Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Dem »sowjetikus debilius« auf der Spur

Die weißrussische Historikerin Swetlana Alexijewitsch bringt mit ihren Werken Licht in das Dunkel, in dem die russischen Seele vor sich hin krankt, indem sie stellvertretend für die Welt ihr Ohr auf die Schiene der Zeit legt und das leise und laute Beben der Gleise für sich sprechen lässt.

Blickt man nach Russland, weiß man nicht, ob man sich angesichts der bestehenden Ambivalenzen wundern oder erschrecken soll. Die post-sowjetische Gesellschaft ist heute geprägt von einer kruden Mixtur aus Autoritätshörigkeit und Emanzipationsscheue einerseits sowie grenzenlosem Kapitalismus und Größenwahn andererseits. Tauwetter, Perestroika und neuer Aufbruch scheinen zu einem neuen Personenkult geführt zu haben, der unangenehm an längst vergangene Zeiten erinnert. Putin oder Pope, dies scheint von außen betrachtet die Wahl der brüchigen russischen Moderne zu sein.

Wie aber sieht es im Innen der russischen Gesellschaft aus? Die weißrussische Journalistin und Historikerin Swetlana Alexijewitsch versteht seit Jahren, eindrucksvoll davon zu berichten. Mit ihren erschütternden und aufwühlenden Berichten von den Schicksalen sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg (Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, dt. 1987), den stillen Folgen des gescheiterten russischen Afghanistanfeldzugs (Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen, dt. 1992) oder der Katastrophe von Tschernobyl (Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, dt. 2001) ist sie international bekannt und zugleich zur politischen Gegnerin der nachsowjetischen Regime geworden. Wegen »antikommunistischer Haltung« verlor sie noch in den 1980er Jahren ihre Anstellung. Ihre Werke sind in ihrer Heimat verboten, bis zum vergangenen Jahr lebte sie zwölf Jahre lang im Exil.

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Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Berlin 2013. 576 Seiten. 27,90 Euro. Hier bestellen

Die Arbeiten von Swetlana Alexijewitsch nehmen ihren Ausgang an einem geradezu heiligen Ort: der Küche. Hier hat man sich zu Sowjetzeiten flüsternd über den politischen Alltag ausgetauscht und heimlich Samisdat-Literatur vorgelesen. Die Küche war der letzte private Ort. Die Weißrussin hat in den vergangenen 30 Jahren in tausenden Küchen gesessen und unzählige Gespräche mit den »einfachen« Menschen geführt. Aus ihren Geschichten und Erinnerungen rekonstruiert sie das Mosaik der russischen, sowjetischen und post-sowjetischen Geschichte. Als »Ingenieur der menschlichen Seele« erhebt sie sich dabei nicht belehrend über die Historie, sondern dokumentiert ihre Hinterlassenschaften im postsowjetischen Wartesaal.

Mit Secondhand-Zeit erscheint nun der Höhepunkt ihres geschichtsbewussten Schaffens, in dem sie der Frage nachgeht, was das Leben auf den Trümmern des Sozialismus ausmacht. In diesem vielstimmigen Werk führt Alexijewitsch zusammen, was sie bislang einzeln betrachtet hat: die Prägung des Großen Vaterländischen Krieges, die Abgründe der stalinistischen Diktatur, die Nachhaltigkeit der Lagererfahrung, die Skepsis der Tauwetterperiode, die Euphorie der Perestroika, die enttäuschten Hoffnungen nach der Wende und das unheimliche Wiedererstarken des russischen Geistes in der post-sowjetischen Ära.

Swetlana Alexijewitsch zeigt eindrucksvoll das Stolpern und Taumeln des »sowjetikus debilius« zwischen Zarentum und kapitalistischer Moderne, zwischen ruhmreichen Erinnerungen an vermeintlich bessere Zeiten und der erschlagenden Erkenntnis, von der Realität überrollt worden zu sein. Kein Wunder, nehmen doch viele von Alexijewitschs Gesprächspartnern die Moderne als einen Ausverkauf der alten Ideale wahr. Lenin, einst ein Gott, ist jetzt Buntmetall.

