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Demokratie einklagen

Die Debatte um den Legitimationsverlust der klassischen repräsentativen Demokratie befand sich im Dornröschenschlaf. Die Finanzkrise hat sie aufgrund des eklatanten Mangels demokratischer Verständigungsprozesse im rasanten Tempo der Märkte neu entfacht. Besteht die Demokratie nur noch aus der formalen Hülle ihrer Institutionen, die durch eine elitäre Kultur von Experten ersetzt wurde? Oder liegt in der Krise die Chance auf die Re-Politisierung der Gesellschaft?

»Ich habe gelernt: Je mehr man davon wagt, desto fester musst Du sie im Griff haben«, ranzt ein empörter Herbert Wehner dem Kanzleramtschef Horst Ehmke auf der Bühne im Deutschen Theater in Berlin entgegen. Auf dem Spielplan steht Michael Frayns Demokratie. Das Stück handelt von Willy Brandts Kanzlerjahren. Brandt, der 1969 mit dem Slogan »Mehr Demokratie wagen« als erster Sozialdemokrat nach dem Zweiten Weltkrieg ins Kanzleramt einzog, revolutionierte mit seinem urdemokratischen Vorhaben die Bundesrepublik; und, wie Wehners autoritärer Seufzer vermuten lässt, auch die eigene Partei.

Die Aussage, die Bürger seien politikverdrossen, kann angesichts der Leidenschaft, mit der sie für eine bessere Demokratie eintreten, nicht aufrechterhalten werden.

Prof. Dr. Rita Süßmuth zur These der allgemeinen Politikverdrossenheit in der Bevölkerung

»Onkel Herberts« Ruf nach einem festen Griff hallt bis in die Gegenwart nach. Den verfassungsgemäßen Vorgaben, dass alle Macht vom Volk ausgehen solle und Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken, steht eine Wirklichkeit gegenüber, in der die Macht von den Parteien ausgeht und die Bürger noch hier und da an der Willensbildung mitwirken dürfen. Die politische Klasse hat die Auseinandersetzung um Alternativen den Notwendigkeiten eines von der Leine gelassenen Marktes überlassen; die aktuellen Zustände wurden schließlich demokratisch herbeigeführt. Die gesellschaftlichen Umstände seien ja »nicht über uns gekommen«, gab jüngst die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh zu bedenken. Vielmehr sei die Deregulierung der Märkte »in demokratischen Prozessen von demokratisch gewählten Vertretern möglich gemacht [worden], weil diese einer bestimmten wirtschaftlichen, ökonomischen Theorie vertrauten«.

Die Konsequenzen sind bekannt: Der politische Diskurs ist abgelöst von einem medial begleiteten Schauspiel; Politik und Ökonomie sind zusammengerückt; soziale Sicherungsmechanismen wurden ab und Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen aufgebaut. Die Hoffnung ruht auf den »Selbstreinigungskräften des Marktes« und der Auslagerung von politischen Entscheidungen in »Expertengremien«. Die Bürger sind in diesem Kasperletheater zum Publikum degradiert, das ab und an darüber abstimmen darf, wer die Rolle des Königs und wer die des Kaspers besetzen soll.

Der Souverän wendet sich enttäuscht von dieser Demokratie ab, die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren. 82 Prozent der Bürger sagen, dass in den politischen Prozessen »auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht« genommen werde. Nur fünf Prozent halten laut einer Forsa-Umfrage die Politik durch Wahlen »in starkem Maße« beeinflussbar. Parlamentariern müssten diese Zahlen die Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Sie spiegeln das sinkende Vertrauen der Bevölkerung in die Politik, ihre Legitimationskrise. Statt diese zu reflektieren, sprechen Politik und Medien euphemistisch von der »Politikverdrossenheit« des Wählers. Nicht der Niedergang der Demokratie ist das Problem, sondern die dreiste Enttäuschung des Souveräns über seine Entmündigung.

