Biografie, Geschichte, Sachbuch

Verstehen, nicht Verurteilen

Naomi Schenck erzählt in ihrem Buch »Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12« von ihrer Reise in die verborgenen Winkel ihrer Familiengeschichte. Ein Gespräch über die Nöte, Dilemmata und Fehler der Großeltern-Generation während der Nazizeit, die moralische Pflicht, hinzuschauen und die Chancen der historischen Aufarbeitung in der eigenen Familie.

Naomi Schenck dachte lange Zeit, ihr Großvater Günther Otto Schenck sei moralisch integer. Schon mit neun Jahren wollte sie seine Biografie schreiben, die des Strahlenchemikers, der Karriere im Nachkriegsdeutschland gemacht und die Delphine in Duisburgs Zoo gerettet hat. Doch nach seinem Tod im Herbst 2003 tauchten Hinweise auf, die Zweifel an dem Pionier der Strahlenchemie aufkommen ließen. War ihm die Wissenschaft wichtiger als die Moral? Je länger sie im Nebel der großväterlichen Biografie stochert, desto stärker wachsen ihre Zweifel. Wieso pflegte er jahrelang Freundschaften zu strammen Nazis? Gab es gute Nazis und wenn ja, konnte SA-Mitglied Günther Otto Schenck einer gewesen sein? Was hat es mit dem ominösen »Wildwest«-Club auf sich, dem Günther seit seinen Jugendtagen angehört. Wie passt ihr eigenes Bild des gütigen Opas in das seiner Geschwister, die von der »Günther-Tyrannei« sprechen? Und warum herrscht dieses eisige Schweigen innerhalb der Familie? Diese und andere Fragen ziehen sich durch Schencks gesamte Recherche (hier gehts zur Besprechung des Autors im Freitag), bei der sie viel Mögliches, aber wenig Dezidiertes findet. Wie man damit umgeht und wie sich Zweifel auf die Erinnerung auswirken, darüber haben wir mit ihr gesprochen.

Frau Schenck, was für ein Mann ist Ihr Großvater in Ihren Augen gewesen?

Ein intelligenter, neugieriger, liebevoller, ehrgeiziger und schwieriger Mann. Ein Mann, in dessen Wertesystem die Forschung und die Familie ganz weit oben standen. Ein Mann, der während der Nazizeit deutliche Kompromisse gemacht hat, und der die moralischen Konflikte, die das mit sich brachte, mit sich selbst ausgemacht oder verdrängt hat.

Wie blicken Sie nach dem Verfassen von Ihres Buches auf ihn zurück und wie beeinträchtigen die neuen Erkenntnisse Ihre Erinnerung?

Seltsamerweise sind meine schönen Erinnerungen überhaupt nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, die letzten zwei Jahre intensiv mit ihm verbracht zu haben und ihm näher gekommen zu sein. Es ist eine wertvolle Erkenntnis, dass ich ihn besser kennenlernen und mich von bestimmten Sachen auch distanzieren konnte – und dass er mir deswegen nicht weniger bedeutet.

Warum haben Sie nicht noch zu seinen Lebzeiten angefangen, bei Wikipedia nachzuschauen oder Ihren Großvater zu befragen. Aus der Distanz legt allein die Chemiker-Karriere in einem Land, das mit Hilfe der Chemie ein Menschheitsverbrechen begangen hat, das Nachfragen nahe?

Was Wikipedia angeht: mein Großvater ist Anfang 2003 gestorben, da gab es Wikipedia noch nicht so lange. Jedenfalls war für mich die Möglichkeit, dort nachzuschauen, noch nicht so präsent. Auch wenn ich geguckt hätte, wäre da nichts gewesen, denn den kurzen Eintrag über ihn gibt es erst seit etwa drei Jahren.

Aber Ihre Frage zielt vor allem auf das Nachfragen. Ich habe ich mich tatsächlich oft gewundert, dass ich früher nicht kritischer nachgefragt habe und wie leicht ich mich mit Antworten zufrieden gegeben habe. Ich sah einfach keinen Anlass, die Antworten die in unserer Familie gängig waren, weiter in Frage zu stellen, und habe verblüffend lange gebraucht, bis ich bereit war, den Gedanken, dass auch in meiner Familie etwas mehr war als das was man an der Oberfläche erkennen konnte, überhaupt zuzulassen. Ich bin ehrlich überrascht, wie stark meine Scheu, die eigene Familie in dieser Hinsicht kritisch anzuschauen, bis vor kurzem noch war. Darüber spreche ich im Buch in dem Kapitel »Fragen an die Väter«.

