Literatur, Roman

Im Kammerspiel der Paarbeziehung

Die Datenschutzaffäre beim Seitensprungportal Ashley Madison bestätigt einmal wieder, was weithin bekannt ist, ohne jemals tatsächlich hinterfragt zu werden: sexuelle Untreue ist ein Dauerthema in Langzeitbeziehungen und häufig ein Trennungsgrund. In ihrem im Frühjahr erschienenen Roman »Der Tag, als meine Frau einen Mann fand« geht Sibylle Berg dem Mythos der sexuellen Erfüllung in der Paarbeziehung nach und kreiert dabei ein höchst amüsantes, wenn auch groteskes Kammerspiel der Beziehung.

Rasmus und Chloe, die Protagonist_innen in Bergs neuem Roman, sind in jeder Hinsicht Mittelmaß und middle class. Ein Paar mittleren Alters, akademisch gebildet, urban, gut situiert mit 4-Zimmer-Eigentumswohnung, double income no kids, heteronormativ, seit fast zwanzig Jahren zusammen. Ein Vorzeigepaar, möchte man meinen. Doch die Mittelklasse-Idylle zeigt deutliche Risse. Beruflich ist Rasmus in einer tiefen Krise. Einst ein vielversprechender Theaterregisseur, muss er sich eingestehen, dass seine Karriere längst ins Stocken geraten ist. Nicht einmal sein aktuelles Theaterprojekt irgendwo in Afrika – ein unverkennbarer Seitenhieb auf Christoph Schlingensiefs »Oper für Afrika« – wird die ersehnte Schicksalswendung bringen. Einzig seine Beziehung zu Chloe erscheint ihm auch nach annähernd zwei Jahrzehnten intakt – sowohl auf emotionaler als auch auf sexueller Ebene.

Doch das stellt sich schnell als Irrglaube heraus, denn auch Chloe ist in der Krise – vor allem wegen Rasmus. Nach dem sie jahrelang seine Karriere unterstützt hat, findet sie sich in einem afrikanischen Dorf wieder – fremdbestimmt, ohne eigene berufliche und persönliche Pläne. Vor allem in ihrer Beziehung zu Rasmus ist Chloe unbefriedigt und schlichtweg gelangweilt. Zwar schätzt sie die tiefe emotionale Verbundenheit und Vertrautheit mit Rasmus, aber ihre sexuelle Frustration überwiegt Rasmus’ charakterliche Vorzüge. Ihr Frust wird nur noch getoppt durch ihre wachsende Wut auf Rasmus, der »sich nie die Mühe gemacht hat, irgendetwas über die Funktion meiner Geschlechtsteile herauszufinden. Am Anfang habe ich ihm gezeigt, wie es geht. Wie es immer schnell und zuverlässig geht. Was ist an: Hier konzentriert reiben, auch falsch zu verstehen? Das unbeholfene Betasten hat mich so traurig gemacht, so hilflos, weil ich wusste, dass wir immer zusammenbleiben würden und das für mich hieß: Ich werde nie mehr einen Orgasmus bekommen, den ich nicht selbst erzeuge. Ich werde mich immer ein wenig langweilen, weil Sex ohne Orgasmus nur in Zeiten absoluter Verwirrtheit zu ertragen ist.«

Chloe verlangt es nach etwas Neuem, etwas Aufregendem. Sie findet dies ausgerechnet nach einem traumatischen Erlebnis. Rasmus und Chloe kommen zufällig hinzu, als Mannes, mit dem Chloe tags zuvor eine sexuelle Begegnung hatte, sich am Strand selbst verbrennt. Völlig verstört und im Drogenrausch sucht das Paar Ablenkung in einem Massagesalon, wo Chloe sich dem Masseur Benny hingibt. So nimmt das Drama zwischen Rasmus und Chloe seinen Lauf und der Roman bekommt deutlich dramatische Züge. Natürlich kann Chloe ihr Verlangen nach Benny vor Rasmus nicht lange geheim halten. Kurzerhand zieht sie aus dem gemeinsamen Hotelzimmer aus und bricht den Kontakt zu Rasmus ab. Erst auf dem Heimflug treffen sich beide wieder und Rasmus – physisch wie psychisch geschwächt nach Wochen des Liebeskummers und wegen des gescheiterten Theaterprojektes – hofft auf eine übergangslose Wiederaufnahme der Paarbeziehung. Chloe dagegen leidet unter der Trennung von Benny, der wenige Wochen später überraschend bei Rasmus und Chloe einzieht. Leidend und gedemütigt erträgt Rasmus Chloes Affäre mit dem konturlos bleibenden Benny, der sich hauptsächlich durch seine sexuelle Potenz auszeichnet und als Antagonist zum intellektuellen Rasmus auftritt.

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Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Hanser Verlag 2015. 256 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Sibylle Berg ist in diesem Roman ganz in ihrem Element: thematisch schwimmt sie in bekannten Gewässern, nicht zuletzt handeln viele ihrer zahlreichen Romane und Theaterstücke vom Elend der Liebe. Sie ist eine Kennerin menschlicher Abgründe und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um gesellschaftliche, kulturelle, emotionale oder sexuelle Scheinnormalitäten geht.

