Literatur, Roman
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Nachrichten von der anderen Seite der Sonne

Die Gründe, warum sich Menschen Briefe schreiben, sind vielfältig. Hanna und Sebastian in Thomas Klugkists gleichnamigem Roman schreiben einander, um der Nähe, die sie füreinander empfinden, einen Raum zu geben. Sie wagen ein Doppelleben zwischen exzessiver Leidenschaft und intellektueller Seelennähe, in dem sie sich auf die Suche nach sich Selbst machen.

»Liebe Hanna, was für ein Traum…«. Mit diesen Worten beginnt der Roman des Schriftverhältnisses zwischen der Ärztin Hanna und dem Journalisten Sebastian. Der angesprochene Traum meint das Wiedersehen der beiden nach zehnjähriger Abstinenz. Zu Abiturzeiten verband sie eine »komplizierte Schwärmerei«, die aber nicht wie gewöhnlich in eine flüchtige Liebelei mündete, sondern in einen nahezu selbstquälerisch-utopischen Pakt. In zehn Jahren werde man sich in Rom treffen und sich für einige Tage erneut begegnen, um zu sehen, wo man im Leben und wie zueinander stehe.

Im Anschluss an dieses Treffen setzt der Debütroman von Thomas Klugkist ein. Nach intensiven Tagen in der Ewigen Stadt haben sich die Wege von Hanna und Sebastian getrennt, das nächste Wiedersehen ist in einer weiteren Dekade für Athen geplant. Aber keinem von beiden geht dieses verliebte Wochenende aus dem Kopf, so dass sie einen sich über diese Zeit erstreckenden, von einigen Phasen des Schweigens unterbrochenen Austausch in Briefen, E-Mails und SMS aufnehmen. Der Plot mag Assoziationen an Daniel Glattauers E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind wecken, Hanna und Sebastian spielt aber sprachlich, erzählerisch und konzeptuell einige Klassen über diesem. Klugkist erzählt darin von einem schonungslosen Austausch zweier Suchender, die »in aller Offenheit« um das Menschlich-Allzumenschliche ringen.

Der Berliner Thomas Klugkist schrieb seine Dissertation zu Manns Alterswerk Doktor Faustus und ist spätestens seit seinem Essayband 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann als Experte für den vielleicht größten der deutschen Autoren anerkannt. Wer sich mit der Faust-Verarbeitung des »Zauberers« (Friedhelm Kröll über Thomas Mann) auseinandersetzt, kommt an dem »extremistisch veranlagten Selbstsucher« Friedrich Nietzsche nicht vorbei. In Klugkists Roman wird man als Leser deshalb nicht nur mit vielen grundsätzlichen Lebensrätseln konfrontiert, sondern behält Nietzsches Grundfrage, wie viel von der Wahrheit der denkende Mensch gerade noch aushält, stets im Hinterkopf.

Der Frage, wie ehrlich zwei Menschen grundsätzlich sein können, ohne einander zu schaden, gehen Hanna und Sebastian nicht aus dem Weg. Ist die absolute Wahrhaftigkeit zweier Liebender nicht schon ein Irrtum, wenn sie ihrer Liebe nur den Schriftraum zur Verfügung stellen und ihr die Möglichkeit einer Bewährung nehmen? Und wie resistent gegen Lügengebäude ist die Nahdistanz der Briefe? Wie aufrichtig und wahrhaftig kann man aus der Ferne sein, »ohne sich schöner zu machen, kraftvoller, idealtypischer, bedeutender, komplizierter, aber auch erschreckender oder verworfener, Hauptsache größer und reicher als man ist?« Wer jemals versucht hat, sich in Briefen jemandem zu öffnen, weiß um die Gefahr der »Versuchung des Versuchs«, einen besseren Anschein zu machen, als sich mit all seinen Widersprüchen und Schwächen zu zeigen.

Hanna und Sebastian widerstehen dieser Versuchung und beginnen, sich betörend schöne und wohlwollend offene Briefe zu schreiben, in denen sie berichten, wie es ihnen in ihrem Leben ergeht. Anfangs sind dies noch ehrgeizig gesetzte Kontrapunkte gegen den sich in den Vordergrund drängenden Alltag, später schiebt sich das Leben immer mehr zwischen diese außergewöhnliche Beziehung im »Lichtkegel der Sprache«. Sebastians anfängliche Frage »Wie soll ich das alles abarbeiten? Plus all dem, was das Leben inzwischen noch zusätzlich draufgepackt hat?« findet ihre Antwort in dem bewussten Beschränken des Austauschs auf die einzig und wirklich wichtigen Dinge, die beider Leben prägen und beeinflussen. Es entsteht in diesen Briefen eine virtuelle Traum- und Gegenwelt, ein exklusiver Denk- und Reflexionsraum, der den romantischen Idealen vorbehalten bleibt, die beide in ihrem Leben vertreten und an denen sie im gelebten Alltag immer wieder scheitern müssen.

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Thomas Klugkist: Hanna und Sebastian. Verlag C.H.Beck 2014. 432 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Einiges an diesem Roman erinnert an das Buch Und Nietzsche weinte des US-amerikanischen Psychologen Irvin D. Yalom. In dem vor 20 Jahren erschienenen Bestseller treten Friedrich Nietzsche, Josef Breuer, Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé in einen fiktiven Dialog über den Wesenskern des Menschlichen sowie die Unmöglichkeit der Liebe angesichts der Abgründe des Psychologischen. Die Briefe zwischen Hanna und Sebastian sind wie die Gespräche zwischen Nietzsche und Breuer utopische Orte, in die sie sich immer wieder fliehen, wenn sie das Hier und Jetzt vor Herausforderungen stellt. Zugleich sind sie in ihrer vertrauten Offenheit ungemeine Zumutungen, denn sie fordern auch den unverstellten Blick in die Abgründe des eigenen Lebens und das des anderen.

