Klassiker, Literatur, Lyrik

Soundtrack der modernen Großstadt

Zum 120-jährigen Geburtstag T. S. Eliots legte der Suhrkamp-Verlag eine Neuübersetzung des berühmtesten Gedichts des 20. Jahrhunderts vor. Eine Verneigung vor einem der größten Dichter seiner Zeit.

Grad in der Mitte unserer Lebenskreise,
Befand ich mich in einem dunklen Walde,
Weil ich den rechten Weg verloren hatte.*

T.S.Eliot

Im November 1921 befand sich Thomas Stearns Eliot in eben diesem dunklen Walde abseits des rechten Weges, als er seinem amerikanischen Dichterfreund Ezra Pound ein Blätterkonvolut in die Hände gab und ihn um kritische Durchsicht bat. Eliot befand sich auf dem Weg nach Lausanne, um dort Ruhe in seiner Lebens- und Sinnkrise zu suchen, als er in Paris Zwischenstation machte. Was Pound in diesem November in die Hände bekam, ist noch heute das Dokument einer höchst ambivalenten und zugleich höchst faszinierenden Zeitkritik eines Geistes, der mit sich selbst und seiner Welt in Ungnade steht – The waste land. Das öde Land.

Dieses als Gespräch angelegte Poem ist dabei mindestens ebenso in der Vergangenheit verhaftet, wie es in der Gegenwart fußt und in die Zukunft schaut. Es bewegt sich in der literarischen Tradition von Vergil, Dante Alighieri, William Shakespeare und James Joyce – und in der Neuübertragung und zeitgemäßen Interpretation durch Norbert Hummelt erstreckt es sich dann sogar bis in die groovigen Höhen des amerikanischen Jazz. Dabei hat Eliot das Kunststück vollbracht, etwas Ureigenes aus dem Bekannten zu schaffen. Eliots Verswerk ist eine Sammlung aus Zitaten und Anspielungen, Übertragungen und Schlüssen, Traditionen und Innovationen, das sich mit den Werken der oben aufgeführten schreibenden Granden an einem wahrlich revolutionären Fundus der Literaturgeschichte bedient. Er macht den Kulturverfall an der Hochkultur deutlich, zeigt was einst war und nun nicht mehr ist und verdeutlicht, was bereits erkannt und dennoch ignoriert wurde. Doch allein dieser Bezug zur kulturellen Tradition erklärt nicht die Faszination und Genialität dieses Werkes T.S. Eliots. Es ist die Reflektiertheit in der eigenen Verbitterung kombiniert mit einem geradezu unglaublichen Wissen um die Errungenschaften der europäischen Dichtung, die Eliots düstere Poesie in ihrer Destruktion derart anziehend machen. In Eliots intonierter Apokalypse schwingt stets die schmerzhafte Erkenntnis beziehungsweise die Erkenntnis im Schmerz, die sich schon durch die Werke Friedrich Nietzsches zog. »Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz … zwingt uns Philosophen in unsere letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohin wir vielleicht unsere Menschlichkeit gesetzt haben, von uns tun.«, heißt es bei Nietzsches Abrechnung mit seinem einstigen Freund Richard Wagner.

Diesen großen, langsamen Schmerz empfand Eliot in besonderer Weise nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Während im Ersten Weltkrieg einfach alles auseinander fällt, was sie »im Innersten zusammenhält«, brach Eliot selbst zusammen und vollzog die Tragödie dieses kulturell-zivilisatorischen Erdbebens im eigenen Nervenkollaps, von dem er sich über den Jahreswechsel 1921/1922 in der Schweiz erholen wollte. »An den Wassern des Genfer Sees setzte ich mich hin und weinte …«, heißt es in der »Feuerpredigt« des waste land in Anspielung auf seinen Zustand, in dem er zugleich wieder Schaffenskraft fand und dort den abschließenden letzten Teil des Gedichts verfasste.

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T.S.Eliot: The Waste Land. Das öde Land. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von Norbert Hummelt. Suhrkamp-Verlag 2008. 70 Seiten. 16,80 Euro. Hier bestellen

Die Blättersammlung, die er im Laufe des Schaffensprozesses Pound übergab, enthielt neben den ersten vier Kapiteln noch einiges an zusätzlichem Material. Pound befreite es davon, strich mehr als die Hälfte des ursprünglichen Texts, ohne dabei aber die Hochachtung für das Geschaffene seines Freundes zu verlieren. Erst diesem radikalen Eingriff ist es zu verdanken, dass The waste land mit dem berühmten »April ist the cruellest month…« beginnt. Der amerikanische Dichterfreund legte das Konzentrat von Eliots wüsten Gedankennotizen frei und schuf, was der Leser heute in den Händen hält. Eine hochkonzentrierte Essenz, die sich sämtlicher Versmaße spielerisch bedient, die ineinander fließen lässt und zu einem gewaltigen Strom der Kraft vereint. Eliot widmete Pound daher auch sein Werk: il miglior fabbro, dem besten Schmied. Eliot lieferte Stahl, Feuer und Glut, Pound führte den Hammer.

In Eliots Weltgedicht kann der Leser einzigartig den von ihm tief empfundenen Niedergang der Kultur und Zivilisation im Ersten Weltkrieg nachvollziehen. Mit diesem Wahnsinnspoem wollte er nicht nur feststellen, sondern auch Linien nachzeichnen und erkennbar machen. Insofern stellt The waste land nicht nur ein Abbild seiner Zeit, sondern auch ein Abbild des Innenlebens T.S. Eliots dar. Schon im Titel dieses Weltgedichts steckt sein programmatisches Konzentrat. Es geht um die Leblosigkeit der Moderne, um die Entindividualisierung in der Überindividualisierung, die geistige Entleerung, um das Leben im undefinierbaren Überall, welches nur noch durch den flackernden Schleier der für Eliot als unerträglich wahrgenommenen industriellen Moderne erkennbar ist. Eliot konnte in der immer gleichen Wiederkehr der urbanen Tristesse nur noch die alles Leben negierende Einöde der modernen Großstadt erkennen. Dabei bewies er fast seherische Qualitäten, liest man doch von über die Steppe schwärmenden »vermummten Horden«, von roten »Fackellichtern« auf Schweißgesichtern und von »fallenden« und »umgestürzten Türmen«. Steht noch was aus?: »London bridge is falling down falling down falling down«, heißt es am Ende von The waste land – düsterste Visionen von Verderben und Untergang. Dabei läuft es immer wieder eiskalt den Rücken herunter, scheint doch Eliot die Zivilisationsbrüche der vor ihm liegenden Zukunft geradezu geahnt zu haben.

Eliots The waste land wirkt auf den Leser, wie das Höllentor in Dantes Göttlicher Komödie, als es den Wanderern entgegenruft: »Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze, durch mich geht man zu dem verlornen Volke.« Dieses verzweifelte Hohelied konfrontiert uns wie kaum ein anderes Dokument mit den Niederungen der Moderne und dem dahinsiechenden Sein unserer Zeit. Natürlich wäre es geheuchelt, alle Neuerungen der Moderne sofort zu verdammen, aber es wäre auch mindestens ebenso naiv, sich der Erkenntnis zu verweigern, dass jeder Verheißung der Moderne nicht auch der Sündenfall innewohnt. Dieser Erkenntnis hat sich Eliot nicht nur nicht verwehrt, er hat sich ihr ergeben – nachzulesen in dem grauenhaft grandiosen Weltgedicht der Trostlosigkeit The waste land.

*Auftakt zu Dante Alighieri’s Inferno in der Göttlichen Komödie

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