Auch das Genre kommt Bergs literarischem Können entgegen und ist im Grenzbereich von Epik und Drama anzusiedeln. In relativ kurzen, prägnanten und dabei hochreflektierten Sätzen lässt Berg ihre beiden Hauptfiguren den rapiden Verfall ihrer Beziehung erzählend darstellen, schweift dabei immer wieder ins Drama ab. Die Figuren berichten abwechselnd in kurzen Abschnitten, die mühelos szenisch gelesen werden können, von ihrer Wahrnehmung der Ereignisse, was eine externe Erzählinstanz überflüssig macht. Dies verstärkt den Eindruck des Darstellens – im Gegensatz zum Erzählen – enorm, wovon wiederum die Handlung profitiert, weil sie somit sowohl inhaltlich als auch formal auf die klaustrophobische und oftmals minimalistische Atmosphäre des Kammerspiels rekurrieren kann. Das auf zwei Figuren reduzierte Personal, die wenigen und zumeist abgeschlossenen Räume (z.B. das Hotelzimmer, die Wohnung), die fehlende Erzählinstanz und die deutliche Verschiebung vom Erzählen zum Darstellen lassen Bergs Roman zum epischen Theater und die Beziehung zwichen Chloes und Rasmus zum grotesken Kammerspiel werden. Die Leserschaft wird zum Voyeur, wenn Chloe ihre neu entdeckte Lust auslebt.

Rasmus resümiert derweil ernüchtert und etwas zynisch über die Daseinsform als Paar: »Wir wackeln herum und handeln vernunftbegabt. Das kann doch nur schiefgehen. Schlafen, essen, ficken, kacken. Das ist es, bitte schön, worum es geht. Wir ertrinken in unseren Gehirnen, die wir nicht mit unseren Handlungen koordinieren können. Wir sind gemacht, andere zu töten, und das dürfen wir nicht, wir sind dazu gemacht, uns zu paaren und weiterzuziehen, doch wir heiraten. Wir reichen uns Gebäck.«

Aber er lernt auch etwas von Benny – über sich, über Chloe, über Sex. Für die Zeit, wenn er wieder Herr im eigenen Haus ist. Diese Zeit kommt schneller als gedacht, denn Benny findet sich in Chloes sozialem Umfeld nicht zurecht und sie fängt an, sich mit ihm zu langweilen. Benny ist lediglich der Katalysator, der Rasmus’ und Chloes Beziehung zum Einsturz bringt und anschließend das Feld räumt.

Sibylle Berg nimmt in ihrem Roman Bezug auf diskursive, mediale und gesellschaftliche Phänomene wie offene Beziehungen oder Polyamorie, die in den letzten Jahren deutlich an Anrüchigkeit verloren haben und denen nun ein Hauch von außerordentlicher Toleranz und (sexuellem) Abenteuer anhaftet. Dass diese Diskurse nicht mehr nur in queeren oder feministischen Kontexten geführt werden, sondern langsam Einzug in das Liebesleben von Großstädtern halten, mag ein Zeichen für ein Hinterfragen von Beziehungsgrundsätzen sein – oder Anzeichen für eine allgemeine Bindungsunwilligkeit in Liebesdingen.

Das Dilemma der romantischen Liebe jedoch bleibt, auch das macht Bergs Roman mehr als deutlich. Solange wir einerseits glauben, dass unsere Beziehungen alles können und sein müssen und andererseits wissen, dass dies unmöglich ist, werden wir die Dichotomie – und somit das eigentliche Dilemma – zwischen Sicherheit und Freiheit, Gewohnheit und Abenteuer nicht können.

Letztlich bietet dieser Roman auch keine Lösungsansätze für das Dilemma der modernen Beziehung, sondern konstatiert lediglich, was alle ohnehin zu wissen glauben und was Sibylle Berg selbst kürzlich in einer ihrer SPON-Kolumnen « in der ihr eigenen, unverblümten Art auf den Punkt gebracht hat: »Gewohnheit und Rausch, Leidenschaft und Gemütlichkeit. Bullshit.« Das ist nicht gerade innovativ, spiegelt aber durchaus den zeitgenössischen Diskurs über die Grenzen von Paarbeziehungen. Das ist schade, aber letztlich verzeihlich, ist der Unterhaltungswert dieses grotesken Gruselkabinetts der Paarbeziehung doch sehr hoch. Die Komik des Romans basiert auf dem Wiedererkennungseffekt – einem Eckpfeiler der klassischen Komödie –, der sich bei Leserinnen und Lesern mit Blick auf die eigenen Beziehungen einstellt. Kaum jemand, der oder die nicht schon ähnlich absurde Situationen im Freundeskreis oder gar selbst erlebt hat.

Grotesk wird der Roman in dem Moment, in dem ein vermeintliches Normalmaß an Toleranz überschritten wird, etwa als Rasmus das Liebesspiel von Chloe und Benny im Nebenzimmer verfolgt, was auch im absolut sehenswerten Buchtrailer mit Sibylle Berg und Matthias Brandt deutlich wird – eine Szene, bei der einem buchstäblich das Lachen im Halse stecken bleibt. Der leise Zweifel, wie man selbst reagiert hätte, wäre man Rasmus oder Chloe, bleibt und bietet vielleicht einen Raum zum Umdenken. Oder in Rasmus’ Worten: »Dieses Konzept der Ehe darf man doch wohl mal überdenken.«

Wer glaubt, in der eigenen Beziehung gegen solche Irrwege von Liebe und Lust gefeit zu sein, der lese Bergs Roman – und vor allem Rasmus’ Sicht der Dinge – mit größter Aufmerksamkeit und Vorsicht. Wer hingegen bereits um die Untiefen der Langzeitbeziehung und Ehe weiß, darf sich für den Moment getrost zurücklehnen und lachen. Zumindest bis zum nächsten Akt im immerwährenden Kammerspiel zwischenmenschlicher Beziehungen.