Literatur, Roman

Die Patronen im Magazin

Wer sich für Tschetschenien und Literatur interessiert, war bislang auf Arkadi Babtschenko und seine Romane angewiesen. Mit dem Amerikaner Anthony Marra gibt es nun eine weitere gewichtige Stimme. Sein Roman »Die niedrigen Himmel« zeigt die menschliche Seite in einem seit Jahren gärenden Konflikt.

»Die Kettensägen verstummten, und der Wald wuchs wieder, und dann kam ein Krieg und dann noch einer, und Chassan hatte seinen Sohn und sein Buch, und die Aussichten, in einem von beiden Erfüllung zu finden, waren so trübe wie die, dass beide das Jahrzehnt überleben würden.« Das Jahrzehnt, von dem hier gesprochen wird, ist jenes zwischen 1994 und 2004, in dem die autonome Republik Tschetschenien von zwei Kriegen mit Russland erschüttert und die tschetschenische Gesellschaft von Misstrauen und Verrat atomisiert wurde. Der 30-jährige Amerikaner Anthony Marra hat diese Dekade in seinem kraftvollen Roman Die niedrigen Himmel verarbeitet. Er verfolgt darin in Sprüngen durch Zeit und Raum die Schicksale zweier Schwestern und dokumentiert die Ereignisse in einer Dorfgemeinschaft, die der Krieg auseinandertreibt.

Sonja und Natascha sind früh auf sich allein gestellt. Sonja geht kurz vor Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges nach London, um dort Medizin zu studieren. Die Schwestern bleiben zunächst in Kontakt, aber ihre Telefongespräche werden »parallel zur zerfallenden Zivilgesellschaft immer kürzer.« Bis der Kontakt eines Tages ganz abbricht. Natascha hat der Strudel des Krieges ergriffen. Als sie ihr Glück herausfordert und versucht, aus dem Bürgerkriegsland herauszukommen, gerät sie an windige Menschenhändler. Im Roman verliert sich ihre Spur in den finsteren Hinterhof-Bordellen Osteuropas. Sonja ahnt davon nichts und kommt in Sorge um ihre Schwester zwischen den Kriegen ins zerstörte Grosny zurück. Vergeblich versucht sie mit allen Mitteln an Informationen über den Verbleib ihrer Schwester zu kommen. Allein wie Marra dieses Ringen mit der Ungewissheit, wie er den stechenden Schmerz des permanent ins Leere schlagenden Herzens von Sonja beschreibt, ist die Lektüre dieses Romans wert. Sonja wird diesen Schmerz nicht überwinden, vielmehr bleibt er Antriebskraft ihres Engagements als hochqualifizierte Medizinerin (eine der besten ihres Jahrgangs), in der Ruine des örtlichen Krankenhauses eine Notversorgung der Bevölkerung einzurichten.

»Am Morgen nachdem die Föderalen ihr Haus niedergebrannt und ihren Vater abgeholt hatten, erwachte Hawah aus Träumen von Seeanemonen.« Mit diesen Satz, der gewaltvoll und zauberhaft zugleich ist, setzt Anthony Marras Roman ein. Er wirft die Lesenden direkt ins Tschetschenien des Jahres 2004, in dem das Virus des Bürgerkriegs längst alle Glieder dieser Region erfasst hat. Der im Leben gescheiterte Achmed wird sich Hawah annehmen und mit ihr in ein nahegelegenes Krankenhaus fliehen, in dem er sich von einer Ärztin namens Sonja, die Wunden mit Angelsehne nähen kann, Hilfe und Schutz für das Mädchen erhofft.

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Anthony Marra: Die niedrigen Himmel. Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach. Suhrkamp Verlag 2014. 489 Seiten. 22,95 Euro. Hier bestellen

Sonja hat sich in einen Kokon aus Gram, Gefühlskälte und Frust über den Verlust ihrer Schwester und die schwachsinnige Rückkehr aus London in ihre zerstörte Heimat eingeigelt. Entsprechend verschlossen reagiert sie, als Achmed und Hawah in ihrer Klinik Schutz suchen. Als Achmed ihr anbietet, bei der Pflege und Betreuung der Patienten zu helfen, lässt sie sich darauf ein – nicht ahnend, dass Achmed während seines Medizinstudiums mehr Zeit mit Kunst und Kultur zugebracht hat als mit Lehrbüchern. Sonja beginnt, zu diesem Möchtegernmediziner ein ambivalentes Verhältnis aus Abscheu und Abhängigkeit zu entwickeln.

Sie hat keine Ahnung davon, dass er für die Rettung der Tochter seines besten Freundes seine bettlägerige Frau Ula im Dorf zurückgelassen hat, so wie sie auch nicht erahnt, was in dem Dorf irgendwo in dem Wald, in dem Achmed allabendlich verschwindet, geschieht. An diesem Dorf demonstriert Marra, wie tief das Kriegsvirus in die einzelnen Organe einer Gesellschaft kriecht und welch verheerende Schäden es dort anrichtet. Er zeigt sich dabei als genauer Beobachter zwischenmenschlicher Beziehungen, die von Vertrauen und Loyalität ebenso geprägt sind wie von Misstrauen, Ahnungslosigkeit und Angst.

