Comic

Jason Lutes »Berlin«-Comics sprengen Grenzen

Dem Amerikaner Jason Lutes gelingt es in seiner comicalen Berlin-Geschichte, den Untergang der ersten deutschen Republik in all seinen Facetten darzustellen. Dabei kratzt er nicht nur an der historischen Oberfläche, sondern erforscht die Untiefen einer Gesellschaft am Abgrund. Lutes Berlin-Saga ist das umfangreiche Porträt einer Stadt in Unruhe.

Nach der Steinernen Stadt und der Bleiernen Stadt wird der Amerikaner Jason Lutes seine Berlin-Trilogie mit dem Entwurf einer Stadt des Lichts schließen. Dieses Licht, man kann es ahnen, wird nicht die Erhellung des Geistes sein, sondern das von Blitz und Feuer hervorgerufene Illuminat am Horizont. Denn diese bahnbrechende Comic-Serie wird mit dem Ende der Weimarer Republik am Vorabend des nationalsozialistischen Terrors schließen. Den Menschen kriecht Lutes dabei bis in die Köpfe hinein, um seine Leser an ihren Gedanken inmitten der politischen Umbrüche teilhaben zu lasse. Derart ist Lutes Trilogie vergleichbar mit Alfred Döblins Berlin. Alexanderplatz oder Wim Wenders Der Himmel über Berlin.

Jason Lutes: Berlin. Steinerne Stadt. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders. Carlsen-Verlag 2003. 213 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen

Der amerikanische Comic-Zeichner entwirft in seiner Berlin-Trilogie ein vielschichtiges Panorama der Stadt in einer Zeit radikaler Umbrüche. In den ersten acht Abschnitten dieses auf 24 Kapitel angelegten epochalen Werkes (Berlin. Steinerne Stadt) beleuchtet Lutes die Vorgeschichte der Weltwirtschaftskrise und den beginnenden Niedergang der Weimarer Republik. Der Band ist das Vorspiel, die Prelude zu dem tobenden Ausbruch, der die Stadt in den Folgejahren ergreift. Hier nimmt sich Lutes Zeit, die Situation in der deutschen Metropole zehn Jahr nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs, kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, aus den verschiedenen Perspektiven seines Personenkarussells zu erzählen. Vorangetrieben wird die Erzählung mit den Personen der Kunststudentin Marthe Müller, die es in die menschenverschlingende Großstadt im Herzen Europas gezogen hat, und von dem Journalisten Kurt Severing. Als Idealisten geraten sie gemeinsam zwischen die Fronten der politischen Umbrüche und geraten im wahrsten Sinne des Wortes in den Strudel der Geschichte, deren Abgründe sich in den Kapiteln neun bis sechzehn (Berlin. Bleierne Stadt) auftun. Hier rückt Lutes den Sturz der Weimarer Republik ins Dunkel in den Mittelpunkt des Geschehens. Während Severin als »verzweifelter Pazifist« (Severin über Severin) versucht, die Deutschen mit seinen Beiträgen vor dem gesellschaftlichen Niedergang im Nationalsozialismus zu warnen und zu bewahren, verliert sich Marthe Müller in den Verlockungen der Berliner Bar- und Kabarett-Szene und vergisst dabei ganz, welch gesellschaftliche Tragödie sich um sie herum anbahnt. Wo in Band 1 noch die Steine der revoltierenden Arbeiter durch das Bild flogen, schwängert in Band 2 der Gewehrrauch der Milizen die Berliner Luft.

Jason Lutes: Berlin. Bleierne Stadt. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders. Carlsen-Verlag 2008. 214 Seiten. 14, Euro. Hier bestellen

