Comic

Ein Mann mit Ecken und Kanten

Der preisgekrönte Comic »Asterios Polyp« des Amerikaners David Mazzucchelli mag erzähltechnisch ein sperriges Monstrum sein. Kunstästhetisch jedoch ist es ein umwerfendes Kleinod in der vom »Graphic-Novel«-Wahn gleichgeschalteten Comicwelt.

Kein literarisches Genre wächst derart stark wie das der sequenziellen Literatur. Unter dem Schlagwort der »Graphic Novel« bringen die Verlage einen Sprechblasenband nach dem anderen auf den Markt. Neben vielen sehenswerten Werken ist darunter aber auch viel Enttäuschendes. Das rege Interesse an der neunten Kunst führt aber nicht nur zu ihrer wachsenden Präsenz in der Öffentlichkeit, sondern auch zu einer Standardisierung der Zeichenstile und der Text-Bild-Choreografien. Die Experimentierlust – vor allem der Mut zur Lücke bei den Verlagen – lässt nach. Schließlich müssen in Zeiten der wachsenden Konkurrenz im Comic-Sektor zusätzliche Leser gewonnen werden. Dies gelingt nun mal besser mit Comicbänden, die auch dem Neuling ohne große Anstrengung zugänglich sind.

David Mazzucchellis Asterios Polyp gehört definitiv nicht zu solchen einfach zu konsumierenden Comictiteln. Der Band ist in seinem ästhetischen Anspruch alles andere als seichte Kost. Die in Pastellfarben ausgeführten Zeichnungen, die in ihrer Mischung aus 80er-Jahre-Ästhetik und abstraktem Kubismus ein neues visuelles Erlebnis schaffen, heben sich anspruchsvoll ab von dem harmlos-wilden Einheits-Schwarz-Weiß, das eine Vielzahl der aktuellen Comicbände prägt. Dies wird schon auf dem Titel deutlich. Übereinander gelegte, scherenschnittartige Lettern auf unterschiedlichem Farbgrund, links eine seltsame Figur, die eher an Enki Bilals Zukunftswesen als an eine Realfigur erinnern lässt. Die Fachwelt zeigte sich von dem, was sich hinter diesem Cover verbirgt, begeistert. Jeweils drei Harvey- und drei Eisner-Awards in den USA sowie den Sonderpreis der Jury bei Europas wichtigstem Comicsalon in Angoulême sprechen für sich.

Asterios Polyp ist die Hauptfigur von Mazzucchellis erstem, selbst verfasstem Comic-Roman. Seine Ideen und seine Kreativität als Architekt sind hoch angesehen, allerdings werden sie niemals umgesetzt. Hochintelligent scheint er als Dozent jedem Thema gewachsen zu sein, und zugleich erzeugen all seine Ausführungen kaum Verständnis. Zahlreiche Affären und jüngere Geliebte säumen seinen Lebensweg, doch zum tief empfundenen Glück war er nie in der Lage. Seiner Intelligenz fällt die Empathie, seinem Reden das Verstehen, seiner Virilität die aufopferungsvolle Liebe. Asterios Polyp ist ein komischer Kauz.

Mazzucchelli entreißt diesem Kauz an dessen 50. Geburtstag sein Leben. Asterios Polyps gesamte Existenz fällt einem Wohnungsbrand zum Opfer. Doch statt dem Verlorenen hinterherzutrauern, nimmt der egozentrische Dozent den nächsten Bus in eine ungewisse Zukunft. Ein Zufall treibt den überaus klugen, aber wenig empathischen Professor in das offene Haus eines grundsympathischen KfZ-Mechanikers. Er findet dort etwas, das man Familie nennen kann. Konfrontiert mit diesem unverhofften Glück blickt Asterios Polyp auf sein Leben und insbesondere auf seine gescheiterte Ehe mit der deutlich jüngeren Künstlerin Hana Sonnenschein zurück.

Die Ehe hielt nur aufgrund der Anziehungskraft der Gegensätze zwischen der Künstlerin und dem Dozenten. Die unüberbrückbare Differenz beider wird schon in den Namen deutlich. Sonnenschein versus Nesseltier, Sonnenschein mit Krake, Sonnenschein und Geschwulst… So muss es lauten, folgt man den Wortbedeutungen von Polyp. Und egal in welcher Variante, man bekommt dieses Paar einfach nicht in ein positives Verhältnis gedreht. Und dies beweist sich dann auch in ihrer Liaison, welche von dem Übermenschen Asterios Polyp dominiert wird. Erst als Hana erste Aufträge erhält und dort reüssiert, wo ihr Mann stets scheiterte – in der Praxis – dreht sich das Beziehungsgeflecht. Der blendende Stern von Asterios Polyp beginnt zu sinken und mit ihm die zum Scheitern verurteilte Beziehung.

