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Inside Refugee oder: Abbas Khider und sein Roman zur Stunde

Auch wenn der neue Roman des Deutsch-Irakers Abbas Khider vor der Kulisse des zweiten Golfkriegs spielt, ist der lückenlose Erfahrungsbericht seines in Deutschland gestrandeten Asylsuchenden von höchster Aktualität. Wer verstehen will, was die Flüchtlingspolitik mit den Betroffenen im Inneren anrichtet, muss diese »Ohrfeige« auf das europäische Asylsystem lesen.

Nach über drei Jahren sinnlosen Wartens hat Karim Mensy die Nase gestrichen voll. Er verpasst seiner Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde Niederhofen eine Ohrfeige, fesselt sie an ihren Stuhl und klebt ihr den Mund zu, damit sie ihm wenigstens ein Mal zuhöre. Das Ganze ist natürlich eine Wahnsinnstat, bei der Karim alles aufs Spiel setzt. Aber was heißt schon alles, wenn man nichts mehr zu verlieren hat, außer der Würde. Genau die will er mit seiner Tat bewahren.

Dass es Frau Schulz trifft, ist ebenso sehr Zufall, wie es keiner ist, denn sie ist einerseits nur eine Vertreterin eines Rechtssystems, dass Asylsuchende ohne Blick auf deren Einzelfall pauschal zu unverfrorenen Bittstellern abstempelt, andererseits aber auch »eine von denen, die die kleinste Angelegenheit zu einem Staatsakt verkomplizieren«. Sie räumt nicht Steine aus dem Weg, sondern stapelt sie fein säuberlich zu einer undurchdringlichen Mauer aus Vorschriften und Paragrafen auf, die noch jede asylsuchende Person von der so genannten Mehrheitsgesellschaft ferngehalten hat.

Wer könnte besser von den Hürden und Stolperfallen des europäischen Asylsystems erzählen als der Deutsch-Iraker Abbas Khider? Selbst 1996 als politisch Verfolgter aus dem Irak geflohen, hielt er sich danach als so genannter »Illegaler« in verschiedenen europäischen Ländern über Wasser und kennt die Schlupflöcher dieses so genannten Rechtssystems. Seit 2000 lebt er in Deutschland, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in München und Potsdam, bevor er anfing, Romane zu schreiben, in denen er seine Geschichte und die seines Herkunftslandes verarbeitete.

In seinen vorangegangenen drei Romanen hat er die verheerenden Verhältnisse in der arabischen Welt wie auch die einfallsreichen Kämpfe der dort lebenden Menschen um ihre Würde beschrieben. Es ging um das verlorene Irren zwischen Welten, um den drohenden Verlust von Identität und die Verfehlungen des Westens im arabischen Raum. All das hoch poetisch, vielstimmig, schonungslos, reich an Erfahrung und bildlich überbordend. Mit seiner nach weiter Welt klingenden Prosa wurde Khider innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten Autor der Edition Nautilus, in der seine Roman Der falsche Inder, Die Orangen des Präsidenten und Brief in die Auberginenrepublik erschienen.

Sein neuer Roman, in dem er von den Erfahrungen eines geflohenen Irakers zwischen 2000 und 2003 erzählt, ist nun im renommierten Hanser-Verlag erschienen; der Wechsel des Autors wird für seinen ehemaligen Verlag ein Einschnitt bedeutet haben. So wie auch die Flucht aus der Heimat einen Einschnitt darstellt (weshalb sich auch nicht wenige Neuerscheinungen mit dem Thema auseinandersetzen). In Ohrfeige ist sie Grundlage der Handlung, denn ohne Flucht keine Auflösung des Lebens in seine Bestandteile, kein Selbstverlust und keine Demütigung durch Menschen wie Frau Schulz. Davor und damit Ausgangspunkt der Handlung ist aber eine genetische Besonderheit des Ich-Erzählers Karim Mensy. Er leidet an einer Gynäkomastie, einer Vergrößerung der Brustdrüsen, die dazu führt, dass ihm in der Blüte seiner Adoleszenz weibliche Brüste wachsen. Das stolze posieren mit nackter Jungenbrust, ob beim Fußball oder im Schwimmbad, war plötzlich vorbei. Weite Kleidung, Brustbandagen und der Rückzug aus dem öffentlichen Raum lassen Karim sein Geheimnis bewahren, doch als der Militärdienst ruft, droht seine Tarnung zu fallen.

Da Karim nach dem ersten Golfkrieg und den innerirakischen Konflikten der letzte verbliebene Sohn der Familie ist, ermöglichen ihm seine Eltern die Flucht mithilfe eines Schleppers nach Europa. Paris ist das ersehnte Ziel, wo ein Cousin des Vaters schon auf den Neffen wartet. Doch der kommt dort nie an, nach Stationen in Istanbul, Athen, Venedig, Rom und Bozen setzt ihn sein Schlepper irgendwo in der süddeutschen Pampa ab, wo Karim von der Polizei aufgegriffen, registriert und in das zentrale Aufnahmelager gebracht wird. Als er dort gesteht, dass er doch nach Paris wollte, entgegnet man ihm »Dein Paris heißt jetzt Zirndorf«. Von Zirndorf geht es dann über Umwege nach Bayreuth – ausgerechnet, kein Ort scheint deutscher als Bayreuth, wo jährlich mit den Wagner-Festspielen die teutonischste aller Kulturveranstaltungen steigt – und schließlich nach Niederhofen.

