Geschichte, Gesellschaft, Sachbuch

Crash mit Mensch am Steuer

Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert lässt uns begreifen, warum wir im Honda die Welt gegen die Wand fahren und dafür auf eine Anklagebank gehören. Ihr im April mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Wissenschaftsthriller sollte zur Pflichtlektüre in unseren Schulen werden.

Wenn wir uns vorstellten, es gäbe einen Naturgerichtshof, dann säßen dort womöglich gerade Spezies wie Batrachochytrium dendrobaditis, Euglandia rosea oder Boiga irregularis auf der Anklagebank. Sie müssten sich wegen mehrfachen Völkermords verantworten. Der erstgenannte Chytridpilz etwa ist Auslöser des plötzlichen Massensterbens der Stummelfußfrösche in Panama, die unrettbar verloren scheinen. Die zweite Angeklagte ist die Rosige Wolfsschnecke, die in den fünfziger Jahren in Hawaii zur Bekämpfung der großen Achatschnecke eingesetzt wurde, sich aber lieber über die farbenfrohen einheimischen Schneckenarten hermachte und über 90 Prozent der hawaiianischen Schneckenarten vernichtet hat. Last but not least die Braune Nachtbaumnatter, die als stiller Passagier in den vierziger Jahren von Papua-Neuguinea nach Guam kam und sich dort unersättlich durch die Bestände von Guam-Monarch und Marianen-Fruchttaube fraß.

Es sind Geschichten wie diese, von denen man in Elizabeth Kolberts mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Wissenschaftsbuch Das sechste Sterben gefangen genommen wird. Sie summieren sich zu einer gigantischen Geschichte eines Massensterbens, das sich gerade jetzt in diesem Moment weitgehend abseits der massenmedialen Aufmerksamkeit abspielt. Bis zu 52 Prozent aller Spezies könnten diesem Massensterben noch in diesem Jahrhundert zum Opfer fallen. Ob in den Ozeanen, auf Inseln oder zu Land, kein Ökosystem bleibt von diesem Prozess verschont. Erst vor kurzem schrieben mexikanische Wissenschaftler im Fachmagazin Science Advances, dass das so genannte sechste Sterben bereits in vollem Gange sei. In den vergangenen Jahren, heißt es dort, seien einhundert Mal mehr Arten ausgestorben als erwartet. Die Weltnaturschutzunion IUCN gab kürzlich bekannt, dass aktuell über 23.000 Arten vom Aussterben bedroht sind.

Eine vergleichbar gigantische Abnahme der Artenvielfalt hat sich in der Erdgeschichte bislang fünf Mal ereignet. Die bekannteste dieser sogenannten »Massenextinktionen« ist das Aussterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit, nachdem ein Meteorit die Erde traf. Mit diesem Ereignis vergleicht die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert das massenhafte Verschwinden von Arten unserer Zeit. Sie legt mit Das sechste Sterben das bedrückende Porträt der aktuellen Aussterbewelle vor, nicht ohne dabei die vergangenen fünf Extinktionen sowie die Debatten um deren Ursachen zu beleuchten. Dabei veranschaulicht sie, dass sich sowohl die Erkenntnis, Arten könnten aussterben, als auch die Annahme, dass die Ursachen dafür von außen kommen, erst einmal durchsetzen mussten. Vor allem die zweite Diskussion ist trotz zahlreicher wissenschaftlicher Belege bis heute nicht abgeschlossen. Man begegnet ihr immer wieder, wenn es um den Klimawandel geht. Dass dieser vom Menschen verursacht ist, ist zwar hinreichend wissenschaftlich belegt, Klimawandelskeptiker verfechten dennoch weiterhin ihre eigenwillige Theorie, die globale Erwärmung sei auf natürliche Prozesse der Erdgeschichte zurückzuführen.

Wahrscheinlich verhält es sich mit dem Klimawandel wie mit dem Massenaussterben. Es braucht vor allem die Überwindung der eigenen Glaubensannahmen, um zur Wahrheit vorzudringen. Anfang des 18. Jahrhunderts, als die Paläontologie und Geologie noch in ihren Kinderschuhen steckte, gingen selbst anerkannte Forscher noch von einer ideal von Gott gestalteten Welt aus, in der Aussterbeprozesse weder Platz noch Funktion hatten. Doch mit jedem Knochenfund geriet diese Ansicht mehr ins Wanken, wie Kolbert zeigt. Der französische Naturforscher Georges Cuvier etwa war einer der ersten, der nach der langjährigen Studie von Fossilien zur Erkenntnis kam, dass es eine Welt gegeben haben muss, »die der unseren voranging«. Fortan suchten Forscher in ganz Europa nach den Gründen für den Untergang dieser Urwelt. Charles Darwin sah die Ursachen des Aussterbens von Spezies in ihrer natürlichen Auswahl, eine logische Konsequenz seiner Theorie der Entstehung der Arten. Seine Annahme des »langsamen Erlöschens« schloss die Annahme eines plötzlichen, dramatischen Wandels vollkommen aus – und hielt sich bis ins späte 20. Jahrhundert.