Während Achmeds Abwesenheit nimmt sich der Dorfälteste Chassan Ulas Pflege an, da ihn dieser Gnadendienst etwas von der Last des Krieges nimmt, die auf seinen Schultern ruht. Denn seit sein Sohn Ramsan Hawahs Vater Dokka an den russischen Geheimdienst verraten hat, weil sich der fromme Muslim dem Widerstand gegen die Russen angeschlossen hat, empfindet Chassan ein tiefes Scham- und Schuldgefühl. Wo einstams Gemeinsamkeit war, regiert nun Misstrauen und Verschlossenheit. Schuld daran, so meint Chassan, ist sein Sohn Ramsan. Seit er im ersten Tschetschenienkrieg entführt und diesen an Leib und Seele schwer verletzt überlebt hat, erkennt er diesen nicht mehr wieder. Auch wenn sein Sohn als Verräter niemanden persönlich auf dem Gewissen hat, ist er für ihn einer, der die Patronen ins Magazin der Waffe legt, mit der dann ein anderer feuert. Chassan ahnt nicht, dass der Preis, den Ramsan für sein Hundeleben bezahlt hat, unvorstellbar hoch ist.

Marra erzählt all das nicht linear, sondern knüpft ein komplexes Netz aus Ereignissen zwischen 1994 und 2004, die die verschiedenen Protagonisten und ihre Beziehungsgefüge ins Zentrum rücken. Die Ereignisse in der Klinik zwischen Achmed, Sonja und Hawah, die Geschichte der beiden Schwestern sowie der Wandel der komplexen Verhältnisse in der Siedlung bilden die drei Erzählströme, die durch Anthony Marras Debütroman mäandern. Einzig ein Zeitstrahl zu Beginn jedes Kapitels bietet Orientierung und die Möglichkeit der Einordnung der Geschehnisse. Im Laufe der Lektüre erschließen sich erst die Zusammenhänge zwischen den drei Strömen, die sich am Ende zu einem reißenden Fluss vereinen.

Im Original trägt der Roman den Titel A constellation of vital phenomena – was der Komplexität der Erzählung vielleicht ein wenig gerechter wird. Denn auch wenn Marras Roman ein mit Leichen gepflasterter Weg durch ein Kriegsgebiet ist, so handelt er nicht vom Sterben, sondern vom Überleben. Das die Form dieses Überlebens höchst unterschiedlich ist, bringt der Originaltitel auf den Punkt. Der deutsche Titel bezieht sich auf die Hadithen in der 67 Sure, in denen die Schöpfung der sieben Himmel geschildert wird, von denen das Firmament »den unteren Himmel mit dem Schmuck von Lampen« darstellt. Die niedrigen Himmel befinden sich unter den unteren Himmeln, dort, wo sich Marras Protagonisten aufhalten. Dieses brutale Katastrophengebiet ist so wenig menschlich und irdisch, dass der Begriff Welt schlichtweg unangebracht wäre. Der Titel Die niedrigen Himmel beschreibt diese Zone des Daseins, in der Missgunst, Rachsucht, Folter und Tod lauern, kongenial, weshalb auch dieser Titel, der einen anderen Schwerpunkt als das Original setzt, überaus treffend ist. Die wunderbare Übersetzung durch Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach erhält die Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit dieser packenden Erzählung, die deshalb ihr Lesepublikum alles andere als kalt lässt.

Die niedrigen Himmel ist eine Reise in die Seelen- und Gedankenwelt dieser Menschen, legt ihre Sorgen und Nöte, Abhängigkeiten und Möglichkeiten, ihre Angst vor der Wirklichkeit und ihren Mut der Verzweiflung offen. Anthony Marra, der einige Zeit in Russland und Tschechien studierte (und aus dieser Erfahrung heraus ein feines Gespür für den russischen Hegemonialanspruch einerseits und für das Bedürfnis, sich aus diesem zu befreien, andererseits entwickelt hat), macht in seinem großartigen Erstling, den selbst Amerikas Präsident Barack Obama gekauft haben soll (ob er ihn auch gelesen hat, ist nicht übermittelt), deutlich, was Krieg mit den Menschen anrichtet, die er vor sich hertreibt, und wie er sie Stück für Stück in Widersprüche und innere Ausreden treibt.

Als Ramsan sich kurz vor dem Verrat von Dokka beruhigen will, sagt er zu sich selbst: »Was zählte, gegen den Amboss der Geschichte geschlagen, schon irgend jemand?« Anthony Marra hält dieser vermeintlichen Beruhigung trotzig seinen Roman entgegen, in dem seine Protagonisten, bei allem Leid und aller Gefahr, Liebe und Mitgefühl zeigen und damit die Bedeutung des Einzelnen, das Menschliche, erhalten. Das macht diesen Roman zu einem ebenso erschütternden wie bewegenden Erlebnis, wie es Literatur nur selten verschaffen kann.

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