Chris Ware hat mit »JIMMY CORRIGAN oder DER KLÜGSTE JUNGE der WELT« ein epochales Meisterwerk der Comickunst geschaffen, das aufräumt mit dem unsinnigen Gerücht, Comics wären Kinderkram. Dieser kongeniale Bildroman hebt seinen Autoren auf eine Stufe mit Weltautoren wie Marcel Proust oder Robert Musil.
Jeder kennt Charlie Brown. Es gibt niemanden, der sich nicht an einen Moment erinnern kann, in dem ihm beim Lesen der Peanuts ein Licht aufging und die menschliche Psyche etwas verständlicher wurde. Charles M. Schulz tat seinen Lesern den Gefallen, dass er seine tiefenpsychologischen Ergründungen von Frohsinn und Traurigkeit, Liebe und Einsamkeit, Sehnsucht und Verzweiflung stets mit Humor aufzulösen wusste, so dass am Ende immer ein träumerisch verklärter Leser auf den vor ihm ausgebreiteten Strip blickte.
Es wird Zeit, dass auch jeder Jimmy Corrigan kennenlernt. Optisch sieht die Hauptfigur aus Chris Wares gleichnamigem Jahrhundert-Comic Charlie Brown sogar recht ähnlich, allerdings hängt Jimmy Corrigan die Schwere der Depression an, die Charles M. Schulz seiner Hauptfigur ersparen wollte. Chris Ware tat seinem Protagonisten diesen Gefallen nicht, denn schließlich erzählt dieser stellvertretend für ihn seine eigene traurige Geschichte. Verlassen vom Vater und spät wieder zusammengeführt, konnte diese Nicht-Beziehung nie aufgearbeitet werden. Jimmy Corrigan oder Der klügste Junge der Welt ist das aus comicaler Sicht grandiose Dokument von Wares Umgang mit der eigenen Geschichte, die er in diesem erzählerischen Paralleluniversum mit Witz, Ironie und Tiefgang verarbeitet hat.
Jimmy Corrigan gibt sich als Mittdreißiger unbewegt mit einem Bürojob irgendwo in den gen Himmel gerichteten Betonwüsten Chicagos zufrieden, schwelgt in den kindlichen Träumen eines Superhelden und pflegt im Stillen ein Schoßkind-Dasein, indem er täglich der Mutter rapportiert. Seine äußere Erscheinung – das schüttere Haar, die sichtbaren Sorgenfalten und nie verschwindenden Tränensäcke – spiegelt sein inneres Wesen. Jimmy Corrigan hat sich nach innen und außen mit der Rolle des ängstlichen, schüchternen, hilflosen, vom Leben überforderten Muttersöhnchen abgefunden.
Eines Tages erreicht ihn ein Brief seines Vaters (James William Corrigan), der ihm vorschlägt, »dass wir uns mal kennenlernen«. Heimlich reist er zu seinem Vater und verbringt mit dem unbedarften älteren Herrn einige Tage. Dabei wird er von allerlei Ängsten geschüttelt, bricht sich ein Bein und lernt seine Halbschwester kennen. In diesen Tagen lernt er nicht nur, welch irrsinnige Verrücktheit sich hinter dem Wort Familie versteckt, sondern auch einiges darüber, wie sich Leben anfühlen kann. Diese Suche nach der eigenen Identität verwebt Ware mit der Geschichte der eigenen Comiclektüre und bindet so die Geschichte des Mediums in die Erzählung ein, die das Medium als solches Wiederum revolutioniert.
Parallel zu dieser Vater-Sohn-Geschichte erzählt Chris Ware in JIMMY CORRIGAN oder DER KLÜGSTE JUNGE der WELT vom Verhältnis der beiden vorhergehenden Generationen. Großvater James wächst als Halbwaise und im wahrsten Sinne des Wortes von aller Welt verlassen bei Urgroßvater William auf. Die Geschichte spielt Ende des 19. Jahrhunderts, als in Chicago die »Weiße Stadt« für die Weltausstellung errichtet wurde. Während der autoritäre Vater auf der Baustelle arbeitet, verbringt der geknechtete und mit Missbilligung behandelte Sohn seine Tage allein. Die gemeinsamen Momente sind leidvolle Erfahrungen der ständigen Demütigung. Die tiefsitzende Traurigkeit und Einsamkeit verbindet Jimmy mit seinem Großvater James Corrigan. Bei beiden scheint dieser Gemütszustand Folge der Abwesenheit eines liebenden Vaters zu sein. Sie sind verloren auf der Suche nach sich selbst, schweben im Nirvana zwischen Kindheit und Erwachsensein – für das eine zu unbeschwert und für das andere zu wenig bei sich selbst. So ähnelt diese Geschichte den großen Erzählungen der Weltliteratur.
