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Ein Jahr unter der Lupe

Das Jahr 1913, welche Bedeutung hat es in der kollektiven Erinnerung der Welt? Es ist das Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Florian Illies beweist mit seiner famosen Collage »1913. Der Sommer des Jahrhunderts«, das dieses Jahr mehr ist, als das.

Für den Kunsthistoriker Florian Illies ist das Vorkriegsjahr der Höhepunkt des Jahrhunderts – wohl auch, weil über den folgenden Jahren der Schatten der deutschen Geschichte liegt. Das Jahr 1913 aber steht noch ganz im Lichte des Moments und pulsiert. Auguste Rodin, Henri Matisse, Pablo Picasso und Marc Chagall präsentieren in Paris eine Gemäldesensation nach der anderen.

In Wien sorgen Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele für Furore unter den Galeristen, während Dr. Sigmund Freud die Sexualität von ihren Fesseln befreit. So liebt es sich für Rainer Maria Rilke und Lou Andreas Salomé ganz ungeniert. Dabei ist Freud selbst in Not, denn er wird 1913 mit seinem Schüler C.G.Jung die Klingen kreuzen.

Herzklopfen und Ohnmachtsanfälle ruft auch die gewaltige Explosion des deutschen Expressionismus hervor, Franz Marc (Titelbild) ist einer der wichtigsten Vertreter. Sie lenkt vom Verbleib der gestohlenen Mona Lisa und der im Depot der Berliner Museen versteckten Nofretete ab.

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Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer Verlag 2012. 320 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Illies einzigartige Montage fügt sich zu einem grandiosen Porträt eines Jahres, in dem sich die Ereignisse in Kunst, Wissenschaft, Literatur, Politik und Gesellschaft überschlagen. Kein Wunder, dass ein Phänomen namens »Neurasthenie« 1913 zur Modekrankheit avanciert: »Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie.«

Der erste Satz in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« – wirkt wie aus der Zeit gefallen. Gottfried Benn, Robert Musil, Franz Kafka, James Joyce, Arthur Schnitzler oder Thomas und Heinrich Mann, sie alle gehören zur »übermüdeten Avantgarde«, der die Last ihrer großen Romane den Schlaf raubt.

Florian Illies ist kein Proust. Und dennoch ist er es, der uns Lesern den Schlaf raubt. Zumindest für eine Nacht, in der wir dieses Buch, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen wollen, bevor nicht die letzte Seite erreicht und alles in Vergessenheit Geratene gegenwärtiger ist denn je.

3 Kommentare

  1. […] in Maison-Laffite, Sitz der Redaktion von Kultura, die Tasse Tee bei Hans Sahl, das Gemälde von Oskar Kokoschka (oder doch von Karl Schmidt-Rottluff?) bei Mariana Frenk-Westheim. Es sind die […]

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