Allgemein, Literatur, Lyrik, Roman

Literatur, lass es krachen

Die Welt ist am Ende, es lebe die Literatur. Es ist nicht das schlechteste Zeichen, wenn die nominierten Titel für den Literaturpreis der Leipziger Buchmesse literarisch etwas wagen. Dabei entführen sie nach Norddeutschland, in den wilden Osten oder in die weite Welt, schwanken zwischen Milieustudie, postmoderner Odyssee, Weltminiatur und regionaler Geschichtsschreibung. Neben vier bemerkenswerten Titeln gibt es auch einen, den man schnell wieder vergessen wird.

Umfang ist keine Kategorie, schon gar nicht für die Kritik, sagte Nis-Momme Stockmann kürzlich im Interview mit dem Autor dieses Textes. Sie soll daher an dieser Stelle keine weitere Rolle spielen, außer der Struktur dieser Reise durch die belletristischen Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse die Reihenfolge vorgeben.

Es geht also zunächst in die »Geliehenen Landschaften«, die Marion Poschmanns Lyrikband den Titel und ihren Texten die Motive geben. Die Anleihe bei den Landschaften darf man wörtlich verstehen, die Wahlberlinerin Poschmann hat Gärten und Parks in Kaliningrad, Kyoto, Helsinki, Shanghai oder New York Gärten aufgesucht, um sich dort sinnliche Anregungen und visuelle Eindrücke für ihre Texte zu holen. In neun Zyklen mit jeweils neun Texten hat sie die Nachwirkungen dieser Impressionen verarbeitet. So springt sie von den Plattenwegen in Berlin Lichtenberg auf die Phantomsteine der eigenen Biografie, reist von den japanischen Kieferninseln in Lenins Umkleidekabine. Die Wege, auf denen sie dabei wandelt, sind ungewöhnlich, der Blick, den sie einnimmt, geht in die Tiefe.

»Ich schnitt Sonnenscheiben, reichte sie weiter«, notiert sie während ihres Spaziergangs durch die rostigen Überreste des Vergnügungsparks auf Coney Island, die Hurrikan Sandy zurückgelassen hat. Wie Sonnenscheiben sind auch die 81 Miniaturen, die in diesem Kleinod der Poesie, das sich der Welt zuwendet, indem die Autorin die Welt in den Blick nimmt, versammelt sind.

Marion Poschmann: Geliehene Landschaften – Lehrgedichte und Elegien. Suhrkamp 2016. 118 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen.

Während Jan Wagner, der für seine Gedichte im vergangenen Jahr als erster Lyriker mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, mit seiner naturalistischen Poesie die Welt feierte, lenkt Poschmann die Aufmerksamkeit der Leser auf die Poesie, die in der den Dingen innewohnenden Tiefe liegt. Es geht ihr um die »Einschlüsse, Ausschlüsse und Trübungen durch Bläschen«, wie es in einem Ihrer Texte heißt, denen sie instinktiv nachspürt. Oftmals gibt es nicht einmal ein Anzeichen, dass da irgendetwas ist, Poschmann findet in diesem vermeintlichen Nichts dennoch viel. Wie das funktioniert, schildert sie in einem Text mit dem Titel »Ersatzbatterien«. »Du beginnst in den Schattenzonen und suchst die geheimen Grundlagen dunkler …, wovon? Einzelne Zweige fliehen vor dir in den Wind. Du versuchst es mit Einfühlung, aber die Wälder ziehen sich weiter zurück in die Abgründe deines Bewußtseins. Ihr Sinn erschließt sich allein den Gedichten in Schönschrift. Der Rest ist Gekritzel.« Wo Jan Wagner die äußere Hülle als Wesen gefeiert hat, nimmt seine Dichterkollegin erst einmal nur wahr und beginnt dann, entlang von »Kraftlinien«, zwischen »Mondphantom« und »Ichphantom« nach dem Wesen zu suchen.

Das Motiv des Titels ist der ostasiatischen Gartenkunst entnommen, in der damit die Einbeziehung der Landschaft außerhalb eines Gartens in dessen Gestaltung gemeint ist – etwa indem eine Hecke so angelegt ist, dass sie den Blick auf ein in weiter Entfernung stehendes Gebäude oder eine Bergkette freigibt. Dieses Prinzip der Einbeziehung fremder Elemente hat sie sich auch für Ihre Texte vorbehalten. So ist dieser Lyrikband auch voller Experimente, ein Versuchslabor dessen, was Sprache zu bebildern vermag. Dabei zieht sich eine warme Melancholie, eine beglückende Traurigkeit, durch die Texte, wie man sie auch schon von ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman »Die Sonnenposition« kennt.

