Geschichte, Sachbuch

»Keine kleine Beamtenseele«

Adolf Eichmann on trial

Die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth legt die persönlichen Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers Avner Werner Less vor. »Lüge! Alles Lüge!« ist eine unter die Haut gehende Rekonstruktion des Abgründigen.

Was muss in diesem Mann vorgegangen sein, als er dem Teufel gegenüber saß und ihn im sachlichem Behördenton erklären lassen musste, warum er Millionen europäische Juden ins Gas geschickt hat? Dank Bettina Stagneth erfahren wir es, denn sie hat die Tagebucheinträge und Briefe des Eichmann-Verhörers Avner Werner Less zusammengetragen, überarbeitet, editiert und mit einem sehr erhellenden Vorwort versehen.

Das Zitat, dass dem Buch seinen Titel gibt, fiel der Philosophin bei den Recherchen zu ihrer das Eichmann-Bild korrigierenden Studie Eichmann vor Jerusalem aus dem vergangenen Jahr in die Hände. So viel Emotion in so wenigen Buchstaben, da habe sie gewusst, dass es sich bei Avner Werner Less um einen besonderen Menschen handeln würde. Und tatsächlich, dieser Mann ist eine Ausnahmegestalt in der internationalen (Rechts-)Geschichte. Mehr als 257 Stunden saß er dem Mörder seines Vaters gegenüber und ermöglichte das mit 3.564 Seiten längste Verhörprotokoll der Justizhistorie.

Lüge, alles Lüge
Avner Werner Less / Bettina Stagneth: Lüge! alles Lüge! Arche Verlag 2012. 352 Seiten, 19,95 Euro. Hier bestellen

In seinen Aufzeichnungen, die er selbst nie vollenden konnte, hielt der stets um Sachlichkeit bemühte Less fest, was nicht in das Protokoll einfließen konnte – seine Gedanken und Beobachtungen, die sich bei ihm während des monatelangen Verhörens des deutschen Massenmörders Adolf Eichmann einstellten. Aussagen wie »… er berauscht sich an seinen eigenen Lügen und Phantasiegebilden« lassen hinter die Fassade dieses Mannes blicken.

Less habe Eichmann durchschaut, meint Stangneth. Er widerspricht (wie auch die Herausgeberin seiner Aufzeichnungen) der Einschätzung Hannah Arendts, die während des Eichmann-Prozesses schreib, dass der Verantwortliche für die Massendeportationen die Verkörperung des »gewissenlosen« Beamten und damit der Banalität des Bösen ist: »Dieser Mann ist keine kleine Beamtenseele, bei ihm ist alles Taktik, logische List…«. Lüge! Alles Lüge! ist eine ebenso erschütternde wie erhellende Dokumentation einer Begegnung, der aufgrund ihrer Intensität auch eine unfreiwillige Intimität innewohnt, und die einen anderen Blick auf den Massenmörder Adolf Eichmann zulässt.