Man denkt oft, Demokratie ist dann gesund und funktioniert, wenn es allen gut geht oder wenn alle das Gefühl haben, dass es ihnen gut geht. Das ist aber leider nicht so. […] Demokratie ist vor allem erst mal ein Verfahren. 

Juli Zeh zum Wesen der Demokratie

Der britische Soziologe und Politikwissenschaftler Colin Crouch hatte den Zerfall der demokratischen Regeln und Institutionen bereits 2004 mit dem Begriff der Postdemokratie erfasst. Wenn Wahlen zu einem reinen Spektakel verkommen, weil »konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte« kontrollieren und die reale Politik hinter verschlossenen Türen – »von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten« – gemacht wird, herrschen nach Crouch postdemokratische Zustände. Die Mehrheit der Bürger spielt nur eine passive, apathische Rolle.

Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, Andreas Wirsching, führt in seiner lesenswerten Analyse Der Preis der Freiheit drei Gründe für die Krise der Demokratie an: Erstens die gestiegene Bedeutung informeller Verfahren bei der Lösung politischer Probleme zum Nachteil der klassischen Verfassungsorgane (Stichwort: Hinterzimmerpolitik). Zweitens der »Dauerdruck der Medien«, der zu inhaltsleeren Politikeräußerungen sowie zu medialen Kampagnen von, für oder gegen Politiker geführt habe. Drittens die Reduzierung des Politischen auf Einzelpersonen, von denen die Auflösung der gestiegenen Komplexität erwartet werde. Politische Handlungsmöglichkeiten, mediale Darstellung und Wählererwartung fielen völlig auseinander, was schließlich zur demokratischen Degeneration führe, die als »Politikverdrossenheit« in das kollektive Bewusstsein eingegangen ist, meint Wirsching.

Im September 2011 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Pressekonferenz zur Eurokrise, dass man Wege finden werde, »die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist«. Gemeint war, dass ein Veto des Bundestags zu den zugesagten Hilfszahlungen aufgrund des Drucks der Märkte mit allen Mitteln zu verhindern ist. Nicht die Parlamente geben den Märkten den Takt vor, sondern sie lassen ihn sich von den Märkten vorgeben (siehe auch unser Interview mit Ingo Schulze).

Mittlerweile zweifelt niemand mehr, dass die demokratischen Staaten der kapitalistischen Welt nicht mehr nur einen Souverän haben, sondern zwei: unten ihr nationales Volk, oben die internationalen »Märkte«.

Wolfgang Streeck zum demokratischen Kapitalismus.

Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, lohnt ein Blick in die Anfänge der Demokratie. Der griechische Philosoph Aristoteles ordnete die demokratische Ordnung den Perversionen der Politie zu, weil sie nur den Armen zum Vorteil gereicht, die als Masse die Reichen unterdrücken würden. Erst Jahrtausende später konnte der Staatstheoretiker Carl Schmitt den modernen Staat guten Gewissens als einen demokratischen Staat beschreiben konnte, in dem die Demokratie als »Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« zu verstehen ist.

Inzwischen scheinen wir wieder bei Aristoteles zu sein. Schmitts Definition legt als Blaupause der parlamentarischen Demokratie deren gegenwärtige Defizite schonungslos offen. Eine Identität von Regierenden und Regierten kann seit Jahren nicht mehr belegt werden. Stattdessen wird von einem Auseinanderfallen der Gesellschaft gesprochen, der Aufteilung in »die da oben« und »die da unten«. Letztere werden aus dem demokratischen Prozess gedrängt und zum braven Abnicker einer Politik degradiert, die sich »den Notwendigkeiten der Märkte« beugt.

Der Soziologe und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, spricht von einem »Trend der Gesellschaftsspaltung«. Offenbar ein globales Phänomen, wie unlängst der renommierte französische Soziologe Luc Boltanski andeutete: »Zugestehen muss man freilich, dass sich auch die parlamentarische Demokratie als kompatibel mit einer Art der Machtausübung erweist, in der es schwerfällt, das Ideal einer ‚Macht des Volkes für das Volk‘ wiederzuerkennen. Bei etlichen Regierungssystemen, die sich auf die Demokratie berufen, nährt die Annäherung zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten den Verdacht, dass man es mit einer gleichsam oligarchischen Macht zu tun hat.«

Wir werden als Gesellschaft nicht überleben können, wenn wir nicht wieder zu einem solidarischen Verhalten zurückfinden. 

