Zeitgeist

Postdemokratie und Digitalisierung

Kann das Piratenkonzept der Liquid Democracy die Demokratie retten oder trägt es zu ihrer Liquidierung bei? Einige Überlegungen zur digitalen Demokratie.

In seinem Buch Postdemokratie konstatierte Colin Crouch, dass die Anzahl der Staaten, in denen demokratische Strukturen herrschen, zwar in den letzten Jahren zugenommen hat, er stellt aber zugleich fest, dass für »die gewachsenen Demokratien Westeuropas, Japans, der Vereinigten Staaten und anderer Teile der industrialisierten Welt […] kein großer Optimismus mehr aufkommen« will. Crouch beklagte ganz konkret die Vorgänge während der Präsidentschaftswahl in den USA im Jahr 2000 und in einem allgemeineren Sinne das mangelnde Vertrauen, das Bürger ihren Politikern entgegenbringen. Kurzum: Crouch stellt eine Politikverdrossenheit der Menschen fest, eine Verdrossenheit sich innerhalb der bestehenden Strukturen und Gegebenheiten einzubringen.

Kritik an demokratischen Strukturen ist alt. Demokratie ist eine anstrengende und zeitintensive Beschäftigung. Gerade deshalb setzen viele Menschen große Hoffnungen in neue Formen von Partizipation, die sich durch die Digitalisierung ergeben. In der Tat ist zu diagnostizieren, dass die Möglichkeiten zur Beteiligung, die das Internet bietet, die politischen Prozesse, die gesellschaftliche Verfasstheit wie auch die politische Kultur der Gemeinwesen verändern.

Die Piraten-Partei hat direkte politische Partizipation zu einem erfolgreichen Dreiklang verbunden: (1) Politik ist Partizipation: Die Bürgerinnen und Bürger sind eingeladen mitzumachen. (2) Partizipation ist ein Prozess: Sie sind eingeladen aktiv mitzumachen. (3) Der Prozess ist ergebnisoffen: Sie sind eingeladen aktiv mitzumachen und ihre Kompetenzen einzubringen. Mit ihren Kompetenzen verbindet sich die Erwartung, die Dinge besser zu machen.

Dies ist zumindest die Theorie, die spätestens seit dem großen Erfolg der Piraten-Partei bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin im September 2011 eine große Anhängerschaft gefunden hat. Bedeutet Digitalisierung aber tatsächlich ein Mehr von politischer Partizipation und demokratischer Teilhabe? Oder stellt Digitalisierung in erster Linie eine neue Form von Kommunikation bereit, die die Essenz von Politik, das Wesen von Demokratie und ihre historisch gewachsenen Verfahren wie Wahlen und Parlamentarismus nur wenig berühren?

Das momentane Kentern der Piraten in den Umfrageergebnissen zeigt, dass neue Formen von Politikverfahren und -gestaltung nur schwer umsetzbar sind. Die Piraten kentern eben nicht, weil ihre politischen Positionen nur ungenügende Unterstützung finden, sondern weil ihre Art, Politik zu machen, die menschlichen Schwächen aufzeigt, mit denen auch etablierte Parteien zu kämpfen haben: der Kontrast zwischen Vision und Realität, die Diskrepanz zwischen politischen Forderungen und persönlichem Handeln, Gemauschel trotz der Forderungen nach Transparenz, Zug zur Macht bei einzelnen und individuelle Eitelkeit bei einigen.

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Jenseits der Zukunft der Piraten, mit denen das »digitale Zeitalter der Demokratie« verbunden wird, wissen wir, dass neue Möglichkeiten von Kommunikation auch die Strukturen von Öffentlichkeit und die Formen der politischen Partizipation verändern. So hat schon die so genannte Gutenberg-Revolution einen Prozess in Gang gesetzt, der dem Politischen eine neue Gestalt gab. Die digitale Revolution verformt zumindest vier Bereiche der Politik: Zum einen können Staat und Bürger auf neue Weise miteinander in Kontakt treten – in der Theorie zumindest offener und unkomplizierter. Zum zweiten begünstigt die Transparenz von Kommunikation und hebelt herkömmliche Hierarchien aus. Drittens stellt sie neuartige Kanäle der politischen Mobilisierung bereit – gesehen sowohl bei der Präsidentschaftskampagne von Barack Obama vor vier Jahren wie auch letztes Jahr bei der »Arabellion« in Nordafrika und im Mittleren Osten. Und nicht zuletzt bringt die digitale Revolution neue politische Kräfte und Programme hervor – festzustellen an der Gründung der Piraten und an ihren Erfolgen bei den Landtagswahlen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Schleswig-Holstein in diesem und im letzten Jahr aber auch abzulesen am »Altmaier-Effekt« (Karl-Rudolf Korte), um zu beschreiben, was die etablierten Parteien von den Piraten übernehmen.