Haben Sie Indizien gefunden, die nahelegen, dass Ihr Großvater gewusst hat, was unter dem NS-Regime in seinem näheren Umfeld mit wessen Unterstützung geschieht, so dass Sie ihn als Mitwisser bezeichnen würden?

Nein. Natürlich wusste er dass sein Institut unter anderem vom Heereswaffenamt finanziert wurde. Seine Forschungen in Halle hatten aber meines Wissens keine direkten Bezüge zu den Verbrechen der Nazis.

Ihr Großvater wollte, dass Sie seine Biografie schreiben. Hat es Ihnen dieser »Auftrag« schwerer gemacht, in die kritischen Bereiche seines Lebens vorzudringen?

Eigentlich nicht. Mir war von Anfang an klar, dass ich diesen Auftrag, wenn überhaupt, nur auf meine Weise ausführe. Ich wusste, dass ich es irgendwann machen würde, wusste nur noch nicht, wann es so weit sein würde. Ich dachte: es ist wichtig, aber nicht dringend. Irgendwann mache ich das. Irgendwann guck ich da hin. Und als es dann so weit war, sah ich die Herausforderung  darin, über kritische Bereiche so zu schreiben, dass es auch für diejenigen Familienmitglieder akzeptabel ist, die normalerweise schnell den Impuls verspüren, die Sippe zu schützen. Ein paar mal habe ich gedacht: wenn ich das schreibe, verscherze ich es mir mit der Hälfte der Familie. Will ich das? Muss das sein? Dann hat es gut getan, so einen Konflikt mal auszuhalten und zum Schluss zu kommen: Ja, es muss sein. Ich traute mir irgendwie zu, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Loyalität und Stellung-Beziehen. Mein Vater hat mal so etwas gesagt wie: ich weiß nicht ob ich da Deiner Meinung bin, aber die Haltung, aus der heraus du das schreibst, gefällt mir. Ich glaube, wenn diese Grundhaltung stimmt – wenn es um Verstehen geht, nicht um Verurteilen – kann man sehr vieles sagen.

Wurde in Ihrer Familie über die Aufarbeitung der NS-Zeit aktiv gesprochen oder war das ein Tabu?

Ich hätte nie gedacht, dass es in unserer Familie Tabus gab. Aber eine Aufarbeitung der NS-Zeit im eigenen Umfeld habe ich Zuhause tatsächlich erst mal nicht erlebt. Es gab einen Konsens im Sinne von Wir haben die Nazis gehasst, und mussten irgendwie versuchen, trotzdem klar zu kommen in dieser furchtbaren Zeit. Man wähnte sich und die Seinen auf der richtigen Seite: aufgeklärt, demokratisch und liberal. Kritisches Nachfragen jenseits dieses Konsens hätte ich, wenn ich es mir bewusst gemacht hätte, als unerwünschtes Übertreten einer Schwelle empfunden, als zu nahe treten, als Illoyalität. Wir sind in unserer Familie alle recht harmoniebedürftig, Streits oder Unfrieden gibt es selten, es ist ein großer Wert, dass die Familie zusammenhält. Das bedeutet mir auch sehr viel. Durch das Schreiben des Buches ist mir aber auch die Kehrseite davon aufgefallen, nämlich, dass ich Bestimmtes tatsächlich als Tabu empfunden und entsprechend lang gebraucht habe, mich darum zu kümmern.

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Naomi Schenck: Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12. Hanser Berlin 2016. 336 Seiten. 22,90 Euro. Hier bestellen

Hat Sie diese Familiengeschichte, in der scheinbar immer ein nicht zu betretender Raum im Zentrum stand, vor dem Schreiben belastet?

Es war mir vor diesem Projekt gar nicht so klar, dass es da einen nicht zu betretenden Raum gab. Belastet habe ich mich durchaus schon immer gefühlt, beziehungsweise ich hatte schon früh den Eindruck, dass bestimmte Schwierigkeiten, die ich habe, mit der Familie zu tun haben. Aber das ist wohl auch normal. Ich hatte da mehr an das Thema Leistungsdruck gedacht. In unserer Familie stehen Intelligenz und Leistung an hoher Stelle und ich hatte oft das Gefühl, nicht mithalten zu können. Mein Großvater, der Familienpatriarch, galt als intelligentester von allen, ich selber hielt mich für die dümmste von allen. Auf jeden Fall war ich seit langem überzeugt, dass es wichtig für mein Seelenheil ist, mir die Familie, ausgehend von Günther, irgendwann einmal genauer anzusehen. Dass das Thema »Verhalten während der Nazizeit« für mich immer wichtiger wurde, je genauer ich hingeguckte, hat mich überrascht.  Ob dieser nicht zu betretende Raum, den Sie ansprechen, wirklich so sehr im Zentrum stand wie er jetzt in meinem Buch im Zentrum steht, kann ich gar nicht sagen.