Günter Grass über die Notwendigkeit der Solidarität.

Mit der Annäherung von Politik und Ökonomie geht eine gesellschaftliche Entsolidarisierung von den Schwachen einher, die von oben nach unten gereicht wird und sich im Rechtspopulismus Bann bricht. Wenn Flüchtlinge und Einwanderer pauschal zur abzuwehrenden Bedrohung des Staatshaushalts degradiert, von Transferleistungen Abhängige gemeinhin als »Sozialschmarotzer« beschimpft und die Kritiker der marktgläubigen Ideologie grundsätzlich zu »gewaltbereiten Linksextremisten« abgestempelt werden, muss man sich über den Rechtsruck in den westeuropäischen Gesellschaften nicht wundern. Er ist Ausdruck einer Ideologie der »belebenden Konkurrenz«, in der sich jeder selbst der nächste ist. Der homo oeconomicus ist anderen Menschen gegenüber gleichgültig eingestellt, »es mangelt ihm an jeder Empathie«, er habe »keine soziale Kompetenz«, meint der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich. »In der politischen und ökonomischen Wirklichkeit hat der Begriff der Solidarität all seinen humanistischen Glanz und seine innere Freiheit verloren«, ergänzen der Politologe Markus Metz und der Kunsthistoriker Georg Seeßlen in ihrer aktuellen Streitschrift Bürger erhebt euch!.

Dass der gesellschaftliche Anteil dieser von »Transferleistungen« Abhängigen proportional mit dem Einfluss der Ökonomie und dem Vermögen der wenigen Reichen immer weiter wächst, wird weder politisch noch medial aufgearbeitet. Erst die Occupy-Bewegung hat mit ihrem Slogan »Wir sind die 99 Prozent« ein Bewusstsein für die ungleiche Verteilung von Einfluss und Gütern geschaffen.

In den vergangenen Jahren haben die Marktgläubigen nicht nur die politischen Prozesse und die Lebenswirklichkeit okkupiert, sondern auch Geist und Sprache der Moderne. Die Gegenwart ist durchzogen vom Glauben an »die Selbstheilungskräfte des Marktes«. Allgemeingüter, Staatsaufgaben und Wohlfahrtspflichten werden dem Markt und seiner Logik der »schlanken Strukturen« überlassen, in denen »Synergieeffekte« genutzt werden sollen, um »Gewinne zu maximieren« und »Verluste auszulagern«. Noch einmal Boltanski: »Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, und mehr noch seit etwa einem Jahrzehnt, hat man ein derartiges Regieren aufkommen sehen, dass ich ‚geschäftsführend’ nennen möchte. Es beruht auf einer Verallgemeinerung von Managementmethoden, die aus der Wirtschaft kommen und sich nun auch in der Schule, dem Gesundheitswesen, in der Kultur breitmachen, ja im gesamten öffentlichen Dienst.«

Der Glaube an die unsichtbare Hand des Marktes hat sich hartnäckig gehalten. Die Leute glauben entweder zu blind an ihre Allmacht und Allgegenwart und betrachten sie als (verkappte und daher unsichtbare) Lösung für nahezu alle Probleme des Lebens und der Welt oder halten sie für die Wurzel allen Übels.

