meist Männer – abhängig. Dieses Abhängigkeitsverhältnis verleiht Männern eine Machtposition. Das macht es für Frauen schwierig, aus gewaltvollen, kaputten oder auf andere Weise unglücklichen Beziehungen auszubrechen. Einzig in Gesellschaften, in denen Frauen irgendeine Form wirtschaftlicher Unabhängigkeit genießen, können sie eine freie Partnerwahl aus Liebe und Zuneigung treffen, anstatt ökonomischen Überlegungen – etwa die, ob der künftige Partner vermögend genug ist, um sie auszuhalten – zu folgen.

In Ihrem Buch sprechen Sie in diesem Kontext von »affektiver Souveränität«. Was meinen Sie damit?

Der gegenwärtige Kapitalismus sieht in menschlicher Aufmerksamkeit, Zuneigung und Emotionen zunehmend Waren, die man auf Märkten kaufen, verkaufen oder verleihen kann. Angebot und Nachfrage bestimmen dabei den Preis. Gewinnorientierte Unternehmen wie Tinder oder Parship haben sogar das Flirten und Daten kommerzialisiert. Websites wie seeking.com oder rentafriend.com festigen die Haltung ihrer Nutzer, dass Freundschaft oder Partnerschaft, einst kostbare Geschenke, als Dienstleistung von zahlenden Kunden gebucht werden können. Wenn ich von affektiver Souveränität spreche, möchte ich sowohl Männer als auch Frauen darin bestärken, sich ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit zurückzuerobern, damit sie auch weiterhin außerhalb eines wirtschaftlichen Rahmens über sie verfügen können. Wir sollten Souveräne unserer Emotionen und Zuneigung sein, statt uns zu Sklaven einer Aufmerksamkeitsökonomie machen zu lassen. Je mehr wir uns in unseren Gesellschaften vereinzeln, desto stärker werden menschliche Verbindungen zu Gütern mit einem Warenwert. Immer mehr Menschen werden sich gezwungen sehen, ihre emotionalen Fähigkeiten an Fremde zu verkaufen, statt sie mit Freunden oder in der Familie zu teilen.

Wie vollzieht sich dieser Handel mit Emotionen denn heute?

Ein gutes Beispiel dafür sind rumänische oder ukrainische Frauen, die sich um ältere Menschen in Italien kümmern. Inzwischen leiden viele von ihnen an etwas, das sie »Italien-Syndrom« nennen: Diese Frauen lassen den älteren Menschen in Italien so viel Fürsorge und Aufmerksamkeit zuteilwerden, dass sie bei der Rückkehr in ihre Heimatländer unfähig sind, Liebe und Zuneigung für ihre eigenen Kinder und Familien aufzubringen. Sie sind emotional völlig ausgetrocknet, haben all ihre Zuwendungsfähigkeit auf dem Markt verkauft. Können Sie sich eine Mutter vorstellen, die nicht in der Lage ist, ihr Kind zu lieben, weil sie sich zu lange um die älteren Mitglieder einer italienischen Familie gekümmert und dabei all ihre Emotionen aufgebraucht hat?

In Ihrem Buch berichten Sie, dass Sie während eines Besuchs in München den Slogan »Love kills capitalism« über dem Eingang einer Buchhandlung entdeckten. Kann Liebe den Kapitalismus zerstören?

Sie spielen hier auf einen Slogan an, den ich über dem Eingang zu einer Münchener Universitätsbuchhandlung entdeckt habe: »Love kills capitalism« war dort zu lesen. Ich glaube, damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass der Kapitalismus oft unser Verlangen nach Liebe und Zuneigung beeinflusst, um uns Dinge zu verkaufen, die wir nicht benötigen. Die Werbung erzählt uns jeden Tag, materielle Dinge würden uns glücklich machen, weil wir angeblich nur dann geliebt werden, wenn wir die richtigen Sachen besitzen. Der menschliche Wert wird nach monetären Maßstäben bemessen, danach, wie viel wir verdienen und kaufen können.

Wie kann hier Liebe dazu beitragen, dass sich diese Bemessung ändert?

