Literatur, Roman

Der schmale Grat zwischen Glück und Schmerz

Dem argentinischen Autor Alan Pauls ist mit seiner »Geschichte der Tränen« eine große Allegorie auf die Geschichte Lateinamerikas gelungen.

Alan Pauls ist der Ausnahmeautor Argentiniens. Sein fulminanter Roman Die Vergangenheit, erschienen im Herbst vergangenen Jahres, trieb der argentinischen Gegenwartsliteratur neue Grundpfeiler in den deutschen Bücherboden. Auf fast 600 Seiten wandte er darin die exzessive und schicksalhafte Liebe zweier Menschen, um sämtliche Seiten einer einmal eingegangenen Verbundenheit zu sezieren, bis nichts mehr übrig bleibt, als das nackte Elend.

Alan Pauls schont seine Leser nicht. Ähnlich wie sein chilenischer Freund Roberto Bolaño mutet er ihnen die Welt in ihrer ganzen Unerträglichkeit, die sie mitunter prägt, zu – das wurde bei seinem deutschsprachigen Debüt im vergangenen Herbst deutlich. In seinem neuen Roman »Geschichte der Tränen«, dem Auftakt einer Trilogie über die turbulentesten Jahre der argentinischen Geschichte und ihre Nachwirkungen, geht es um die Empfindsamkeit. Denn »der Schmerz ist das Außergewöhnliche und darum das, was unerträglich ist.« Fast unerträglich ist dieser schmale Roman in seiner Intensität, mit der Alan Pauls das Schicksal des anonymen Protagonisten erzählt. »Er« existiert nur in der dritten Person Singular. »Er« ist niemand besonderes, »Er« ist nur einer von vielen in Lateinamerika.

Schon früh hat man als Leser das Gefühl, dass die Handlung der Geschichte der Tränen an keinen festen Ort gebunden ist. Wenn »Er« später ungerührt den Sturz Allendes im Fernsehen verfolgt, weiß man nicht, ob er als betroffener Chilene oder mit Abstand als Argentinier die Nachrichten verfolgt. Alles was weiß, ist, dass Pauls Roman die persönliche Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der in einem von einer lateinamerikanischen Diktatur geprägten Land aufgewachsen ist. Das reicht auch aus, denn es ist unerheblich, welches Land das sein soll, denn die Geschichten dieser Länder sind trotz ihrer Verschiedenheiten alle ähnlich. Kaum ein Bonmot, als Bolaños Ausruf, dass kein Ort Kafkas Strafkolonie mehr ähneln würde, als Lateinamerika, trifft diesen Umstand besser. Geschichte der Tränen ist insofern auch eine Geschichte Lateinamerikas.

9783608937107
Alan Pauls: Geschichte der Tränen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Klett-Cotta 2010. 143 Seiten. 17,95 Euro. Hier bestellen

Das besondere Talent des Erzählers ist es, geduldig zuzuhören. Schon als Kind besitzt er »die Aufmerksamkeit, der nichts entgeht, und die Fähigkeit zu verstehen.« So wird er ungefragt Zeuge und Archivar der Geständnisse und Beichten seiner nahen Umgebung. Früh interessiert er sich außerdem für linke Theorien und verinnerlicht deren Grundsätze. In den turbulenten siebziger Jahren jedoch bleibt er nur stiller Beobachter. Sein Leben ist das eines Harmlosen, der sich mit seinem Schweigen schuldig macht. Pauls Roman ist der Rückblick eines jungen Mannes auf sein skurriles Dasein in der Diktatur und auf die zahlreichen Geschichten, die ihm erzählt wurden. Geschichte der Tränen ist eine Sammlung der ihm anvertrauten persönlichen Leidensberichte, eine argentinische Geschichte der Schmerzen, wenn man so will.

Alan Pauls ist es in der Verbindung der episodisch erzählten Begegnungen des Erzählers mit Nachbarn, Freunden und Unbekannten, Militärs und Revolutionären auf faszinierende Weise gelungen, die Unauslöschlichkeit von Dunkelheit und Schmerz in der argentinischen Gesellschaft aufzuzeigen. Wer war Opfer und wer Täter? Hätte man dies erahnen können oder nicht sogar erkennen müssen? Und wenn die Täter von gestern nicht die Opfer von heute sind – und damit die leidvolle Geschichte des Landes fortsetzen –, sind sie dann nicht die zu Unrecht Verschonten? Fragen, die wir verstehen, aber im konkreten Fall nicht zu beantworten in der Lage sind. Alles, was wir wissen, ist, dass die Zusammenhänge, die ihnen zugrunde liegen, bestehen. »Schwant dir nichts, wenn dir das Glück lacht? Wird dir nichts klar, wenn einen anderen der Schmerz angrinst? Da soll kein Zusammenhang bestehen, wenn dir das Glück lacht und einen anderen der Schmerz angrinst?«, fragt ihn der schuldbeladene Oligarch, der nach einem Regimewechsel vom Folterer zum Gefolterten wurde. Die große Frage der Transformationsforschung, ob Gerechtigkeit nach Unrechtsregimes überhaupt möglich ist, schwebt wie ein undurchdringlicher Nebel über den Seiten dieses intensiven Romans.

Was Pauls in Die Vergangenheit strikt unterließ, nämlich die Einbindung der argentinischen Geschichte in die Handlung seiner Erzählung, holt Pauls nun mit dieser Trilogie sukzessive nach. Der erste von drei Romanen ist eine Allegorie auf Schuld und Verantwortung, eingepflanzt in eine schizophrene Gesellschaft, in der Unschuld schlichtweg nicht existiert, in der jede Biografie unter einem doppelte Boden düstere Geheimnisse verbirgt. In der sich hinter jedem Namen zwei Menschen verbergen, »mindestens zwei, die sich auch noch widersprechen; eine, die Sicherheit verheißt, und eine, die mit vorgehaltener Pistole raubt und vergewaltigt; eine, die Landesgrenzen bewacht, und eine, die mit der Kokarde auf der Brust plündert und mordet; eine, die Segen und Trost spendet, und eine, die sich im Beichtstuhl von Messdienern wichsen lässt«.

Doch früher oder später löst sich die Maske des Bösen und die hässliche Fratze des Vergewaltigers, Mörders und Perversen wird sichtbar. Dann ist Zahltag und das Spiel aus Schuld und Verantwortung geht von vorn los. Nüchtern resümiert der Erzähler dies als lateinamerikanische Variante von Schuld und Sühne. Sein eigenes Schmerzempfinden, das immer hinter dem Leid der anderen zurückstehen musste, ist verkümmert. Den gewaltsamen Sturz Allendes in Chile und damit den Auftakt in die lateinamerikanische Finsternis nimmt er nur achselzuckend zur Kenntnis. Zwei Tage nach der Machtübernahme durch Pinochets Truppen beendet der Erzähler, wohl aus Prinzip, seine Beziehung zu einer Chilenin. Fünf Tage lang weint die junge Frau, nicht wegen der vor aller Welt stattfindenden politischen Morde der rechten Putschisten, sondern wegen der gescheiterten Beziehung.

Womöglich leidet Lateinamerika bis heute nicht nur an den Gräueltaten seiner diktatorischen Regimes, sondern ebenso sehr auch an der Ignoranz der Vielen, die diese erst möglich gemacht haben.