Literatur, Roman

Hochgelobt und totmassiert

Der New Yorker Sprachkünstler Ben Lerner legt mit »22:04« einen schmalen, aber großen Roman über das Werden des Menschen und des Künstlers vor. Seine Prosa ist ebenso betörend wie verstörend. Seine Sprache durchbricht immer wieder das Sagbare und macht so die Komplexität der Moderne verständlich.

Der Debütroman des New Yorker Schriftstellers Ben Lerner Abschied von Atocha war ein Überraschungserfolg, in dem er mit dem Genre des Künstlerromans einige Spielchen trieb. Darin ließ er den jungen amerikanischen Kunststudenten Adam Gordon im spanischen Exil über sein Dasein und Wirken als Künstler nachdenken. Das war nicht nur für sich komisch, sondern erst recht mit Bezug zum Autor selbst, der selbst mit einem Stipendium ein Jahr in Madrid lebte und hier eine Art Porträt seiner Generation mit autobiografischen Bezügen vorlegte. Sein Atocha-Roman wurde zum Geheimtipp der literarischen Boheme. Renommierte Autoren wie Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides und Paul Auster gehören zu seinen begeisterten Lesern.

In seinem Nachfolgewerk 22:04 dreht er das Rädchen der Metafiktion noch eine Umdrehung weiter. Sein Erzähler Ben ist ein aufstrebender New Yorker Künstler, der für seinen ersten Roman viel Kritikerlob erhielt und nach der Publikation einer weiteren Erzählung im New Yorker-Magazin an seinem zweiten Roman sitzt. Außerdem bringt er einige Meriten als Herausgeber einer kleinen, aber angesehenen Literaturzeitschrift mit. Die Verlockung, den Erzähler für ein Alter Ego des Autors zu halten, ist angesichts dieser selbstreferentiellen Figurenzeichnung außerordentlich groß. Autor und Erzähler teilen darüber hinaus die Souveränität, mit der hier die Funktionalitäten der Literaturbranche dekonstruiert werden.

22:04 ist der an den Filmklassiker Zurück in die Zukunft angelehnte Metaroman eines jungen Künstlers über einen jungen Künstler, dem das Leben bei Verfassen seines neuen Romans immer wieder dazwischenfunkt, sei es, wenn ihm seine Ex-Freundin gesteht, ihre Krebserkrankung jahrelang nur vorgetäuscht zu haben oder seine engste Vertraute mit ihm über das Projekt Kind durch Samenspende diskutiert. Die Dauergeliebte des Erzählers sorgt mit einer Galerie für »Kunstwerke mit Totalschaden« für Aufsehen und Ablenkung ebenso wie die Occupy-Proteste in der Stadt und ein nahender Hurrikan. Und wenn es nicht der Albtraum der verpassten Beerdigung seiner Mutter ist, dann wird der Erzähler von der Aussicht auf die mögliche Vaterschaft durch Insemination oder den Verdacht einer schweren Herzinsuffizienz an die Grenzen seiner existenzialistischen Belastbarkeit geführt.

Der Erzähler durchlebt die dramatischen Veränderungen, die seine Agentin in dem neuen Roman erwartet. Sie tauchen das Buch, das die Leser in den Händen halten, in ein existenzialistisches Licht und geben Lerner die Gelegenheit, seine Geschichte zu einer philosophischen Reflektion der Umstände seiner Zeit zu machen. Bestechend ist dabei vor allem die zwischen Ironie und Zynismus schwankende Prosa. Lerner wagt es, die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, um das Verständnis der komplexen Wirklichkeit zu erweitern. Die neurotische Selbstreflektion seines Alter Egos ist eingebettet in die intellektuelle Interpretation der kosmopolitischen New Yorker Gegenwart, mittels der er Querverbindungen zur Stadtsoziologie des schreibenden Flaneurs Teju Cole, aber auch zu Naomi Kleins Globalisierungskritik oder Susan Sontags Kulturästhetik herstellt. So werden zahlreiche Erzählsprünge eröffnet, die sich in kein Finale ergießen, aber nie ohneeinander auskommen. Nichts steht für sich, alles ist miteinander im Kontakt.

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Ben Lerner: 22:04. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag 2016. 320 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Doch all das lenkt den Erzähler von seinem Vorhaben, einen Roman zu schreiben, ab. Bei totmassiertem Oktopus mahnt ihn seine Agentin zur Disziplin und legt ihm nahe, die vieldiskutierte Erzählung aus dem New Yorker zu einem Werk über literarische Hochstapelei auszuarbeiten, weil es einfacher sei, »die Idee für dein nächstes Buch zu versteigern, als das, was du dann tatsächlich schreibst«.