Tomáš Sedláček über die unsichtbare Hand des Marktes, die alles reguliert

Dieses geschäftsführende Regieren nennt sich new public management. Derer die Wirklichkeit beschönigende Worthülsen gibt es viele, wie der Schriftsteller Ingo Schulze in seiner Dresdener Rede im Februar deutlich machte: »Steuersenkungen für Unternehmen und Unternehmer werden Entlastung der Investoren genannt, aus der Senkung der social security wird Leistungskürzung für Arbeitsunwillige, die Belastung für Arme heißt Eigenverantwortung, die Kürzung der Arbeitslosenhilfe wird zum Anreiz für Wachstum, die Senkung der geringsten Einkommen wird als globale Konkurrenzfähigkeit oder marktgerechte Beschäftigungspolitik bezeichnet, Gewerkschaften, die für Flächentarifverträge eintreten, werden zu Tarifkartellen und Bremsern und so weiter.«

Dieses Managen des Sozialen hat dazu geführt, dass zahlreiche Maßnahmen des Wohlfahrtssystems in den ehrenamtlichen Bereich ausgelagert wurden, der wie kein anderer Wirtschaftszweig gewachsen ist. Zugleich haben sich die Bürger aus den Parteien massenhaft zurückgezogen. Die Verschiebung des Bürgerengagements von den Parteien zum sozialen Engagement und die damit einhergehende Trennung von politischer Entscheidung und Werteorientierung beobachtet der renommierte Politologe Herfried Münkler mit Sorge. Die Demokratie trockne an ihren Graswurzeln aus, fürchtet er (siehe auch Nicht die gierigen Bänker sind schuld). Neben die Krise der Demokratie tritt die der Parteien, die als Orte der politischen Debatte ausbluten. Eine Stärkung der Demokratie ist ohne die Rückkehr der Bürger in die Parteien unvorstellbar.

Das deregulierte Wirtschaftssystem wurde über die Verschuldung öffentlicher Haushalte mit noch nicht verdienten Geldern am Leben gehalten. Dass nun der mit Steuergeldern gerettete Finanzmarkt gegen jene Staaten wettet, die ihre angeschlagenen Haushalte zum Zwecke der Bankenrettung völlig überreizt haben, ist die bittere Ironie der Geschichte. 

Es gilt, einen Weg zu finden, der von gegenseitiger Loyalität gekennzeichnet ist, aber gleichzeitig eine Ahnung davon gibt, warum es sich lohnen kann, den Wertekanon von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf einem großen europäischen Level zu leben. 

Ulrich Khuon zur aktuellen Lage in Europa

Die Frage, ob die gegenwärtige Krise Ergebnis des nicht vollständig vollzogenen Paradigmenwechsels hin zur neoliberalen Ordnung oder eben dessen Folge ist, wird allenfalls von Intellektuellen und Wissenschaftlern gestellt. Dabei müsste sich eine an den Bedürfnissen des Souveräns ausgerichtete Politik demokratischer Legitimation mit genau dieser Frage auseinandersetzen. Die Fähigkeit von Regierungen, zwischen den Rechten der Bürger und den Erfordernissen der permanenten Kapitalbildung zu vermitteln, sei jedoch stark zurückgegangen, schrieb Wolfgang Streeck unlängst in Lettre International. Die Demokratie stecke in einer tiefen Krise: »In Ländern wie Griechenland oder Irland gar wird alles, was an Demokratie erinnert, auf viele Jahre hinaus faktisch suspendiert sein; um sich im Sinne der internationalen Märkte und Institutionen ‚verantwortlich’ zu verhalten, werden nationale Regierungen strikteste Einsparungen verordnen müssen, um den Preis, für die Bedürfnisse der eigenen Bürger zunehmend unempfänglich zu sein.«

Ein Exempel statuiert wurde, als der ehemalige griechische Ministerpräsident Giorgios Papandreou ein Referendum über die Sparauflagen der EU anregte. Ein Aufschrei der Empörung kam aus Berlin, Paris und Brüssel, das Referendum wurde abgesagt. »Die Reaktion der europäischen Eliten sind doch bezeichnend für ein Klima, in dem jedwede Einmischung des Volkes, ob in Form der Billigung oder der Ablehnung einer politischen Entscheidung Panik auslöst«, kommentierte kürzlich der griechische Historiker Antonis Liakos.