Poetische Landschaftsmalerei könnte man die Arbeiten von Poschmann nennen, träfe damit irgendwie den Punkt und zielte doch daran vorbei. Wie bei Nadav Kanders Fotografien liegt der Zauber ihrer Texte nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe, der Komposition, im lockenden Zusammenspiel der Bilder, die sie im Kopf des Lesers aufruft und denen sie ihre eigenen gegenüberstellt. Wenn man sich auf dieses Spiel einlässt, dann findet man in diesem Band so viele Glücksmomente zwischen den Zeilen, so dass man immer und immer wieder zu ihm greifen will – selbst dann, wenn es politisch wird. »Fledermäuse kreisen im Niedriglohnsektor. Du siehst Gewinne verfallen und wolltest dagegen gewesen sein, immer dagegen.«


Alles andere als melancholisch ist Roland Schimmelpfennigs Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts«. Mit dem titelgebenden Satz beginnt seine Geschichte, die von einem Wolf erzählt, der sich aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet bis in die Innenstadt von Berlin verirrt. Ihm vorausgegangen ist ein junges polnisches Pärchen, das in der Hauptstadt eher schlecht als recht über die Runden kommt. Im Windschatten des Wolfes haut ein junges Duo aus Brandenburg vor den selbstverlorenen Eltern ab. Und je näher die Bestie an Berlins Zentrum heranrückt, desto aufgeregter wird die Hauptstadtgesellschaft. So in etwa könnte man die drei Erzählsprünge dieser hektischen Erzählung zusammenfassen.

Der Dramatiker Schimmelpfennig hat den mit Abstand schwächsten Titel ins Rennen um den Messepreis geschickt. Der Roman ist derart von dem weit verzweigten Figurenkabinett überfrachtet, dass der Autor alle Kräfte darauf konzentrieren muss, dieses zusammenzuhalten. Das gelingt ihm zugegebenermaßen sogar recht gut, die vielfach verschachtelten Beziehungen seiner Charaktere untereinander bleiben lange im Dunkeln und lösen sich erst am Ende sinnvoll auf. Für diese kühne Komposition seiner Geschichte gebührt Lob und Anerkennung.

Schimmelpfennig_JanuarmorgenRoland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. S. Fischer 2016. 254 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen.

Der Preis dessen ist, dass es kaum erzählende Passagen gibt. Schimmelpfennigs Roman besteht vor allem aus aneinandergestückelter Handlung. Den Leser treibt es von einem Ereignis zum nächsten und dort, wo man mal verweilen und in die Tiefe gehen könnte – etwa in einem entkernten Altbau in der Lychener Straße –, entscheidet sich Schimmelpfennig dafür, das Personen- und Szenenkarussell weiter kräftig am Drehen zu halten. Statt Tiefe bekommt der Roman nur Breite, statt historischer Komplexität werden simple Prekariatsbiografien miteinander verwoben. Das ist bedauerlich, denn Ansätze zu einer tieferen Erzählung findet man immer wieder.

Eine andere Schwäche des Romans liegt in der Zeichnung der Landschaft, in die Schimmelpfennig seine Geschichte eingebettet hat. Da ist zum einen Berlin, genauer gesagt der Prenzlauer Berg, den seine Figuren für den Leser in GoogleMap-Manier abschreiten. Passagen mit Straßennahmen über Straßennahmen nehmen viel Raum ein, selbst die S-Bahnstationen, durch die Schimmelpfennig sein Personal fahren lässt, werden kleinteilig aufgeführt. Allein wozu, fragt man sich als Leser. Auf der anderen Seite spielt ein Großteil der Handlung in der brandenburgischen Region rund um die Kleinstadt Beeskow, in der der Autor dieses Textes groß geworden ist und wo er zu Beginn des 21. Jahrhunderts seinen Zivildienst leistete. Dort gab es damals weder einen »Bahnhofsvorplatz«, auf dem man sich aufhalten hätte können, noch ausreichend Zugverkehr, um bei einer Person in den Gleisen – in Beeskow sind ständig Personen in den Gleisen, weil man einfach so über die Schienen geht – die Züge vor der Stadtgrenze warten zu lassen (bei einem Zug pro Stunde zudem kein realistisches Szenario).

Nun sind Romane nicht dazu angehalten, die Wirklichkeit zu spiegeln. Wenn aber einerseits detaillierte Akkuratesse an den Tag gelegt wird (Berlin), andererseits aber ein wildes Fiktionalisieren stattfindet (Beeskow), dann ist das zwar Teil der schriftstellerischen Freiheit, aber eben auch schlampig erzählt. Der Sinn und Zweck scheinen die Klischees zu sein, die Schimmelpfennig für seine Erzählung braucht. Das erstreckt sich auch auf einzelne Figuren, etwa wenn das märkische Teenagerpärchen auf seinem Weg von Sauen nach Berlin schon nach zwei Stunden planlos durch die Wälder irrt. Vielleicht hat Schimmelpfennig nie auf dem platten Land gelebt, aber in Brandenburg wird er kaum einen Teenager finden, der nicht jeden Waldweg bis zur nächstgrößeren Stadt kennt und von dort problemlos zum nächsten See oder zur übernächsten Disko und so weiter findet. Die terra incognita, die er seinen Protagonisten unterjubelt, gibt es nicht.