Die Literatur von Kindern und Enkeln von NS-Tätern war bislang auf tatsächliche Täter beschränkt, Ihr Großvater scheint mir nach der Lektüre aber eher ein so genannter »Bystander« im Sinne Raul Hilbergs, ein Zuschauer oder Mitläufer, zu sein. Oder würden Sie seine Verwicklung anders beschreiben?

Ja, ich sehe ihn auch als »Bystander«. Die Forschung war sein allererstes Interesse. Er versuchte, so unpolitisch wie möglich zu sein, hatte aber das Pech, in Zeiten zu leben in denen man eigentlich nicht unpolitisch sein konnte. Und er hatte das Pech, in Heidelberg zu leben und zu studieren, wo die Universität inklusive der Studentenschaft fast zeitgleich mit der Machtübernahme 1933 gleichgeschaltet wurde und ungeheurer Druck auf Studenten ausgeübt wurde, zumindest einer der Naziorganisationen beizutreten.

Beide Seiten von Günther sind eher unscharf definiert, sein Mittun und sein Widerstand, für den es ja auch Beispiele gibt. Insgesamt war sein Mittun wohl kein richtiges Mittun, sein Widerstand kein richtiger Widerstand. Nach dem Krieg hat ihn sein jüdischer, gerade aus dem KZ befreiten Bandkollege Philip Hack in seiner Band aufgenommen, weil er sich daran erinnerte, dass Günther 1935 bei der Polizei für ihn gebürgt hatte. Beides waren Freundschaftsdienste und keine politischen Engagements.

Muss die familiäre und gesellschaftliche Aufarbeitung der historischen »Schuld« ihrer Ansicht nach nun auch auf die Gruppe der Zuschauer und Mitläufer ausgeweitet werden und wenn ja, warum?

Unbedingt. Wenn man immer über Extreme spricht, ist es leicht, sich nicht angesprochen zu fühlen. Wenn wir Angst haben, uns das moralische Fehlverhalten unserer Verwandten im Dritten Reichs anzuschauen, ist das meiner Ansicht nach ein Indiz dafür, dass wir Angst vor aktuellen Situationen zu haben, in denen unser Gewissen in Konflikt gerät mit unserem Bedürfnis nach Sicherheit oder Wohlstand. Ich glaube, viele dieser »Bystander« haben sich für ihre mangelnde Zivilcourage geschämt.

Ich glaube, es ist wichtig, dass man auch Nöte, Dilemmata und Fehler unserer Großeltern anschaut und nachempfindet, statt sie pauschal zu entschuldigen oder zu dämonisieren. So werden wir uns bewusster über die Reichweite von eigenem moralischem Verhalten oder Nicht-Verhalten. Und umso größer ist die Chance, dass man sich in Situationen, in denen es ums Abwägen geht zwischen persönlichem Vorteil und moralischem Gewissen, vielleicht für letzteres entscheidet.

Ist das Bild, das Sie zeichnen, ein typisches für das Bildungsbürgertum? Und müssen gerade Familien aus dieser Gesellschaftsschicht noch stärker innere Aufarbeitung betreiben? 

Ja, ich glaube schon dass da viel Bedarf ist. Ich glaube, gerade aufgeklärte und intelligente Leute aus dem Bildungsbürgertum konnten später glaubhaft ihre Abscheu gegenüber den Nazis zum Ausdruck bringen – und haben die Kompromisse, die sie während der Zeit dieser Diktatur gemacht haben, weniger thematisiert. Vielleicht liegt es auch daran, dass es gerade unter den gebildeten Leuten viele gab, die die Nazis nicht mochten, deren gesellschaftlicher Ehrgeiz es ihnen aber schwer machte, für ihre Haltung gerade zu stehen. Die haben sich vielleicht noch mehr geschämt als die, die hinterher zugegeben haben Ja, ich war beim BDM oder bei der Hitlerjugend, und ja, ich war begeistert.