Die Mittel der direkten Demokratie geraten ins politische Abseits; die demokratischen Verfahren würden durch ein (wirtschaftsfreundliches) »Demokratie-Spiel« ersetzt, spitzen Metz und Seeßlen zu. Die Vorgänge rund um Stuttgart 21 seien der jüngste und spektakulärste Fall dieses Schauspiels von Partizipation und Transparenz. Allein das hohe Quorum und die Drohkulisse der enormen Kosten bei Abbruch des Projekts deuteten auf eine Ausrichtung der Volksbefragung auf ein bestimmtes Ergebnis hin. 

Jetzt wäre da noch Platz, mal aufzustehen und zu sagen: Nein, wir machen nicht alles mit!

Julia Friedrichs zur Frage, ob es noch Gestaltungsspielraum gibt.

Bürger- und Wirtschaftsinteressen stehen sich auch bei der finalen Lagerung der Castor-Behälter konträr gegenüber. Diese Überbleibsel einer Energiepolitik, von der im Wesentlichen die Konzerne profitiert haben, sollen nun auf Kosten der Bevölkerung gelagert werden. Gleiches gilt für die unterirdische Kohlendioxideinlagerung. Dass Mitarbeiter der Fraport AG als Leihbeamte in Bundes- und Landesministerien über den Ausbau des Frankfurter Flughafens mitbestimmen, treibt Bürger auf die Straße, Politikern aber nicht einmal die Schamesröte ins Gesicht. Und während dem normalen Verbraucher die Stromkosten erhöht wurden, erhielten die »stromintensive Industrie sowie atypische Verbraucher« auf Vorschlag der Bundesnetzagentur eine Befreiung von den Netzentgelten. Gewinne werden privatisiert, Kosten sozialisiert!

Hat der verfassungsgemäße Souverän eine solche Politik gewählt? Nein! Aber weil die demokratischen Prozesse zu Beliebtheitswettbewerben verkommen sind, zu einer Kunst des »Sich-Verkaufens«, werden dessen Interessen nach der Wahl in den Hintergrund gedrängt. Das politisch Vernünftige wird vom ökonomisch Günstigen abgelöst. Als Wähler weiß man das längst. Aber wir wollen nicht wahrhaben, dass die als Zuckerbrote gereichten Versprechungen der Parteiprogramme am Tag nach der Wahl vom faden Backwerk der machtpolitischen Notwendigkeiten ersetzt werden. Die These, dass die gesellschaftliche Verdummung nicht mehr notwendig ist, weil wir uns selbst dumm stellen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Die komplexen politischen Fragen sollen in der Postdemokratie informell und im engen Zusammenspiel mit »Experten« aus Wirtschaft- und Finanzindustrie gelöst werden, am Volk vorbei, auf seine Kosten. Eine solche Politik opfert die drei zentralen Werte jeder akzeptablen, humanistischen und aufgeklärten Gesellschaft: Die Freiheit. Die Gerechtigkeit. Die Solidarität. »Empört Euch!«, forderte daher Stéphane Hessel, die globale Ikone einer ganzen Generation, mit deren Zukunft an den Börsen gespielt wird. Das Aufbegehren allein dieser Generation wird nicht reichen. Der zoon politicon ist gefragter denn je. Er muss sich wieder ernst nehmen, am politischen Diskurs teilnehmen, zurück in die Parteien gehen und sein Recht als Souverän einklagen. Denn »wenn sich das liberale und demokratische Bürgertum jetzt nicht wehrt, wird es verschwinden.« Dann bleibt am Ende nur der Zoo. Und in dem herrscht bekanntlich nicht die Demokratie, sondern die Macht des Stärksten.

2 Kommentare

  1. […] Er hatte 2013 mit Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus ein vieldiskutiertes, analytisch brillantes Buch über die Finanz-, Wirtschafts-, Institutionen- und… geschrieben, das in den Empfehlungen leider zu stark im nationalstaatlichen Rahmen verhaftet blieb. […]

  2. […] zugleich war er wissenschaftlicher Mentor für eine ganze Generation von Sozialwissenschaftlern wie Wolfgang Streeck, dem ehemaligen Direktor des Max-Planck-Institutes für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Merkel, […]

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