Die Menschen begreifen zunehmend, so mein Eindruck, dass es uns nicht glücklicher macht und andere uns nicht noch mehr lieben, wenn wir immer neue Sachen kaufen. Wir können Glück in Dingen oder Aktivitäten finden, die im Grunde kein Geld kosten: Zeit mit Freunden oder mit der Familie verbringen, durch die Natur wandern, Bücher lesen, schlafen, tagträumen oder mit unserem Partner intim werden. Ob aus ökologischen oder politischen Gründen, ich glaube, wir steuern auf eine Welt zu, in der die Menschen weniger konsumieren und anfangen werden, Glück und Zufriedenheit abseits materieller Dinge zu suchen. Der Kapitalismus wird in eine Krise geraten, weil es immer weniger Konsumenten geben wird, die Produkte und Dienstleistungen kaufen. Und das ist der Grund, warum Liebe den Kapitalismus zerstören kann: weil Menschen in glücklichen und liebevollen Beziehungen nicht versuchen, die Leere und Einsamkeit in ihren Leben mit materiellen Dingen zu füllen.

Sie haben für Ihre Studien viel Zeit in Osteuropa und in Deutschland verbracht. Gab es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis?

1997 interviewte ich die Direktorin einer renommierten bulgarischen Frauenorganisation in Sofia. Die Organisation erhielt damals viele Gelder aus westlichen Ländern, um zum Aufbau einer Zivilgesellschaft beizutragen. Sie betrieb zahlreiche feministische Projekte, um die Aufmerksamkeit für sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt zu erhöhen und Anti-Diskriminierungsgesetze zu fördern. Im Laufe des Gesprächs fragte ich die Direktorin, was aus ihrer Sicht Bulgariens größtes Problem zu jener Zeit sei. Ohne nachzudenken, sagte sie: »Arbeitslosigkeit«. Daraufhin fragte ich, warum ihre Organisation kein einziges Projekt fördere, das sich um arbeitslose Frauen kümmere.

Kristen Ghodsee | S. Sehon  (CC BY-SA 3.0)
Kristen Ghodsee | S. Sehon (CC BY-SA 3.0)

Und wie lautete die Antwort?

Weil die westlichen Regierungen solche Projekte nicht finanzierten, lautete ihre Antwort. Und das, obwohl die Frauenarbeitslosigkeit in den Augen der Bulgarinnen das größte Problem darstellte, mit dem sie sich nach 1989 konfrontiert sahen. Gleichzeitig bezuschussten westliche Geldgeber aber ganz selbstverständlich Programme gegen die Arbeitslosigkeit von Männern, insbesondere dort, wo Bergbauunternehmen oder Firmen aus der Schwerindustrie bankrottgegangen waren. Zum ersten Mal wurde mir damals bewusst, dass Frauen mit dem Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus absichtlich aus dem Arbeitsmarkt gedrängt wurden. Aufgrund des Zusammenbruchs der Wirtschaft Bulgariens gab es nicht genug Arbeitsplätze, also schickte man die Frauen zurück an den Herd, auch wenn sie das nicht wollten.

In Deutschland gab es damals die besondere Situation, dass Frauen aus einem ehemaligen sozialistischen Staat auf Frauen aus einem kapitalistischen Staat trafen. Inwiefern war das von Vorteil oder von Nachteil für die jeweilige Seite?

Ich denke, es war ein Vorteil für die Frauen aus dem Westen. Ich erinnere mich an ein Treffen mit einer Geschäftsfrau aus Stuttgart, mit der ich über meine Forschung sprach. Sie sagte damals sofort: »Gott sei Dank gibt es die ostdeutschen Frauen. Ohne sie hätte ich niemals Karriere machen können.« In ihrer Kindheit habe man von Frauen erwartet, dass sie Kinder kriegten und zuhause blieben. Aber nach der Wiedervereinigung seien da die ganzen ostdeutschen Mütter gewesen, die Kitas und Kindergärten forderten, um weiter arbeiten gehen zu können. Das habe es westdeutschen Frauen erst ermöglicht, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen.

Welche Bedeutung hatte der Dokumentarfilm »Liebte der Osten anders? Sex im geteilten Deutschland« für Sie und Ihre Arbeit?

Der Film war enorm wichtig. Ohne ihn hätte ich nie das Kapitel in meinem Buch »Red Hangover« geschrieben, aus dem der Artikel für die »New York Times« hervorging, den ich letztlich zu dem Buch ausgearbeitet habe, über das wir gerade sprechen. Während meiner Zeit als Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies in den Jahren 2014 und 2015 fragte mich der Direktor, ob ich eine Diskussion nach der Vorführung des Films leiten würde. Ich kannte die hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten der Historikerin Dagmar Herzog über Sexualität in Deutschland und war der Ansicht, diese großartige Dokumentation unternehme einen spannenden Vergleich zwischen Ost und West zu diesem Thema. Doch das westdeutsche Publikum nahm den Film sehr kritisch auf. Das veranlasste mich, darüber zu schreiben, warum es so schwierig ist, die positiven Aspekte der sozialistischen Vergangenheit hervorzuheben, wenn es um Frauenrechte geht. Mein Buch ist gewissermaßen eine direkte Antwort auf »Liebte der Osten anders?«, nur dass es sich an ein amerikanisches Publikum richtet.