Aussagen wie »Alles umsonst … wir haben uns vergebens gequält … Das ist schwer einzugestehen … und es ist schwer, damit zu leben«, »Unser früheres Leben wurde komplett niedergerissen, da ist kein Stein auf dem anderen geblieben« oder »Es tut mir nicht um mich leid, es tut mir leid um das, was wir liebten…« machen das Hadern mit und leiden an der Gegenwart deutlich. Trost suchen die Menschen in der Kirche: »Wirklich Gläubige gibt es nur wenige, die meisten sind Leidende.« Die Kirchen sind voll, »weil wir alle einen Psychotherapeuten brauchen.«

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Swetlana Alexijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Berlin 2013. 368 Seiten. 21,90 Euro. Hier bestellen

Die Kehrseite des Leidens an der Gegenwart sind neue Großmachtfantasien, die Sehnsucht nach einer harten Hand und die Quasireligiosität, mit der die Regierungspartei Einiges Russland ihren xeno-, homo- und feminophoben Kurs verfolgt. Das Motto des militaristischen Weltkriegsliedes »Steh auf, steh auf, du Riesenland. Heraus zur großen Schlacht.« hat in neuer Form Konjunktur. Die große Schlacht wird heute mit dem Geld aus Öl und Gas gegen Aufklärung und Moderne geführt. Nur wenige profitieren im sozioökonomischen Sinne davon, dem Rest bleibt die Erinnerung an den einstigen Ruhm ihrer Heimat.

Die russische Gesellschaft befindet sich in einer Situation des geistigen Stillstands, der den erfolgreichen Übergang in eine bessere Moderne verhindert. Die einstige sozialistische Utopie des Aufbruchs in eine bessere Zukunft ist in der Zeit des alles versprechenden und wenig haltenden Kapitalismus nicht mehr als eine quälende Erinnerung. Das mentale Verharren in der Vergangenheit und ständige Scheitern im und Verzweifeln an der Gegenwart, macht das Leben im postsowjetischen Wartesaal aus.

Die weißrussische Historikerin Swetlana Alexijewitsch bringt mit ihren Werken Licht in das Dunkel, in dem die russischen Seele vor sich hin krankt, indem sie stellvertretend für die Welt ihr Ohr auf die Schiene der Zeit legt und die leisen und lauten Geräusche der Vibration für sich sprechen lässt.

Der Mensch müsse sich unentwegt entscheiden zwischen »Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit«, schreibt Swetlana Alexijewitsch in ihren »Aufzeichnungen einer Beteiligten«. »Die meisten Menschen gehen den zweiten Weg.« Im Oktober erhält Swetlana Alexijewitsch den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

8 Kommentare

  1. […] (Dass sowohl Wagner als auch Witzel neben der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch von Elisabeth Ruge entdeckt wurde, ist eine Geschichte, die an anderer Stelle erzählt werden […]

  2. […] und Berlinverlag-Verlegerin hat in diesem Jahr mit Jan Wagner, Frank Witzel und der aktuellen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch das literarische Triple oder, um mit Poschmann zu sprechen, dreimal den Mond vom Himmel […]

  3. […] eingeflossen sind, die sie bei ihren Recherchen und in zahlreichen Gesprächen gesammelt hat. Das erinnert an die Vorgehensweise von Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die in der Montage von aufgeschnappten Erzählungen und historischen Fakten Meisterwerke der […]

  4. […] der beiden Frauen im Zentrum des Films. Basierend auf Interviews, die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch für »Der Krieg hat ein weibliches Gesicht« mit Frauen geführt hat, die im Zweiten Weltkrieg an der Front waren, erzählt Balagov hier aus […]

  5. […] Form selbst schon existenzialistische Dokumente sind. Das erinnert einerseits an die essayistischen Erkundungen von Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, andererseits aufgrund der zeitlichen und thematischen Nähe auch an die Briefe ukrainischer […]

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