In Yaloms Roman entgegnet Nietzsche seinem Gesprächspartner Breuer auf die Frage, ob seine Philosophie nicht den Umgang mit diesen Abgründen lehre, dass er Verzweiflung nicht heile, sondern sie nur studiere. »Verzweiflung ist der Preis, den man für die Selbsterkenntnis zu zahlen hat. So tief man in das Leben sieht, so tief sieht man in das Leiden.« Man könnte sich vortrefflich darüber streiten, ob die »Berichte von der anderen Seite der Sonne«, die sich Hanna und Sebastian schreiben, nicht vor allem dazu beitragen, dass sich beide weniger mit dem alltäglichen Glück als vielmehr mit der Verzweiflung beschäftigen. Was zwar ihre Selbsterkenntnis fordert, aber zugleich ihr Glück verhindert. Vor allem aber muss man einräumen, dass dieser Austausch ihre Sinne bei der Suche nach sich selbst ungemein schärft. Nietzsches Credo »Werde, der du bist!« wird zum stillen Motto ihres Austauschs.

Beruflich heißt das für beide, dass sie aus den Mühlen des kapitalistischen Angestelltendaseins aussteigen und sich selbstständig machen – Sebastian mit einer journalistischen »Entwicklungsplattform für freies Denken« und Hanna mit einem eigenen Ärztehaus, in dem sie wilde Kulturevents veranstaltet. Ihr beruflicher Werdegang ist aber nicht mehr als das Sinnbild ihrer individuellen persönlichen Entwicklung, die in zwei völlig unterschiedliche Richtungen geht. Während sich der Theoretiker Sebastian im Laufe der Jahre immer stärker vom Körperlichen ab- und zum Geistigen hinwendet, vollzieht sich bei der für das physische Heil ihrer Patienten zuständigen Hanna das Gegenteil. Sie betreibt ihre Selbstsuche exzessiv am eigenen Leib. Von Gelegenheitsaffären über offene Beziehungen bis hin zu Abenteuern in zwielichtigen SM-Clubs lässt sie nichts aus, um sich selbst zu spüren und zu finden.

Selbstverständlich hat diese Entwicklung ihre Gründe in den Biografien der Protagonisten und natürlich wird sie von den Katastrophen des Lebens gefördert. Ja, die schonungslose Verarbeitung in Briefen erinnert an das allgegenwärtige Therapieren des Lebens um uns herum. Das mag einigen nicht gefallen, zeigt aber letztendlich, wie zeitgemäß dieser Roman ist. Einige Leser werden bei der Lektüre dieses Psychogramms Parallelen zu Lars von Triers NYMPH( )MANIAC finden, denn Thomas Klugkists Debüt ist, wenngleich als Briefroman angelegt, alles andere als trocken, theoretisch oder körperlos.

Hanna und Sebastian ist ein Dialog zwischen Körper und Geist, zwischen feuchter Leidenschaft und intellektueller Seelennähe. Der Austausch in schriftlichen Tag- und Nachtgeburten erinnert gleichermaßen an den von Irvin D. Yalom aufgeschriebenen Disput zwischen der verführerischen Lou Salomé und dem spröden Friedrich Nietzsche als auch an die provokante Beichte der sexbesessenen Joe gegenüber dem altersweisen Abstinenzler Seligman in Lars von Triers neuestem Geniestreich.

Der Roman besticht auch in seiner gehobenen und um Genauigkeit bemühten Sprache. Er öffnet die Möglichkeit, über die großen Fragen des Daseins unter den Vorzeichen der Moderne neu nachzudenken. Die sprachlichen Klischees, derer sich Schriftsteller jahrhundertelang bedienen konnten, sind blass in einer von tiefenpsychologischem Wissen vollkommen durchdrungenen Welt, in der jedes Wort ungeschützt im Raum steht. Vor allem reichen sie nicht aus für die neuen Formen des Zusammenlebens, die unsere Gesellschaft prägen. Klugkists Weg zu einer neuen Sprache für das, was Leben heute ist, ist zugleich auch eine Suche nach dem Individuum in der Moderne. Eine Suche, die uns alle angeht.

2 Kommentare

  1. Brigitte sagt

    Von Klugkist hätte ich gerne einen bekommen, auch sehr gerne einen von Ihnen zu “Leben und Schreiben – Der Erzähler Warlam Schalamow” von Wilfried F. Schoeller (ich verneige mich vor Ihren Besprechungen zu den Büchern Schalamows!), aber nein, es war “nur” einer von einer lieben Freundin vor etwa drei Wochen, mit dem sie mir ein Buch von Christoph Hein ans Herz legte, nämlich “Exekution eines Kalbes”. Eine Entlarvung der speziellen Art – nicht nur des Lebens im real existierenden Sozialismus. Vor 20 Jahren veröffentlicht, aber es hat wohl auch heute noch seine Daseinsberechtigung.
    Mit Dank für Ihren wunderbaren Blog (den ich leider erst vor Kurzem entdeckt habe)
    Brigitte

  2. Iris Gehmayr sagt

    Also, es ist schon ewig lange her, dass ich einen hangeschriebenen Brief erhalten habe. Eigentlich schade!
    Vielleicht sollte man das ehest möglich ändern und selbst wieder mal einen schreiben.
    Dieses Buch klingt ausgesprochen interessant und über ein Exemplar würde ich mich sehr freuen,
    Lg Iris

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