Warum sollten wir denn überhaupt positive Lehren aus den kommunistischen Experimenten des 20. Jahrhunderts ziehen, wo diese doch so krachend gescheitert sind?

Das stimmt, die kommunistischen Experimente sind gescheitert. Und ich möchte ganz unmissverständlich festhalten, dass ich mir keine Rückkehr zum Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts wünsche. Das Ausmaß der politischen Unterdrückung in den sozialistischen Staaten war absolut inakzeptabel, und die Planwirtschaft war eine Katastrophe. Niemand bestreitet das. Aber dank staatlicher Intervention bei sozialen Themen gab es eben auch ein paar echte Fortschritte, und die Frauenrechte sind dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Es bedarf keiner autoritären Staatssysteme, um solche politische Maßnahmen umzusetzen, einige skandinavische Länder haben es uns vorgemacht. Also warum das Kind mit dem Bade ausschütten?

Warum haben gute Ideen und Ansätze aus den sozialistischen Ländern wie die Gleichheit zwischen den Geschlechtern die neunziger Jahre nicht überdauert?

Die Vorstellung von der Gleichheit zwischen den Geschlechtern hat die neunziger Jahre nicht überdauert, weil der Übergangsprozess von einer sozialistischen in eine kapitalistische Gesellschaft Massenentlassungen erforderte. Und es war einfach, Frauen zurück an den Herd zu schicken, wo sie vermeintlich hingehörten. Mit einer Abkehr von der Gleichbehandlung konnten Staaten die Zahl ihrer Arbeitskräfte sofort halbieren. In kapitalistischen Staaten waren Frauen schon immer die Reservearmee für den Arbeitsmarkt, über die man frei verfügen konnte, wenn es notwendig war – ganz egal, was die Frauen selbst davon hielten. Die Frauen in den osteuropäischen Ländern wurden zu den Opfern des Übergangsprozesses, weil man die Arbeitslosenzahlen problemlos senken konnte, indem man Frauen zu »Hausfrauen« erklärte. In vielen dieser Staaten war das der offizielle politische Kurs, den zahlreiche Frauen damals wie heute verurteilen.

Die Frauen im Sozialismus, über die Sie sprechen, sind frei und selbstbestimmt. Übersehen Sie dabei nicht die unterdrückerischen Aspekte dieser Staaten?

In meinem Buch und in meinen wissenschaftlichen Arbeiten betone ich immer wieder den unterdrückerischen Charakter sozialistischer Staaten. Ich möchte aber, dass man zur Kenntnis nimmt, dass nicht alle Bürger im Alltag diesen Charakter zu spüren bekamen. Uns stehen mittlerweile drei Jahrzehnte »oral history« zur Verfügung, zahlreiche Menschen haben ihre persönlichen Erlebnisse geschildert und uns berichtet, dass sie in diesen autoritären Staaten ein zufriedenes und normales Leben geführt haben.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.

Wenn uns sowohl Frauen als auch Männer sagen, dass sie vor 1989 ihr Leben genossen haben, sollen wir ihre Erinnerungen dann einfach als unwahr verwerfen? Als Ethnografin ist es mein Job, Menschen und ihren Geschichten zuzuhören. Es steht mir nicht zu, ein Urteil über ihre Wahrnehmung zu fällen. Und wenn viele die gleiche Wahrnehmung teilen – etwa die, dass Frauen vor 1989 größere Freiheit genossen –, dann sollten wir nach den Gründen fragen, statt das als psychischen Langzeitschaden oder Schizophrenie abzustempeln. Nicht ich bin es, die behauptet, Frauen hätten im Sozialismus mehr ökonomische Freiheiten genossen, sondern die Frauen selbst! Nur hat ihnen bislang niemand zugehört.

Im »Jacobin«-Magazin hat die US-amerikanische linksintellektuelle Szene ein neues. spektakuläres Zuhause gefunden. Kristen R. Ghodsee gehört zu den Autor:innen des Magazins
Im »Jacobin«-Magazin hat die US-amerikanische linksintellektuelle Szene ein neues. spektakuläres Zuhause gefunden. Kristen R. Ghodsee gehört zu den Autor:innen des Magazins

Wie wird der Sozialismus in den USA gesehen?