Mazzucchelli übersetzt die Unterschiedlichkeit seines Personals genial in Bilder. Geraten seine Protagonisten in Konflikt, tauchen sie ein in eine strenge Form- und Farbwelt, deren Kodierung eine Trennung des weiblichen und männlichen Prinzips in rote Schraffierung und blaue Geometrie vorsieht. Dieses Prinzip der atmosphärischen Zeichnung zieht sich durch den gesamten Comic, so dass beispielsweise die Nähe suchende Hana in weichen Linien ausgeführt ist, während sich der kantige und unnahbare Asterios im Laufe der Beziehung immer stärker in eine Gliederpuppe aus geometrischen Formen verwandelt. Dabei nähert sich die Hauptfigur zugleich seinem zur Geburt verstorbenen Zwillingsbruder an, der – anfangs nur als Strichmännchen angedeutet und mit fortschreitender Erzählung konkrete Gestalt annehmend – das Leben des verkopften Architekten wie ein Schatten begleitet. Dieser Schatten symbolisiert das immerwährende Schuldgefühl Asterios Polyps, als »Auserwählter« die Geburt überlebt zu haben.

David Mazzucchelli findet in der Sprechblasengestaltung weitere ikonische Übertragungen der unterschiedlichen Gefühls- und Stimmungslagen seiner Figuren, für die er individuelle Formen, Ränder und Schrifttypen entworfen hat oder sie atmosphärisch zu »Sprechblasentänzen« anordnet. So werden sie selbst zum Element der psychosozialen Zuschreibung im Bild, die Formalien des Comics werden zum gestalterischen Bilderrätsel.

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David Mazzucchelli: Asterios Polyp. Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger. Eichborn-Verlag 2011. 344 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen

Mazzucchelli gelingt es auf erfrischende Art, im Zusammenspiel von Text und Bild, Farb- und Formgebung neue Bedeutungsebenen zu eröffnen, die entdeckt werden wollen, um seiner Erzählung Tiefe zu geben. Dabei gerät die Erzählung zuweilen aus dem Ruder, das begeisterte Experimentieren mit Formen und Farben gewinnt Überhand. Nur so ist es zu erklären, dass Asterios Polyps Rückblick auf das eigene Leben und das Scheitern an der eigenen Beziehungsunfähigkeit in befremdlicher Sachlichkeit erfolgt. Dieser komische Kauz von Architekt will dem Leser weder sympathisch noch unsympathisch werden. Mazzucchelli lässt in seinem anspruchsvollen Stil, der künstlerische Augenweide und kreatives Feuerwerk zugleich ist, den Leser bis zum Schluss nicht an seine Hauptfigur heran. Asterios Polyp bleibt dem Leser erstaunlich fremd und fern.

Das kann enttäuschen, muss es aber nicht, wenn man den Comic als das behandelt, was er sein will: ein Genre-Comic. Ein Werk, welches mit den Grenzen des Möglichen im Bereich der comicalen Kunst spielt und experimentiert, Genregrenzen durchbricht und zu dem zurückkehrt, was Comic einstmals ausmachte: der Interdisziplinarität.

Dass Mazzucchelli dies glänzend beherrscht, weiß man seit seiner Adaption von Paul Austers Stadt aus Glas. Auch hier sind die Zeichnungen eher technisch gehalten und lassen wenig Gefühl entstehen, weil das Experimentieren mit den Grenzen des im Comic Umsetzbaren sowie die notwendigen Grenzüberschreitungen im Vordergrund standen. David Mazzucchellis experimentierfreudiger Stil erinnert an die Arbeiten weniger bekannter, aber umso aufregenderer Comicautoren wie Saul Steinberg oder Benoît Peeters.

Comic-Neulinge setzt sein Werk einer harten Probe aus, als (intellektueller) »Initiationscomic« mag Asterios Polyp gut gemeint sein, ist aber denkbar ungeeignet. Comicliebhaber hingegen werden von diesem anspruchsvollen Band kaum genug bekommen, denn sie begegnen lange vermissten Spielereien auf der Ur-Ebene des Comics – irgendwo in der endlosen Welt zwischen Text und Bild.