Literatur, Roman

Das Würfelspiel des Daseins

»Anna Karenina« und »Krieg und Frieden« haben ihn weltberühmt und zur russischen Ikone gemacht – Leo Tolstoj. Nahezu sein ganzes Leben verbrachte er schreibend auf dem familieneigenen Gut in Westrussland, doch am Ende seines Lebens entfloh er der ländlichen Idylle. Doch Tolstoj stirbt auf dieser letzten Reise in den Süden. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Jay Parini hat daraus einen faszinierenden Roman geschrieben.

»Vielleicht sind jene Monate, die uns bleiben, wichtiger als all die Jahre, die wir bis jetzt gelebt haben, und sie sollten auf gute Weise gelebt werden.«, schreibt der russische Schriftsteller Leo Nikolajewitsch Tolstoj in Jay Parinis Roman Tolstojs letztes Jahr an seine Ehefrau Sofia. Diese Aussage reflektiert paradigmatisch die Verzweiflung Tolstojs in seiner zerrütteten Ehe und kündigt eher offen als verdeckt die Absicht des Dichterfürsten an, sein bisheriges Leben verlassen zu wollen. Betrachtet man Tolstojs Vita, so kommt unweigerlich die Frage auf, was einen 82-jährigen Mann, der zu Lebzeiten den größtmöglichen Ruhm erreicht hat, zu dem Gedanken antreibt, seine Familie noch verlassen zu müssen? Auf seiner letzten fluchtartigen Reise in den Süden erkrankte er an einer Lungenentzündung und starb einsam in einem Bahnwärterhäuschen.

Zahlreiche Tolstoj-Biographen sind der Frage nach den wahren Gründen seines Ausbruchs aus Jasnaja Poljana auf den Grund gegangen, und doch hat keiner die tiefe Zerrissenheit und innere Müdigkeit ob der ihn umgebenden Grabenkämpfe derart deutlich machen können, wie es Jay Parini in seinem Roman Tolstojs letztes Jahr getan hat. Aus einem Kaleidoskop von Impressionen lässt Parini ein Gesamtbild aufsteigen, welches die Umstände der letzten Monate Tolstojs eindrucksvoll und einfallsreich nachzeichnet. Dabei lässt er die Protagonisten seiner bereits 1990 in den Vereinigten Staaten erschienenen Romankomposition über Tagebuchaufzeichnungen und Notizen direkt mit dem Leser kommunizieren. Die Wahrnehmung der Ereignisse von Tolstojs Ehefrau Sofia Andrejewna und die seines engen Freundes Wladimir Tschertkow – beide sind sich gegenseitig spinnefeind – stehen im Mittelpunkt der Romanhandlung. Sie werden ergänzt durch die Eindrücke von Tolstojs Privatsekretär Valentin Bulgakow, seinem Arzt Duschan Markowitzky und seiner Tochter Sascha sowie durch Originalauszüge aus Tolstojs Schriften komplettiert. Parini ist es so in einer geradezu literaturwissenschaftlichen Arbeit gelungen, zitierte Ausschnitte aus Tolstojs Werken geschickt in den romanesken und ansonsten frei erfundenen Dialog der verschiedenen Tagebücher, Aufzeichnungen und Notizen einzubauen. »Ein Roman ist wie eine Seereise, ist wie ein Aufbruch in unbekannte Gewässer, aber ich bin so nah wie möglich der Küstenlinie jener tatsächlichen Ereignisse des letzten Lebensjahres Tolstojs gefolgt.«, beschreibt Parini den real-fiktiven Rahmen seines Werks, der als Vorlage für den Kinofilm Ein russischer Sommer diente.

Völlig unaufdringlich aber zweifelsfrei zentral ist der Konflikt zwischen Sofia Andrejewna und Wladimir Tschertkow. Den religiös-philosophischen Rückzug ihres Mannes und die damit einhergehende eheliche Enthaltsamkeit führt Sofia auf eine versteckte lebenslange homosexuelle Neigung Tolstojs zurück, die ihrer Ansicht nach nun Tschertkow gilt. Ihr Leben mit Tolstoj in der Einsamkeit von Jasnaja Poljana sieht sie als aufopfernden Verzicht allen Vergnügens und alles Lebenswerten an: »Die Primitivität des Lebens hier ist unerträglich. Meine Erziehung hat mich nicht darauf vorbereitet, wie ein Tier zu leben.« Darüber hinaus ist sie geradezu manisch um ihr Erbe besorgt. Doch auch hier steht ihr Tolstojs Busenfreund Tschertkow im Weg, der die Rechte an Tolstojs Schriften ergattern möchte, um sie »als das größte aller Geschenke an das russische Volk« günstig zu verlegen. Sie sieht sich einem Komplott gegenüber, dem sie sich mit Händen und Füßen zu erwehren versucht. Wladimir Tschertkow seinerseits sieht in Sofia die Urheberin der luxuriösen Lebensverhältnisse der Tolstojs. Diese widersprechen seiner Ansicht nach dem Anspruch des volksnahen Schriftstellers, der gegen die in Russland herrschenden Verhältnisse anschreibt. Außerdem ist Sofia in Tschertkows Augen diejenige, die Tolstoj in der Entwicklung seiner philosophischen Schriften durch ihre permanente Unzufriedenheit am meisten hindert.