In den USA liegen die ersten beiden Kapitel des dritten Teils der Erzählung unter dem Titel Berlin. City of Lights vor. Die Hauptstadt der Weimarer Republik wird darin endgültig zu jener »unwirklichen Stadt«, als die T.S. Eliot in seinem Jahrhundertgedicht Das öde Land das London im Jahr 1921 beschreibt. Mit der erschreckenden Ergänzung, dass von diesem unwirklichen Berlin eine grausame Gewalt ausging, die Millionen echte Tote zur Folge hatte. Lutes Comic-Trilogie zeichnet den Weg in den Abgrund nach. Sie nimmt ihren Ausgang im Berliner Blutmai 1929 und verfolgt das Schicksal der ersten deutschen Republik bis zu dem erdrutschartigen Wahlerfolg der Nationalsozialisten im September 1930. Der Tod Gustav Stresemanns, der Weltbühne-Prozess gegen den Herausgeber des Berliner Wochenblattes Carl von Ossietzky, das Ende der großen Koalition unter Hermann Müller, das Einsetzen der Regierung Brüning und der Tod Horst Wessels bilden den historischen Kontext, vor dem Lutes den inneren Kampf der gesammelten Linken und die gleichzeitige Eroberung der deutschen Köpfe durch die politische Rechte veranschaulicht. Geschickt entwickelt Lutes im zweiten Band seiner Saga die Schicksale aus dem ersten Band weiter und fügt fast beiläufig noch weitere Personen und Geschichten in das von ihm geordnete gesellschaftliche Chaos der Großstadt Berlin ein. Die verteufelten Figuren aus Eliots Poem gleiten hier »unter dem braunen Nebel eines Wintermorgens« dahin. Unter den Millionären der High Society kommt die kulturierte (kaum kultivierte) Schicht des Snobs, dann die kleinen Angestellten und schließlich die Niederen, auf die die Knute der Zeit herniederfährt. Eliots komplettes Sosostris’sche Kabinett ist in Lutes genialem Comic versammelt und betreibt, bekämpft oder befeiert den Niedergang der Demokratie.

Jason Lutes: Narren. Aus dem Amerikanischen von Christian Schuldt. Carlsen-Verlag 2007. 144 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen

Jason Lutes gelingt es auf außergewöhnliche Art und Weise, seine verschiedenen Leidenschaften, Talente und Passionen symbiotisch zu verbinden, so dass sich deren Einzelwirkung im Zusammenspiel potenziert. Jason Lutes Comics bewegen sich im künstlerischen, literarischen und fachlichen Sinne auf sehr hohem Niveau. Welche Ambitionen er dabei hegt, beweist allein die Tatsache, dass er an den acht neuen Berlin-Kapiteln ganz vier Jahre gearbeitet hat, zwei Kapitel pro Jahr. In dieser Zeit publizieren andere mehrere Alben, die dann aber meist nicht von einer solchen Qualität sind.

In seiner Berlin-Serie beweist sich der Amerikaner als ein großer Künstler. Leser seiner anderen Comics wissen, dass sein außerordentliches Talent schon in seinen anderen Arbeiten anklang. Begonnen hat Jason Lutes seine Karriere als Comicautor mit dem Band Narren, das anlässlich des Luthusiasmus neu aufgelegt wurde. Nach seinem Designstudium entwarf er für das Stadtmagazin der amerikanischen Autometropole Seattle The Stranger die melancholische Geschichte des gescheiterten Magiers Ernie Weiss, der nur noch einem Traum nachhängt, dessen Erfüllung sein Leben schon lange nicht mehr ist. Sein Leben hält ihn und er sein Leben zum Narren. In schlichten, schwermütigen Bildern erzählt Lutes in seinem Comicdebüt von Ernies verzweifelten Versuchen, sein Dasein wieder in den Griff zu bekommen. Die Vorlage für den gescheiterten Magier Ernie Weiss boten die Geschichten um den mythenumrankten Entfesselungskünstler Harry Houdini, dessen bürgerlicher Name Ehrich Weiss die Verbindung der beiden Charaktere mehr als deutlich macht.

Jason Lutes (Autor) & Nick Bertozzi (Zeichner): Houdini. König der Handschellen. Aus dem Amerikanischen von Gerlinde Althoff. Carlsen-Verlag 2008. 95 Seiten. 12,- Euro. Hier bestellen

Lutes hat der Menschenverzauberer Houdini nie losgelassen. Gemeinsam mit dem Zeichner Nick Bertozzi hat er dem Magier einen gleichnamigen Comic gewidmet. Darin macht Lutes den dreisten Versuch, hinter die Tricks und Kulissen des »Königs der Handschellen« zu schauen, ohne jedoch die Faszination aufzulösen, die das scheinbar Unmögliche in einer Zeit des technischen Fortschritts bei den Massen auslösen konnte.