Auf dieser Odyssee begegnen ihm nicht nur zahlreiche Schicksalsgenossen, sondern auch die unterschiedlichsten Geschichten, die er in seinen Erlebnisbericht ebenso einfließen lässt wie die eigenen Erfahrungen. Da geht es um düstere »Kulturvereine, die keine sind«, aber von der Job- bis hin zur Brautvermittlung für die kniffligsten Probleme Lösungen anbieten, und um die Bedeutung von Dönerbuden für die Attraktivität einer Ortschaft aus Flüchtlingsperspektive. Es geht um Polizeirassismus und Behördenwillkür, die unzählige unsichtbare Mauern bilden und Schutzsuchende in den unterschiedlichen Stadien der Perspektivlosigkeit gefangen halten, und um Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, die auch nach der Flüchtlingsanerkennung Ankommen und Integration verhindert. Und nicht zuletzt geht es um Menschliches und Allzumenschliches, um Freundschaft und Liebe, Freude, Schmerz und Trauer, Vertrauen und Scham, Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Egoismus.

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Abbas Khider: Ohrfeige. Hanser Verlag 2016. 224 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Karim Mensys Bericht ist keine chronologische Rekapitulation seiner Jahre als Asylsuchender, sondern vielmehr eine Beichte der tatsächlichen und notgedrungenen »Grenzüberschreitungen«, ohne die er nicht bis in diese Amtsstube gekommen wäre. Die Erzählung springt dabei hin und her zwischen dem Erlebten und dem Gehörten, zwischen persönlichen Erfahrungen und dem Allgemeinwissen, dass man sich als Schutzsuchender angesichts der überregulierten Asylgesetzgebung Europas aneignet. »Die zahlreichen Paragrafen und Vorschriften, die dieses Land unter sich begraben, wenigstens einigermaßen zu verstehen, wurde zu meiner wichtigsten Aufgabe«, erklärt der Iraker der gefesselten Amtsdienerin. Das war 2003, nachdem ihn die amtliche »Widerrufsrakete« erreicht hatte, weil die US-Mission im Irak »accomplished« und das Land vermeintlich befriedet war. Seither hat sich nicht nur im Irakdis Lage zugespitzt, auch die europäischen Regelungen sind sukzessive restriktiver gestaltet worden, so dass sich die Situation der Flüchtlinge, die dieser Wochen Deutschland erreichen, noch einmal verschlechtert hat.

Zugleich mischt Khider die Wahrnehmungsebenen, wechselt spielerisch zwischen Erinnerung, Traum und Wirklichkeit, zwischen ungetrübtem Blick und drogenschwangerer Betäubung. Karims Welt wandelt sich mit jeder Seite seines Berichts von einer, in der er selbst Herr seines Lebens war, in eine, in der andere über sein Dasein bestimmen, ohne dass er darauf Einfluss nehmen könnte. Insofern ist dieser Roman auch ein Weckruf seines Autors. Er öffnet dem Leser die Augen, indem selbst der integrationswilligste Flüchtling zwischen den Zahnrädern der europäischen Einwanderungsbürokratie zermalmt wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollte dieser Roman zur Pflichtlektüre für all jene werden, die in Politik und Verwaltung über Wohl und Wehe von Schutzsuchenden bestimmen.

Stilistisch ist Ohrfeige nicht ganz so stark wie die Vorgänger, was nicht heißt, dass es an sinnerweiternden Passagen mangelt. Etwa wenn der Erzähler beschreibt, wie ihm der Schreck in die Glieder gefahren sei, als er erfahren hat, dass er nach Bayreuth verlegt werde, weil er zunächst Beirut verstanden hatte. Der Roman überzeugt aber vor allem auf der argumentativen Ebene. Vor dem Hintergrund der burlesken Ausgangssituation einer vermeintlichen Geiselname in der Ausländerbehörde entblößt Khider in symbolischen Miniaturen die Abgründe der europäischen Asylrichtlinien sowie die Folgen ihrer eilfertigen Umsetzung, ohne dabei seinen Protagonisten (und dessen Schicksalsgenossen) eindimensional als Opfer hinzustellen. Die Ausländergesellschaft, von der Karim ein Teil ist, besteht nicht nur aus Verfolgten und Kriegsflüchtlingen, sondern auch aus Menschenschmugglern, Prostituierten, eigenwilligen Hasardeuren und gewaltverliebten Clanchefs. Khider macht allerdings auch deutlich, dass es meist die auferlegte Ausweglosigkeit ist, die Migranten in die Kriminalität bringt. Denn die meisten Flüchtlinge »wollen einfach ein ruhiges Leben führen«.

Doch genau daran hindert sie das Regime, das sich formal Europäische Einwanderungs- und Asylpolitik nennt, dessen Folgen der Rechtsexperte der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl aber jüngst mit den Worten der »Globalisierung der Gleichgültigkeit« beschrieb. Auf dem Rücken von Schutzsuchenden knickt die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten vor dem wachsenden Populismus ein, der nun auf der von Finanzkrise und Neoliberalismus verbrannten Erde wächst und gedeiht. Die Folgen für die Betroffenen sind fatal, wie auch schon Jenny Erpenbeck in Gehen, ging, gegangen gezeigt hat.

Hier findet sich dann aber doch noch einmal ein anderer, ein neuer, ein subjektiverer Ton. »Wir sind alle wie die geschmacklosen und billigen Produkte aus dem Ausland, die man bei Aldi und Lidl finden kann«, beschreibt Karim Mensy die Situation, in der sich Flüchtlinge befinden. »Wir werden mit den Lastwagen hierhergeschleppt wie Bananen oder Rinder, werden aufgestellt, sortiert, aufgeteilt und billig verkauft. Was übrig bleibt, kommt auf den Müll.« Es ist an der Zeit, dass wir diese Prozesse endlich begreifen. Dieser Roman wird uns dabei helfen.

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