Gesellschaft, Sachbuch

Mapping Stereotypes

Jeder sieht die Welt mit eigenen Augen. Dieses Prinzip hat Yanko Tsvetkov auf Landkarten angewandt. Entstanden sind bislang zwei »Atlanten der Vorurteile« mit tiefgründigen Welt- und Denkbildern, die Klischees als unreflektierte Bequemlichkeiten entlarven.

Man kann sich kaum bessere Zeiten vorstellen, um über Vorurteile zu diskutieren. Seit Jahren wird uns eingetrichtert, dass Griechen faul, Italiener notorische Sexisten und Briten unbelehrbare Insulaner seien. Arabischstämmige Personen müssen immer wieder als mutmaßliche Terroristen, Chinesen als skrupellose Markendiebe und Franzosen als weltfremde Intellektuelle herhalten. Und dass wir Deutschen auf Kosten des Auslands wachsen und die Welt totsparen, während sich unsere Rentner mit Hotelhandtüchern die besten Plätze am Pool reservieren, ist auch kein Geheimnis.

Vorurteile teilen die Welt gnadenlos in Dualismen ein. In schwarz und weiß oder gut und böse. Der bulgarische Grafiker Yako Tsvetkov hat sich diesen Effekt zunutze gemacht, um tatsächliche oder unterstellte Einzelphänomene, die zur Vorurteilsbildung gereichen, in anschauliche Landkarten zu verwandeln. »Mapping Stereotypes« nennt er dieses Prinzip, das inzwischen in zwei Ausgaben des Atlas der Vorurteile eine Publikation gefunden hat.

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Yanko Tsvetkov: Atlas der Vorurteile Band 1. Knesebeck-Verlag 2013. 80 Seiten. 16,95 Euro
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Vorurteile sind ein kulturelles Gut, keineswegs wertfrei, aber doch auch prägend. Man kann sich ihnen kaum entziehen, weshalb Medien mit ihnen auch zielsichere Schlagzeilen produzieren können. Auch Satire wäre ohne Vorurteile wie ein zahnloser Tiger. Man muss nicht erst zu den mal als umstritten, dann wieder als unabkömmlicher Ausdruck der Meinungsfreiheit geltenden Mohammed-Karikaturen schauen, um festzustellen, dass stereotype Haltungen und Annahmen Politik machen können. Sie werden herangezogen, um Feindschaften und Sympathien auf sachfremde Phänomene zu übertragen, um damit Stimmung zu produzieren.

Ein Beispiel aus Tsvetkovs ersten Band veranschaulicht das. Vor ein paar hundert Jahren sprachen Italiener, Deutsche und Polen von der »Französischen Krankheit«, wenn sie von der damals weitverbreiteten Krankheit Syphilis sprachen. Franzosen wiederum redeten von einer italienischen Malaise, Holländer nannten sie die spanische Seuche, Russen führten eine polnische Krankheit ins Feld und die Osmanen nährten die Mär einer »Christen-Krankheit«. Willkür? Keineswegs! Denn im Hintergrund tobte der Kampf des Heiligen Römischen Reiches gegen Frankreich, Holland wehrte sich gegen die spanische Herrschaft, Polen und Russland trugen zahlreiche Fehden miteinander aus und das osmanische Reich rüstete sich gegen die Bedrohung der Kreuzzüge aus dem Nordwesten. Solche Geschichten sind es, die den geistigen Hintergrund von Tsvetkovs Landkarten bilden (und manchmal noch spannender nachzulesen sind, als die Karten zu betrachten).

Die geistig-ideologisch geprägte Kartografie hat ihre Tradition im Mittelalter, wo etwa die weltberühmte Ebstorfer Weltkarte im Sinne der ptolemäischen Tradition weniger dazu diente, geografische Wirklichkeiten zu repräsentieren, als vielmehr dem Zweck, eine Ordnung des bestehenden Weltbildes aufzuzeigen. Ihr Charakter ist ein geisteswissenschaftlicher, kein naturwissenschaftlich-geografischer.

Tsvetkov wendet dieses Prinzip auf die Gegenwartsgeografie an. Er bringt Weltbilder und Perspektiven zurück in die geografische Ordnung, die er damit zugleich etwas in das Chaos stürzt. Es ist eine ebenso anregende wie wahnwitzige Idee, stereotype Vorurteile von Menschen und Regionen zur Hand zu nehmen und diese als Momentaufnahmen auf Landkarten übertragen. Politisch korrekt ist das alles nicht, aber meist tiefgründiger, als die politische Wirklichkeit.

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Yanko Tsvetkov: Atlas der Vorurteile Band 2. Knesebeck-Verlag 2014. 80 Seiten. 16,95 Euro
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In seinem zweiten Band geht er spielerischer mit den gesammelten Informationen um. So finden wir etwa einen Facebookeintrag von Süleyman I. mit prächtigem Kopfschmuck, der von Papst Clemens VII., Francois I. von Frankreich und Karl V. kommentiert wird, eine kleine Besamungsgeschichte der Erdtektonik für Kreationisten, eine ziemlich einleuchtende Visualisierung von »Einsteins Relativitätstheorie für Anfänger« oder der Welt aus der Sicht eines Facebook-Nutzers.

Ein Schwerpunkt sind verschiedene Europa-Karten, die durch radikale Schnitte visualisieren, wie was Europa vermeintlich trennt und eint. Sie werden ergänzt von verschiedenen Europa-Perspektiven sowie einer die Veggie-Fraktion gruselnden »Horrorküchen-Landkarte«, die eine Reise durch die Länder der Kuttelsuppe und Stierhoden, des Blutpuddings und Rohen Seeigels, des verrotteten Haifilets und der vergorenen Heringsseite ermöglicht. Das ist durchaus komisch, aber der zweite Band macht auch deutlich, dass das Konzept mit der x-ten Variante erschöpft ist.

Dennoch lassen uns Tsvetkovs lesenswerte Atlanten in ihrer federleicht-witzigen Tiefgründigkeit nachhaltig über die Wirkung von Stereotypen und Klischees in den verschiedenen Perspektiven nachdenken. Der Zeigefinger bleibt dabei dort, wo er gerade ist, nur erhoben wird er nicht. Denn Vorurteile hat jeder. Die Frage ist, ob man ihnen folgt. Zu welch absurden Annahmen das führt, zeigen die Illustrationen von Yanko Tsvetkov.