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»Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt« lautet der (wie das gesamte Buch) klug übersetzte Untertitel dieses Bestsellers. Er legt die falsche Fährte, die man aus dem kriminalistischen Genre kennt. Denn »Geschichte schreiben« ist im Allgemeinen eine positiv besetzte Redewendung. Tatsächlich schreibt der Mensch Naturgeschichte, und zwar in einer rasanten Geschwindigkeit, in erdgeschichtlicher Perspektive betrachtet gleicht die Dauer seines bisherigen Agierens einem Wimpernschlag. Insofern ist sein Wirken vergleichbar mit dem Meteoriteneinschlag, der vor circa 65 Millionen Jahren das Ende der Großechsen zur Folge hatte.

Kolberts Studie über das Abhängigkeitsverhältnis von Mensch und Natur schließt an die Lebenswerke der Pulitzer-Preisträger Jared Diamond und Edward O. Wilson an. Die beiden Biologen haben die Menschheitsgeschichte aus der evolutions- und soziobiologischen Perspektive entschlüsselt, die Journalistin zeigt nun mit ihrer Echtzeitdokumentation der Folgen menschlichen Handelns einen weiteren Ausschnitt der Kulturgeschichte des homo sapiens.

Mit dem Auftauchen des Menschen haben sich die »Spielregeln des Überlebens« auf der Erde geändert; und zwar so beträchtlich, dass 2016 über den Vorschlag beraten wird, das Erdzeitalter des Menschen künftig als »Anthropozän« zu bezeichnen, als Ära des »menschlich gemachten Neuen«. Diese Ära ist von zwei Ereignissen geprägt, die ohne den Menschen nicht eingetreten wären. Zum einen die Tatsache, dass aus fossilen Brennstoffen Energie gewonnen wird, und zum anderen die menschliche Errungenschaft, sich mittels technischer Innovationen und Kreativität über geografische und natürliche Grenzen hinwegzusetzen. Auch wenn beide Phänomene miteinander in Verbindung stehen, ist das sich vollziehende Massensterben schwer zu (be)greifen. Dies liegt einerseits an der hohen Komplexität von Ursache und Wirkung, andererseits aber auch an der geringen Wahrnehmung der Konsequenzen. Während es das drohende Aussterben des Sumatra-Nashorns aufgrund seines niedlichen Äußeren vielleicht noch in die Nachrichten schaffen könnte, werden wohl die wenigsten vom Aussterben des Dreikantröhrenwurms, des Darwin-Frosches oder des Schuppenmantel-Ameisenwächters erfahren. Die fehlende Wahrnehmung des sich vollziehenden Sterbens ist sicher einer der wichtigsten Gründe für die weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber diesem Phänomen.

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Elizabeth Kolbert: Das sechste Sterben – Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag 2015. 312 Seiten. 24,9 Euro. Hier bestellen

Die Leistung der renommierten US-Journalistin und Klimaexpertin Elizabeth Kolbert liegt darin, diese Gleichgültigkeit abzubauen, indem sie sowohl die faszinierenden als auch die erschreckenden Facetten des Massenexitus beleuchtet. Dafür hat sie Wissenschaftler und Forscher dort aufgesucht, wo dieses Sterben bereits stattfindet, und bei ihren Forschungen begleitet. So ist sie mit Botanikern durch Südamerikas Regenwälder gezogen, mit Meeresforschern und Geologen tauchte sie am Great Barrier Reef und im Mittelmeer ab und mit Biologen ist sie in Nordamerikas Fledermaushöhlen gestiegen. Wo auch immer sie auf ihrer jahrelangen Reise war, wurde sie zur Zeugin des unwiederbringlichen Verlusts von Arten. Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen, Gespräche und Gedanken hat sie einen facettenreichen und packenden Wissenschaftsthriller geschrieben, in dessen Mittelpunkt die Auswirkungen des menschlichen Handelns auf seine Umwelt stehen.

Seit der Industrialisierung nimmt der Mensch in einer atemberaubenden Geschwindigkeit Einfluss auf die Naturgeschichte. Der rasante Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Luft verändert die Lebensbedingungen in radikaler Weise. So führt er nicht nur zum Abbau der Ozonschicht, sondern auch zur Versauerung der Meere. Da das Wasser mehr Gase aufnimmt als es abgibt, verändert sich der pH-Wert der Ozeane. In einigen Meerregionen hat es bereits die Wirkung von Säure; Seesternen fehlen die Tentakeln, Schneckenhäuser sind fast durchsichtig, bestimmte Fischarten kommen gar nicht mehr vor. Besonders betroffen sind Korallen, mit denen unzählige andere Lebewesen bedroht sind, deren Lebensraum diese »Unterseeregenwälder« sind. Ihr Ende wäre gleichbedeutend mit dem Aussterben von unzähligen anderen Arten. Unter Wissenschaftsjournalisten wird die Versauerung der Meere deshalb auch als »gleich schlimmer Zwilling« der Erderwärmung bezeichnet. Denn »Korallen schaffen die Architektur des Ökosystems. Wenn sie verschwinden, ist also ziemlich klar, dass das ganze Ökosystem verschwindet.« Wie wahrscheinlich das ist, zeigt das Beispiel der Karibik. Dort ist die Korallendecke in den letzten Jahrzehnten um fast 80 Prozent zurückgegangen. Das Ökosystem steht dort kurz vor dem Kollaps.