Kurzum: Die digitale Revolution verändert Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit im breitesten Sinne und in ganz unterschiedlichen Kontexten. Dabei wirkt sie als Katalysator gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, sie beschleunigt noch einmal Vorgänge, die bereits im Gange waren: Autoritäten wurden in Frage gestellt, hierarchische Ordnungen kritisiert, ebenso ein elitärer Führungsstil.

Die folgenreichste und tiefste Prägung erfährt diese Revolution im vorpolitischen Raum. PC und Internet haben neue Mechanismen und Spielregeln der politischen Teilnahme ermöglicht. Das Internet kennt kein Zentrum, es benötigt keine Schaltzentrale, es schafft Sinnhaftigkeit und Ordnung im Prozess der Vernetzung von Gleichrangigen. Damit hat die Digitalisierung gesellschaftliche Trends fortgeführt: Sie hat Hierarchien aufgebrochen und Teilhabechancen vermehrt.

Hat sie aber die Demokratie neu erfunden? Politik, Demokratie, gesellschaftliches Engagement sind Präsenzveranstaltungen, die der Kommunikation physisch Anwesender bedürfen. Das gilt in besonderer Weise für das Parlament. Trotz aller Neuerungen seit etwa 1800, als sich in Nordamerika und in einigen europäischen Ländern die moderne Demokratie etabliert hat, hat sich das Wesen des Parlamentarismus kaum verändert, ist die Arbeitsweise eines Parlaments ähnlich geblieben. Oder erkennen wir die Neuerungen noch nicht, die sich mit der Digitalisierung Bahn bricht?

Mindestens drei Spannungsfelder sind mit der digitalen Revolution verbunden, die es zu lösen gilt, um eine neue Qualität von Politik, Partizipation und Prozessen in Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu ermöglichen:

  1. Mehr demokratische Teilnahme und Teilhabe sind Werte an sich. Es ist zu begrüßen, dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnet, sich an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu sich beteiligen. Allerdings ist dem Internet eine unheimliche Tendenz zur Monopolisierung eigen, die Konkurrenten von Google, Facebook oder Amazon kennen die wenigsten. Es ist die Frage zu stellen, ob es mit der Digitalisierung auch zu einer Ausdifferenzierung von Positionen kommt. Schließlich sind die Kandidaten für das Amt des Parteivorsitzenden vor dem Bundesparteitag der Piraten im April nicht durch provokante Thesen, sondern durch geglättete Positionen aufgefallen.
  2. Politik bleibt auch in Zukunft eine physische Angelegenheit. Auch wenn die Piraten neue Möglichkeiten demokratischer Teilhabe und politischer Partizipation eröffnen, so haben sie sich doch für eine sehr alte Form des Politischen entschieden, für die einer Partei. Wer die langen Schlangen vor den Saalmikrofonen bei den Parteitagen der Piraten gesehen hat, wird feststellen, dass auch in einer Online-Partei ein etwas so Altmodisches wie ein Mikrofon nicht zu ersetzen ist.
  3. Das Internet hat gesellschaftliche Trends verstärkt, Hierarchien sind obsolet, Autoritäten in Frage gestellt. Und dennoch gibt es gegenläufige Trends: Entgegen großer Hoffnungen ist die Digitalisierung kein Katalysator, der die verkrustete soziale Schichtung und in manchen Bereichen blockierte deutsche Gesellschaft aufbricht. Vielmehr scheint es, dass der »digital divide«, den wir in manchen Aspekten sehr deutlich (Stadt/Land, Generationen) in anderen eher weniger deutlich (soziale Schichten, Bildung) sehen können, die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern sie sogar vertieft.

Die entscheidende Frage hat Claus Leggewie gestellt: »Kommt es zur notwendigen Verflüssigung der Demokratie oder zu ihrer postdemokratischen Liquidierung?«. Diese Frage ist noch nicht endgültig beantwortet. Vielleicht zum Glück: Es gibt noch die Chance, die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen – im Sinne von mehr und besserer politischer Partizipation und demokratischer Teilhabe.

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