Hier entlarvt Lerners unverlässlicher Erzähler im Handumdrehen die Perfidie des Literaturbetriebs. Statt einen Roman zu kaufen, bieten Verlage oft auf das Versprechen eines Autors, einen Roman zu schreiben. Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland wäre der vor wenigen Wochen erschienene Roman Sophia, der Tod und ich von Thees Uhlmann, der seine Lektorin über ein Jahrzehnt warten ließ, bis er ihr das zugesagte Werk übergab. Bei dem hiesigen Autor würde nicht einmal ein konkretes Versprechen gekauft, sondern nur die Aussicht auf einen Roman, der in der zugesagten Form aber auch anders ausfallen könnte. Die Beträge, die für das symbolische Kapital des vermeintlichen Bestsellerautors fließen, sind oft horrende und stehen in einem befremdlichen Verhältnis zur Lebenswirklichkeit. Mit nur wenigen Zeilen reißt Lerner dieses Lügengebäude seiner Zeit ein.

»Die nachahmende Begierde nach meinem virtuellen Roman würde die Insemination und die damit zusammenhängenden Kosten finanzieren. Meinen tatsächlichen Roman würden alle verreißen. Nach Abzug des Anteils meiner Agentin und der Steuern (einschließlich der Steuern von New York City, wie sie mich erinnert hatte), würden mir ungefähr zweihundertsiebzigtausend Dollar bleiben. Oder vierundfünfzig Inseminationen. Oder ungefähr vier Hummer H2 SUVs. Oder die beiden Erstausgaben von Leaves of Gras. Oder ungefähr fünfundzwanzig Jahre von der Arbeitskraft eines mexikanischen Migranten, sieben von Alex in ihrem derzeitigen Job. Oder elf Jahre meiner Miete, wenn es bei der Mietkontrolle blieb. Oder dreitausendsechshundert Portionen Blauflossenthunfisch, vorausgesetzt, die Art hielt sich.«

Sein Erzähler ist zunächst leidlich von dieser Aussicht angetan und versucht sein Bestes. Er fälscht literarische Korrespondenzen und ahmt stilistisch Walt Whitmans Nationalpoesie in den Leaves of Gras nach, um seinen Roman in ein Gedicht aufzulösen, in dem er darüber nachdenkt, »wie die kleinteiligen Veränderungen des Erotischen vom Politischen nutzbar gemacht werden müssen«. Es wundert nicht, dass dieses surreale Vorhaben scheitert und er bald beschließt, seine Erzählung »nicht zu einem Roman über literarischen Betrug, über das Fälschen der Vergangenheit, sondern zu einer tatsächlichen Gegenwart voller mehrfacher Zukünfte zu erweitern«. Diese literarisierte Gegenwart mit all ihrer Zukunftsangst hält man mit 22:04 in der Hand.

Vor allem sprachlich ist diese ironische Anti-Utopie betörend. Lerner, der zunächst als Dichter von sich hören ließ, findet hier einen ganz eigenen melodischen Rhythmus, der immer auf der Höhe der Zeit, aber nie von ihrer Hektik angesteckt ist. »Die Zeit in diesem Roman … entspricht nicht immer der Zeit in der Welt«, gesteht er in seinem Nachwort zum Roman. Vor allem aber wirft Lerners unaufgeregte und bilderreicher Prosa, die immer wieder mit der von W. G. Sebald verglichen wird, die Frage nach Identität und Kollektivität in Zeiten von Anpassung und Individualismus auf.

Es ist eine Frage, die uns alle angeht, weshalb es nur konsequent ist, dass der letzte Satz in diesem funkelnden literarischen Werk – das in einem geradezu apokalyptischen Szenario mündet, mit dem Lerner vom gesellschaftlichen Oben und Unten erzählt – in das Herz des Lesers einschlägt wie der Blitz in eine Rathausuhr um zweiundzwanzig Uhr vier, um ein neues Nachdenken über den Weg Zurück in die Zukunft anzuregen. »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen/Ich bin bei euch, und ich weiß, wie es ist.«

3 Kommentare

  1. […] und ihren Blick auf die Welt erklären sollten. »Was ich meine« steht über dem Vermächtnis der (neben Susan Sontag) zweiten großen amerikanischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (findet […]

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