Der Klimawandel zeigt seine Folgen aber auch auf dem Land. In den Regenwäldern rund um den Globus hat die Erderwärmung zur Folge, dass Flora und Fauna, die nur eine geringe Temperaturtoleranz haben, im wahrsten Sinne des Wortes zum Wandern gezwungen sind. In Peru etwa stellten Forscher fest, dass der Temperaturanstieg die beweglichen Spezies jährlich zweieinhalb Metern bergauf trieb. Spezies, die nicht zur Hyperaktivität neigen oder nicht mit der Mobilität ihrer Lebensumgebung Schritt halten können, bleiben dabei auf der Strecke. Besonders mobile Spezies erobern hingegen neue Lebensräume und verdrängen dort diejenigen, die ihnen nicht gewachsen sind. Darüber hinaus hat der Mensch durch Brandrodung oder Besiedlung »einen Hindernisparcours für die Ausbreitung der Artenvielfalt« geschaffen. Er hat Schneisen in die Natur geschlagen, die die Wanderung der Arten verhindern. »Eine Spezies, die wandern muss, um mit steigenden Temperaturen Schritt zu halten, aber in einem Waldfragment – und sei es noch so groß – gefangen ist, wird wahrscheinlich nicht überleben«, schreibt Kolbert.

In der Erdgeschichte haben sich Hindernisse aber auch als durchaus sinnvoll für die Artenvielfalt erwiesen. Spezies haben sich je nach Lebensraum separat entwickelt, aus der räumlichen Isolation ist die biologische Unterschiedlichkeit erwachsen. Die globale Mobilität des Menschen hat die Grenzen zwischen den Lebensräumen jedoch vollkommen aufgelöst; Kolbert spricht sogar von einem Neupangaea, einem riesigen Superkontinent, wie er vor dem Auseinanderdriften der Kontinentalplatten bestanden hat. Denn mit dem Menschen und seinen Waren sind auch konkurrierende Arten, Schädlinge und Krankheitserreger weltweit mobil. Allein in den Ballastwassertanks von Seeschiffen fahren tagtäglich zehntausende Spezies um die Welt; als blinde Passagiere schaffen sie den Sprung in neue Lebensräume. Dies hat fatale Konsequenzen für die Artenvielfalt, wie das anfangs zitierte Beispiel der Braunen Nachtbaumnatter gezeigt hat. Mobilität kann lokal kurzfristig sogar zu mehr Artenreichtum führen, langfristig und global gesehen aber hat es einen beträchtlichen Diversitätsverlust zur Folge. Denn während sich die wenigen robuste Spezies immer mehr ausbreiten, erliegen die zahlreichen Nischenspezies dieser Konkurrenz.

»Wenn die Welt sich schneller ändert, als Spezies sich anzupassen vermögen, fallen viele diesem Prozess zum Opfer. Und das gilt unabhängig davon, ob die treibende Kraft dieser Veränderung in einem Feuerstrahl vom Himmel fällt oder mit einem Honda zur Arbeit fährt«, schreibt Kolbert, nachdem sie den evolutionsbiologischen Fußabdruck des Menschen in dreizehn Kapiteln eindrucksvoll vermessen hat. Es ist der Fußabdruck eines selbstherrlichen Giganten, der sich seines folgenschweren Vermächtnisses offenbar nicht bewusst ist. Er ist mit verantwortlich für das Massenaussterben, das sich vor seinen Augen und doch abseits seiner Aufmerksamkeit vollzieht. Er ist Täter und Tathelfer zugleich, er ist der eigentliche Angeklagte vor dem imaginären Naturgerichtshof.

T. C. Boyle, der mit Die Terranauten gerade an einem Roman über den Menschen in einer künstlichen Umgebung schreibt, wo die Abhängigkeit und Wirkung des Menschen von und auf seine Lebensumwelt isoliert beobachtet werden kann, zeigte sich von Das sechste Sterben schwer beeindruckt. »Elizabeth Kolbert beschreibt mit schmerzlicher Schönheit die Auswirkungen, die unsere Spezies auf alle anderen Lebensformen in unserem riesigen Universum hat. Ihr Buch lässt einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen und ist gleichzeitig absolut notwendig.« Dem ist nur eines hinzuzufügen: Kolberts Arbeit sollte zur Schulpflichtlektüre ausgewählt werden!

Der Text ist in kürzerer Form in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kulturaustausch erschienen.

3 Kommentare

  1. […] Eingriff des Menschen in die Natur hat ein nicht mehr zu erfassendes Ausmaß angenommen. Experten sprechen längst vom sechsten Sterben, weil das vom Menschen verursachte Massensterben mehr Arten auslöschen wird als die fünf […]

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