Ganz allgemein gesagt hat der Sozialismus in den USA einen unglaublich schlechten Ruf. Das geht zurück auf die Kommunistenjagd unter McCarthy und die »rote Angst« während des Kalten Krieges. Fox News und die Alt-Right-Bewegung halten die Hysterie bis heute am Leben. Aber seit der Finanzkrise von 2008 hat der Kapitalismus bei jungen Menschen unter 35 einen noch schlechteren Ruf. Die Dinge ändern sich, weil die jungen Leute begreifen, dass die Regierung in einem demokratischen Land keine fremde Macht ist, die ihre Leben fernsteuert. Die Regierung repräsentiert den Willen der Bürger. Und die Menschen haben die Nase voll davon, sich vom Auf und Ab der Finanzmärkte bestimmen zu lassen.

Wie zeigt sich die Krise des Kapitalismus im Alltag?

Amerikanische Studenten sind mit insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar verschuldet, was sie zu Sklaven ihrer künftigen Arbeitgeber macht. Da es kein staatliches Gesundheitssystem gibt, kann eine schwere Krankheit jede Familie ruinieren, sogar solche, die krankenversichert sind; die Gig Economy macht es für viele unmöglich, ein Haus zu kaufen oder eine Familie zu gründen; die herrschenden Einkommensunterschiede wirken sich allein zum Vorteil der Kinder reicher Eltern aus, und der Klimawandel bedroht die Zukunft des gesamten Planeten. Keines dieser Probleme kann der Markt lösen, also suchen junge Menschen nach den großen Ideen für diese großen Herausforderungen. Sie wenden sich an den Staat, der helfen soll, diese Probleme zu lösen. In Amerika ist diese Skepsis gegenüber dem Markt schon gleichbedeutend mit »Sozialismus«.

Warum brauchen wir einen Systemwandel?

Wir brauchen einen Systemwandel, weil unsere gegenwärtige Besessenheit von ökonomischem Wachstum und endloser Ausdehnung des Angebots an Konsumgütern, die kein Mensch braucht, unseren Planeten unbewohnbar machen, die Einkommensunterschiede vertiefen und das Glück der Menschen zerstören. Wir leben in einer Welt, in der Profite wichtiger sind als Menschenleben. Denken Sie an die Opioid-Krise in den USA: Die Sacklers haben sich am Leid Zehntausender bereichert, weil skrupellose Ärzte ihren Patienten Schmerzmittel des von der Familie kontrollierten Unternehmens Purdue Pharma verschrieben haben, von denen diese Menschen dann abhängig wurden. Erdöl-Firmen füllen ihre Geldkoffer auf Kosten unserer Kinder und Enkel, die mit einem weniger bewohnbaren Planeten zurechtkommen müssen. Aber solange die Shareholder ihre Dividenden einstreichen, bekommen CEOs ihre Boni und an der Wall Street ist alles in bester Ordnung. Wie lange soll das noch so weitergehen?

Warum sollen dabei vor allem Frauen eine besondere Rolle übernehmen?

Frauen müssen eine aktive Rolle übernehmen, wenn es darum geht, dieses System infrage zu stellen, denn sie werden es sein, die sich in unserer hyperkapitalistischen Zukunft um die Abgehängten kümmern müssen. Wenn mehr Menschen krank, alt oder arbeitslos werden, stellt sich die Frage, wer sie ernährt und für sie Sorge trägt. Und diese Last wird zu großen Teilen von Frauen geschultert werden. Zudem haben Mütter ein größeres Interesse daran, dass wir unseren Planeten so erhalten, dass wir auf ihm unsere Kinder aufziehen und sie dort leben können.

Sie haben Ihr Buch in erster Linie für ein amerikanisches Publikum geschrieben. Was sollen deutsche und europäische Leser daraus mitnehmen?

Als ich das Buch schrieb, hätte ich nie gedacht, dass es einmal ins Deutsche oder gar in sechs andere europäische Sprachen übersetzt werden würde. Hätte ich das geahnt, hätte ich mich weniger auf ein junges amerikanisches Publikum konzentriert und mehr ein internationales Publikum im Blick gehabt. Dennoch werden europäische Leser Interessantes finden, denn es geht im Kern um die Kommerzialisierung von Zuneigung, Aufmerksamkeit und Emotionen. Und die findet schließlich auch in Europa statt. Außerdem lautet meine zentrale Frage: Wie wirkt sich der Kapitalismus auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft aus? Die jüngere Geschichte Osteuropas ist für eine Antwort auf diese Frage von herausragendem Interesse, und für Sozialwissenschaftler bietet sie geradezu perfekte Bedingungen für die Feldforschung. Wir haben es mit Gesellschaften zu tun, die keine Märkte hatten und dann 1989 den Regeln der Marktwirtschaft unterworfen wurden. Dort können wir beobachten, was mit dem Aufkommen des Kapitalismus mit den Frauen geschah. Das ist für jede Frau spannend und wichtig, die in einer kapitalistischen Gesellschaft lebt.