Jay Parini: Tolstois letztes Jahr. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Verlag C. H. Beck 2008. 359 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Sowohl Sofia als auch Tschertkow beauftragen Tolstojs persönlichen Sekretär, den jungen Valentin Bulgakow, ein heimliches Tagebuch zu führen, um an Informationen zu gelangen, die ihnen verborgen bleiben könnten. Doch Bulgakow selbst durchschaut das Spiel beider Parteien. Seine ganze Loyalität gilt Tolstoj, den er bewundert und dessen schwindendes Lebenslicht ihm höchste Leiden verursacht. Während Bulgakow den Niedergang des Tolstoj’schen Geistes dokumentiert (»Sein Schreiben wurde zu einem Tröpfeln, bis es endlich ganz aufhörte.«), hat sein Arzt Duschan Markowitzky die schlichte Rolle, den körperlichen Niedergang Tolstojs für den Leser festzuhalten. Der antisemitische Mediziner gesteht selbst ein, dass er die »philosophischen Ansichten Tolstojs kaum nachvollziehen« kann, so dass seine Aufmerksamkeit einzig dem Tolstoj’schen Befinden gewidmet ist. Die letzte bedingungslos menschliche Verbindung zu Tolstoj hält dessen Tochter Sascha aufrecht. Für sie steht allein der Vater im Mittelpunkt ihrer Fürsorge, nicht jedoch der schreibende Apologet Russlands. Sascha ist für Tolstoj Fels in der emotionalen Brandung zwischen Tschertkow und Sofia.

Aus diesen verschiedenen Perspektiven arrangiert Parini ein eindrucksvolles Panoptikum der Ansprüche, Wünsche und Bedingungen, die an den russischen Literaten bis zuletzt herangetragen wurden. Wie durch ein Kaleidoskop schaut der Leser von Seite zu Seite blätternd in die verschiedenen Winkel des auslaufenden Tolstoj’schen Lebens. Diese Eindrücke reflektierend wirken die Originalauszüge aus verschiedenen Werken, Schriften und Briefen Tolstojs, die seine persönliche Situation inmitten dieser albtraumhaften Bedrängung veranschaulichen. Des Lebens müde und doch vom Arbeitseifer geplagt, schwebt er zwischen dem Verlangen nach der höheren Erlösung und der Sehnsucht nach den irdischen Verlockungen. Den Rankünen in seinem Umfeld überdrüssig und sich des persönlichen Leidens am Leben bewusst, scheint Tolstoj mit seiner Flucht aus Jasnaja Poljana schlicht auf einige verbleibende, versöhnliche Tage gehofft zu haben. »Was ich jetzt tute, ist das, was alte Leute früher gemeinhin getan haben – sie haben ihr weltliches Leben hinter sich gelassen, um ihre letzten Tage in Frieden und Freiheit zu verbringen.« hinterlässt er, seine Flucht begründend, Sofia.

Es ist das tiefe Verlangen nach der inneren Wahrheit, die Tolstoj zum Handeln trieb und die der amerikanische Autor Irvin D. Yalom in seinem Bestseller Und Nietzsche weinte das »gewaltige Würfelspiel des Daseins« nannte. Zentral dabei die Frage nach der »ewigen Wiederkehr«, die der Titelheld Friedrich Nietzsche – ein Zeitgenosse Leo Tolstojs – darin anführt. Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Tolstoj seine Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Dasein festgehalten. Seine Tagebücher zeugen davon, wie er tief in sein Innerstes geschaut und sich gefragt hat, ob das Leben, das er führte, das richtige war, um von ihm geführt zu werden. Doch je tiefer man in das Leben schaut, desto stärker sieht man auch das Leiden darin. Dieses Leiden im »gewaltigen Würfelspiel des Daseins« verlangt nach wahrhafter und aufrichtiger Erlösung.

Dass dies Tolstojs Verlangen war, macht Jay Parini auf eindrucksvolle Weise deutlich. Er beweist mit Tolstojs letztes Jahr, dass sein romaneskes Arrangement nicht nur auf erstklassiger literaturgeschichtlicher Recherche beruht, sondern er auch ein unzweifelhaftes Gespür für die sinnliche Wahrnehmung von Stimmen und Stimmungen hat. Originell und glaubhaft lässt er die Charaktere seiner Handlung nicht nur vor dem inneren Auge des Lesers entstehen, sondern haucht ihnen Leben ein. Nach der Lektüre von Parinis Roman muss man ernsthaft fragen, aus welchem Grund eine Übersetzung dieses Buches geschlagene 18 Jahre auf sich warten lassen musste. Einfallsreich, sprachgewaltig und zutiefst menschlich kommt Tolstojs letztes Jahr daher und ist sowohl Tolstoj-Kennern wie auch für Tolstoj-Neulingen ans Herz zu legen. Die Themen, die Parini darin anspricht, zeugen von dem Mut des Autors zu den großen Themen des Lebens: Die Isolation und Hoffnungslosigkeit zurückgewiesener Liebe, die Schonungslosigkeit des Idealismus, die Grausamkeit von Loyalitätskonflikten und schließlich die innere Zerrüttung einer gespaltenen Familie.

»Und alles ungelebte Leben wird ewig in Ihnen weiter rumoren, ewig ungelebt. Und die nicht gehörte Stimme Ihres Gewissens wird Ihnen ewig kläglich zurufen.«, kündigt Nietzsche seinem Arzt Josef Breuer in Yaloms Realfiktion an, sollte er sich seiner inneren Wahrheit widersetzen. Es war wohl diese ewig klagende Stimme des eigenen Gewissens, die Tolstoj zur Flucht angetrieben hat, weg vom Überfluss, weg von den an ihn gestellten Ansprüchen, weg von allem Irdischen Verlangen hin zu sich selbst. Diesen Ausbruch überlebte er zwar nicht, allerdings blieb sich Tolstoj dabei selbst treu – das Wichtigste, im »Würfelspiel des Daseins«, in dem sich alles wiederholt.