Erzählungen, Literatur

Schicksale anderer Paare

Julian Barnes, Träger des renommierten Booker Prize, beweist in seinen Kurzgeschichten, dass es nicht viel braucht, um die Abgründe des Menschen offenzulegen. In »Unbefugtes Betreten« lauert der Ausbruch des Vulkans hinter jedem Absatz.

Der Gewinner des Booker Prize 2011, Julian Barnes, hat nach seiner spektakulär trügerischen Lebensgeschichte des Tony Webster in Das Ende einer Geschichte einen kraftvollen Band mit Kurzgeschichten und Erzählungen vorgelegt. Wer nach Vorbildern sucht, muss – wie auch bei Lydia Davis – den Blick nach Frankreich wenden und auf Alphonse Daudet, Gustave Flaubert oder Guy de Maupassant schauen, deren Werke Julian Barnes seit Jahren vertraut sind. Bei den Franzosen hat er sich abgeschaut, dass Ironie, vorsichtig und akzentuiert eingesetzt, oft nachhaltiger ist, als wenn sie mit voller Schärfe eingesetzt wird. Er hat hier studierend erfahren können, dass Sprache – wie auch bei Mark Z. Danielewski – vielschichtig und geheimnisvoll ist, dass sie geschmückt und umgarnt werden will und dass der Leser sensibler für diesen Zauber ist, als die meisten Autoren annehmen.

In den in Unbefugtes Betreten versammelten Kurzgeschichten geht es um das, was langjährige Beziehungen ausmacht. Beziehungen sind im englischen Sinne, also als relations, zu verstehen. Deshalb sind es keineswegs nur Paarbeziehungen, die hier gemeint sind, sondern auch langjährige Freundschaften, gescheiterte Verbindungen und familiäre Einheiten.

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Julian Barnes: Unbefugtes Betreten. Aus dem Englischen von Thomas Bodmer und Gertraude Krüger. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2012. 304 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Seine insgesamt 14 Stories hat Barnes in zwei Teile gegliedert. Im Zentrum des ersten Teils stehen vier Erzählungen mit dem geradezu nichtssagenden Titel »Bei Phil & Joanna«, die Situationen auf verschiedenen Dinner-Partys aufgreifen. Um authentisch zu bleiben, steht hier der Dialog im Vordergrund. In den Gesprächen geht es um die Reflexion und Diskussion der gegenwärtigen politischen Verhältnisse, »inwiefern sich Labour noch von den Konservativen unterscheide, die Straßen von London sich für Gelenkbusse eigneten, wie groß die Wahrscheinlichkeit eines Al-Qaida-Anschlags während der Olympiade 2012 sei und wie der Treibhauseffekt sich auf den englischen Weinanbau auswirken könnte«. Barnes entwickelt hier an der Oberfläche einen bildungsbürgerlich-gleichgültigen, manierierten Erzählstrom, der jedoch durch sein ständiges Grummeln im Untergrund zu keinem Zeitpunkt in seichten Small Talk abdriftet. Der Ausbruch des Vulkans lauert hier hinter jedem Absatz.

Wie etwa bei Alice und Jane, die sich während einer Zugfahrt erst »verständnisinnig« über ihre früheren Affären und deren jetziges Ausbleiben austauschen, um schließlich festzustellen, dass es die Eifersucht auf die jeweils andere ist, die ihre Beziehung ausmacht. Barnes entblößt in diesen Geschichten den irrsinnigen Traum nach allgegenwärtigem Glück, dem alle Welt vergeblich hinterherläuft – ob in der Liebe, der Wirtschaft oder dem Leben im Ganzen.

Im zweiten Teil des Buches sind historisch verankerte Kurzgeschichten versammelt, von denen vor allem die letzte, nach der auch die englische Originalausgabe benannt ist, in ihrem sensiblen, zugewandten Ton des Erzählers überzeugt. Der Satz aber, der diesem Erzählband wie ein Motto des Autors vorangestellt werden kann, ist in der verwirrenden Geschichte »Carcassone« versteckt: »Als ich Teil eines Paares wurde«, heißt es da, »schaute ich mir die Entwicklung und das Schicksal anderer Paare mit gestiegenem Eigeninteresse an«. In Julian Barnes aktuellen Kurzgeschichten steckt die Erfahrung eines ganzen Lebens als Beziehungsbeobachter.