Können Sie sich einen nichtsozialistischen Feminismus vorstellen? Oder sind alle Feministen auch Sozialisten?

Ich glaube, alle Feministen sind Sozialisten, wenn sie wollen, dass der Staat eingreift, um das Marktversagen zu beheben, das zur Abwertung von Care-Arbeit führt. Märkte können nur kinderlose Frauen ermächtigen. Das ist vielleicht auch der Grund für den Rückgang der Geburtenraten in den kapitalistischen Gesellschaften. Frauen wissen, dass ihre Leistung als Mutter in kapitalistischen Systemen keinen Wert hat, also entscheiden sie sich für wenige oder gar keine Kinder. Wenn Frauen aber Kinder bekommen und zugleich eine gewisse Form der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bewahren wollen, dann brauchen sie die Unterstützung durch progressive staatliche Maßnahmen. Ich glaube deshalb, dass Feminismus, soll er für alle Frauen funktionieren, mit einer sozialistischen Politik einhergeht.

Ghodsee Cover
Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben. Aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Richard Barth. Suhrkamp Verlag 2019. 277 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen

Kann die Überwindung des Kapitalismus ein legitimes gesellschaftliches Ziel sein?

Ich denke, wir müssen den Kapitalismus nicht mehr überwinden, er zerstört sich doch schon selbst. Wenn wir erst einmal autonome Autos und Roboter haben oder Algorithmen, die die meisten menschlichen Aufgaben übernehmen, wer kauft dann noch all die Produkte der Unternehmen? Wenn Frauen weniger Kinder bekommen, weil es unmöglich ist, Familie und Job unter einen Hut zu bringen, wird das Wirtschaftswachstum in den Industriestaaten an sein Ende gelangen, weil es dann weniger Arbeiter, Konsumenten und Steuerzahler gibt. Wenn die Erde aufgrund des Klimawandels unbewohnbar ist, wie soll der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form dann fortexistieren? Wir werden immer Märkte für Konsumgüter brauchen. Ich will kein sozialistisches Komitee, dass die Farbe meiner Unterwäsche oder den Duft meines Duschbads festlegt. Märkte sind wunderbar für die Verbrauchsgüter, die nicht überlebensnotwendig sind. Sie wirken aber verheerend, wenn sie sich auf das Wohnen, das Trinkwasser, die Gesundheitsvorsorge oder die Bildung ausdehnen, wie das in den USA der Fall ist. Pharmakonzerne enthalten jenen lebensrettende Medikamente vor, die sie sich nicht leisten können, oder erhöhen die Preise, um kurzfristige Gewinne zu erzielen.

Also eher ein Gesellschaftssystem mit sozialistischen und kapitalistischen Elementen?

Der Kapitalismus, wie er gerade besteht, zerfällt, und wir brauchen einen Plan für die Zukunft. Andernfalls rutschen wir ab in die Art quasifaschistische Plutokratie, zu der die USA, wie ich fürchte, gerade werden. Die sozialistische Geschichte hält für uns ein paar Ideen bereit, wie sich das Wirtschaftssystem so umbauen lässt, dass nicht nur das obere eine Prozent davon profitiert. Keine Frage: Wir müssen die negativen Aspekte des Staatssozialismus aus dem 20. Jahrhunderts ablehnen. Aber es gab einige politische Maßnahmen und Ideen, die wir retten und wiederverwenden können, um die einzigartigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill bemerkte einmal, der Kapitalismus sei gut darin, Wohlstand zu schaffen, aber nicht so gut darin, ihn zu verteilen. Wir haben uns in der Vergangenheit zu sehr auf das Schaffen von Wohlstand und zu wenig auf dessen gerechte Verteilung konzentriert.

Was braucht die gute Gesellschaft der Zukunft?

Mehr Liebe. Mehr Teilen. Mehr Gerechtigkeit. Mehr Nachhaltigkeit. Weniger Hass. Weniger Gier. Weniger Eigennutz. Weniger Zeug. Eine gute Gesellschaft stellt die Menschen und ihr Glück über die Profite von Unternehmen und den Reichtum der wenigen.