Verzauberung, Verführung, Magie – dies sind die großen Themen, denen sich der junge Amerikaner schreibzeichnend annähert und die sich durch sein gesamtes künstlerisches Werk ziehen. Nicht umsonst hat er für seine Berlinhistorie die Zeitenwende der nationalsozia­listischen Verführungspolitik gewählt, der ein ganzes Volk auferlegen ist. In faszinierend-geduldigen Sequenzen lässt er darin den Leserbetrachter in die Seelen und Gedanken seiner Protagonisten schauen. Über den Umweg der individuellen Geschichten macht er die innere Zerrissenheit der untergehenden Weimarer Republik deutlich, ohne politisch-historischen Symbolen übermäßig viel Raum geben zu müssen. So taucht in beiden Bänden nicht ein Hakenkreuzsymbol auf. Man muss die Bände für diese Erkenntnis noch einmal durchblättern, da man nach der Lektüre spontan zur Ansicht neigt, an jeder gezeichneten Hauswand eins gesehen zu haben. Die Weimarer Verhältnisse sprechen für sich und Lutes gibt ihnen die Möglichkeit dazu. Und damit schafft der Amerikaner mehr, als die meisten Geschichtswälzer über die erste deutsche Republik. Diese Serie schafft neue Gier nach deutscher Gesellschafts­geschichte und gehört damit zweifelsfrei in das Curriculum eines modernen Geschichtsunterrichts.

Jason Lutes (Zeichner) & Ed Brubaker (Autor): Herbstfall. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders. Reprodukt Verlag 2004. 48 Seiten. 10,00 Euro. Hier bestellen

In Lutes’ Comics vollzieht sich auf besondere Weise der aktive Prozess des Comiclesens. Die »Erzählung im Panelgraben« nach Scott McCloud, die den Comic zu einem besonderen Medium macht, entfaltet sich in Lutes’ Comics in Perfektion. Darin liegt das Geheimnis seiner Arbeiten, denn das Wesen des Comics liegt zwischen den Einzelbildern, wo der Leser ausreichend Freiraum zur persönlichen Imagination und Suggestion erhält. Lutes beherrscht diese Kunst, der Freiheit zur persönlichen Entfaltung genügend Freiräume zu schaffen, wie kaum ein anderer. Insbesondere in seinen stummen Sequenzen zeigt sich, wie seine Zeichnungen und ihre rhythmische Anordnung ihre ganz eigene Geschichte erzählen. Allein die Werke Will Eisners kommen hier in den Sinn, die kompositorisch mit Lutes’ Comics mithalten können. Darüber hinaus gibt sich der Amerikaner keinen überflüssigen Experimenten hin, für die das Genre seiner Kunst so verschrien ist. Lutes vertraut den klassischen Elementen des Comics, so dass sich selbst dem ungeübten Comicleser die Bedeutung der verwendeten verbalen Markierungen und grafischen Zeichen ohne größere Probleme erschließt. Sein klarer, realistischer Zeichenstil unterstützt den schnellen Zugang zur erdachten Wirklichkeit zusätzlich.

Am Ende des zweiten Bandes erfindet sich der Autor und Zeichner in seinem eigenen Werk noch einmal neu. »Die Buchstaben schwammen einzeln davon. Und ich sitze hier und tippe immer neue – gegen den Strom.« Mit diesen Worten hält der Journalist Kurt Severin seinen Kampf gegen den Strom der heraufziehenden Unzeit fest, kurz bevor der Wahlerfolg der Nationalsozialisten den zweiten Band beendet. Und spricht irgendwie auch für Lutes selbst, den beide sind nicht in der Lage, den Lauf der Geschichte aufzuhalten, dem sie beide mit ihrem Schaffen entgegenwirken wollen – dem Niedergang der Demokratie in der Weimarer Republik. Lutes Erzählstil ist derart engagiert, dass man meinen könnte, er wolle selbst Einfluss auf den längst vergangenen Lauf der Dinge nehmen.

Jason Lutes comicale Berlin-Serie ist eine soziohistorische Studie eines Volkes am Abgrund, die attraktiver kaum sein könnte. Er betreibt mit diesem Werk Reklame für eine ambitionierte Gesellschaftskunde, die sich mit dem Zur-Kenntnis-Nehmen historischer Fakten nicht zufrieden gibt. In seinem Genre hat diese Erforschung der menschlichen Psyche in der Masse einzig Art Spiegelman in seinen legendären Maus-Comics vollzogen. Wie er sucht Lutes nach einem Verständnis dafür, welche Prozesse sich in einem Menschen vollziehen, die ihn zur Tat und/oder Untat antreiben. Die zwei bislang vorliegenden epochalen Berlin-Bände machen deutlich, dass es an beidem keineswegs mangelte und es der sinnlosen Opfer bereits zu viele gab, bevor der nationalfaschistische Untergang überhaupt begann. »Das dacht ich nicht, dass derart viele schon verblichen wären«, wie Eliot angelehnt an Dantes Inferno schreibt. Dieses Inferno ist die Aussicht, die sich an Lutes Geschichte anschließt.

Homepage von Jason Lutes: http://jlutes.wordpress.com