Scham ist, hab ich mal gelesen, eines der am schwersten auszuhaltenden und am meisten verdrängten Gefühle. Wenn Leute pauschal abwehren – Aber was hätte er denn tun sollen! – denke ich oft, dass sich die verdrängte Scham auf die nachfolgende Generation, auf ihre Kinder, und ihre Enkel, übertragen hat. Deshalb ist die familiäre Aufarbeitung immer noch so wichtig.

Wie öffentlich oder privat sind solche Familienbiografien? Besteht hier eine moralische Pflicht gegenüber der Gesellschaft, hinzuschauen oder haben Sie Verständnis, wenn andere Familien solche und gravierendere Verwicklungen mit der NS-Täterschaft »unter den Teppich kehren«?

Unabhängig von öffentlich-machen oder privat-lassen: ich finde, es gibt tatsächlich diese moralische Pflicht, hinzuschauen. Ins Dritte Reich waren alle verwickelt. Warum sollte nur bei den ganz klaren Tätern und Opfern genau hingeschaut werden? Warum sollten die moralischen Entscheidungen, die Dilemmata der breiten Mitte, der Mitläufer oder wie auch immer man sie nennen will, weniger interessant sein für die Frage Wie war das möglich?

Ich persönlich finde den Blick auf die Leute, die in der Mitte waren, sogar viel interessanter. Denn das sind die Leute, mit denen wir uns identifizieren – und deshalb fällt der Blick auf sie vermutlich auch so schwer. Sachen unter den Teppich zu kehren ist nicht nur ungut für die Betroffenen beziehungsweise die Angehörigen, sondern auch für die Gesellschaft, die in ihrer Entwicklung darauf angewiesen ist, dass solche Prozesse an vielen Stellen passieren.

Wir alle haben jeden Tag die Gelegenheit, Zuschauer oder Mitläufer zu sein, Stellung zu beziehen oder uns zu engagieren. Die Herausforderungen heute haben andere Gesichter, aber es gibt immer noch tausend Gelegenheiten wo man sich fragen kann: wie soll ich handeln? Engagiere ich mich oder nicht? Gucke ich weg oder gucke ich hin?  Bin ich zu persönlichen Opfern bereit oder meine ich, da helfen andere? Das Phänomen mit den vielen Schultern, auf denen die Verantwortung sich schließlich gefühlt auf Null beläuft, ist doch heute noch genauso aktuell!

Ich sehe absolut keinen Vorteil darin, den genaueren Blick auf die eigene Familiengeschichte zu vermeiden. Im Gegenteil: Es ist wie beim Wohnen im eigenen Haus. Einen zugerümpelten Keller sieht man nicht jeden Tag, aber man weiß, dass er da ist. Er drückt auf die Stimmung, selbst wenn die Wohnräume freundlich und hell sind. Außerdem weiß ich heute: durch dieses Aufräumen zerstört man nicht das Andenken an einen lieben Menschen, sondern man lernt ihn besser kennen. Und fühlt sich ihm vielleicht sogar näher.

Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es ein recht ausführliches Archiv der Schenck-Familie. Hatten Sie mal daran gedacht, ähnlich wie Jan Philipp Reemstma dies gemacht hat, dieses Archiv Historikern zur Verfügung zu stellen?  

Das wissenschaftliche Archiv meines Großvaters ging nach seinem Tod ins Max Planck Archiv in Berlin Dahlem. Der Schenck’sche Familienverband hat ein kleines Privatarchiv, das aber nichts über die wissenschaftliche Arbeit meines Großvaters enthält und überhaupt nur wenig über die Zeit vor 1945, weil das ursprüngliche Archiv 1944 bei einem Luftangriff verbrannt ist. Dann gibt es sonstige Unterlagen meines Großvaters, die aber nicht in einer Weise geordnet sind, dass man sie ohne weiteres fremden Menschen überlassen könnte. Man müsste erst einmal sehr viel Unkraut jäten.

Sie fragen sich am Ende Ihres Buches, was es nun eigentlich ist – Biografie, Familiengeschichte, Spaziergang. Als was sehen Sie es denn selbst, jetzt, mit etwas Abstand zum Verfassen?

Ich glaube, es ist von allem etwas. Vielleicht habe ich ein neues Zimmer im Haus entdeckt, das von jetzt an dazugehört.

Das Titelbild stellt nur einen historischen Kontext auf und steht in keiner Verbindung zur Erzählung von Naomi Schenck.

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