JIMMY CORRIGAN berührt in seiner sachlichen Grafik, die den Kontrapunkt zu dieser aufwühlenden Erzählung darstellt. Zwanghaft geometrisch scheinen die Elemente auf den Seiten angeordnet, mit denen Ware die verschiedenen Erzählebenen kongenial über- und ineinander schiebt. Zahlreiche metaphorische Icons, Piktogramme, Symbole, Scheinduplikate und bauplanähnliche Anordnungen bilden zusammen bis ins kleinste Detail ausbalancierte Comicseiten. Bei jeder einzelnen Seite bietet sich die Analyse an, etwa wenn sowohl am Anfang als auch am Ende jeder Seite grafische Elemente erscheinen, auf dem Weg von links nach rechts in ihrer Bedeutung aber enorm verschoben werden. Zugleich werden durch die Art der Erzählung Raum und Zeit aufgehoben, es verschwimmen die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Ohne Eile schreibt Ware seine Geschichte, wobei sich in der Sequenz oft nur Nuancen ändern. Und plötzlich vermag die geringste Regung des tragischen Helden die ganze Welt zu erschüttern.
Experten sprachen Wares Arbeiten anfangs ab, Comickunst zu sein. Sie hielten es für unmöglich, diese Welten mit der Hand zu entwerfen und sprachen von Computerkunst. Doch der Kosmos von Jimmy Corrigan ist alles andere als eine am Monitor zusammengeschobene Elementewelt. Sie ist das Resultat eines kongenialen Künstlers, der akribisch so lange zeichnet, bis auch das letzte Detail stimmt – in der Szene, auf der Seite und im scheinbar unendlichen Erzählstrom dieses epochalen Comicromans.
Chris Ware ist mit JIMMY CORRIGAN ein Jahrhundertroman in Text und Bild gelungen. Mit einer einzigartigen Bildästhetik und -logik hat er die sequentielle Erzählweise auf eine bislang unbekannte Ebene gehoben. Ware erweist sich hier als Autor gleichermaßen als Marcel Proust und Robert Musil, seine Hauptfigur ist Musils Mann ohne Eigenschaften und wie Prousts namenloser Ich-Erzähler in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. »100 Jahre Einsamkeit« könnte über dieser grafisch kühnen und erzählerisch anrührenden Bildgeschichte stehen, der ein fester Platz im Pantheon der Neunten Kunst sicher ist.
[…] Chris Ware, der mit Jimmy Corrigan und Building Stories die comicale Grammatik auf phänomenale Weise weiterentwickelt hat, lobte […]
[…] erzählende Comic-Seth erinnert an Chris Wares traurig-schwermütigen Helden Jimmy Corrigan, er teilt mit ihm die Angst vor Bindung, vor Veränderung, vor der Zukunft und vor Problemen. […]
[…] ist trotz seiner grandiosen Arbeit recht unwahrscheinlich; er müsste sich gegen Hochkaräter wie Chris Ware mit seinem fulminanten Selbstbau-Comic Building Stories, Charles Burns mit seinem Comic […]
[…] Selbstbau-Comic ist bei Reprodukt geplant, wann er genau erscheint, steht noch nicht fest. Wares JIMMY CORRIGAN oder Der klügste Junge der Welt war ebenfalls bei Reprodukt erschienen und hat begeisterte Kritiken […]
[…] ergründet die gewollten Harmonien und Disharmonien des Dialogs zwischen Bild und Text, etwa bei Chris Ware, Joann Sfar, Mawil oder Seth. Wenngleich es zweifelsohne versiertere Comicleser als den Autor gibt, […]
[…] Spiegelman, Kate Beaton, Chris Ware, Mimi Pond, Joe Sacco, Sarah Glidden, Chester Brown, Tove Jannson, Daniel Clowes, Mariko Tamaki, […]
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[…] reduzierte Strich erinnert an Chris Ware oder Adrian Tomine. Dazu kommt die fragmentierte Erzählform, der ständige Wechsel zwischen denen, […]
[…] die sich im Bereich der Infografik bewegt. Sensationell ist nicht allein diese grafische Stringenz (die fern an Chris Ware erinnert), sondern der Effekt, der in der Kombination der nüchternen Illustration mit dem von Christoph […]
[…] revolutionierte Crumb die Neunte Kunst und ebnete Comiczeichnern wie Art Spiegelman, Chris Ware oder Alison Bechdel den Weg zu ihren autobiografischen […]
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