So irrt man als Leser verloren durch die wenig komplexe Kulturlandschaft zwischen Berlin und Frankfurt/Oder, friert sich mit den zum Teil ziemlich besoffenen Figuren durch die 250 Seiten und legt dieses Buch am Ende recht abgekühlt zur Seite. Wie sich dieses Buch etwa gegen Karen Duves »Macht«, Juli Zehs »Unterleuten« oder Thea Dorns »Die Unglücksseligen« durchsetzen und auf die Nominiertenliste gelangen konnte, ist ein Rätsel und lädt ein zu Verschwörungstheorien.


Ganz anders verhält es sich mit Heinz Strunks Wahnsinnswerk »Der goldene Handschuh«, in seiner Verdichtung einer der kürzesten Favoriten, den der Messepreis jemals hatte. Wahnsinn muss man hier wortwörtlich nehmen, denn Strunk erzählt die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka, wobei er immer wieder tief in die Gedankenwelt des von Alkohol und Psychosen in die Verwahrlosung getriebenen Mannes entführt.

Heinz Strunk, der in dem Bestseller »Fleisch ist mein Gemüse« seine Geschichte mit der Tanzkombo Tiffanys erzählte, der sich als Comedian, Kolumnist (für Titanic), Politiker (für Die Partei) und Schauspieler immer wieder auf die ulkige Seite des Lebens begeben hat, taucht hier ganz tief in das abgehalfterte Rotlichtmilieu Hamburgs der 1970er Jahre ein. Dreh- und Angelpunkt dieser Welt ist die Pinte, die dem Roman den Titel gibt. Im Goldenen Handschuh verkehren all jene, die entweder noch nicht auf der Straße gelandet sind oder es nur noch nicht wahrhaben wollen, dass sie hier Zuflucht und Wärme suchen, bevor sie wieder in die kalte Einsamkeit zurückmüssen. Die Stammgäste tragen Namen wie »Soldaten-Norbert«, »Fanta-Rolf« oder »Tampon-Günter«, »Leiche« oder »der Schimmlige«, und bemessen ihren Korn pro Abend nicht in Gläsern, sondern in Flaschen. Sie bilden die Welt von Fritz Honka, in der sich alle aneinander festhalten, auch wenn sie den Gestank der anderen schon lange nicht mehr ertragen können. Im einander Halten reißen sie sich gegenseitig in die Tiefe.

Heinz Strunk_Der goldene HandschuhHeinz Strunk: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag 2016. 254 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen.

In vier Kapiteln erzählt Strunk von der verheerenden Karriere des Hamburger Serienmörders, dessen perverse Manie, ein Recht auf Glückserfüllung zu haben, vier Frauen mit dem Leben bezahlt haben. Das faszinierende des Romans ist, dass er aufgrund seiner allwissenden, aber niemals urteilenden Erzählperspektive und der schonungslosen Beschreibung dieses Milieus den Leser einfängt und nicht mehr loslässt. Indem Strunk die Welt von Fritz „Fiete“ Honka und seiner Opfer in allen grauenerregenden Details beschreibt, führt er die biografische Ausweglosigkeit dieser Menschen vor Augen und gewinnt die Leser für sie.

Zu echter Sympathie kommt es nie, dafür sind der Dreck und der Gestank, die aus jeder dieser Zeilen aufsteigen, zu klebrig, zu schleimig, zu konkret. Empathie aber hat man definitiv für diese verlorenen Gestalten. Zu keinem Zeitpunkt will man sich ekelhaft von dem, was Strunk da erzählt, abwenden. Vielmehr verfolgt man als Leser mit einem irritierenden Interesse diese Prekariatsbiografien, die laut, brutal und delirierend sind. Im Zentrum steht natürlich die von Fiete Honka, der mit Anfang dreißig schon tief im schmuddeligen Bodensatz der frühkapitalistischen Hamburger Leistungsgesellschaft versunken ist. In seiner Fantasie schleppt er hübsche Bräute ab, wenn er nur erst einmal die Chance bekommt. In der Wirklichkeit aber nimmt er die von Obdachlosigkeit bedrohten, ausrangierten Puffmuttis und Stadtstreicherinnen volltrunken mit nach Hause. Frauen, die laut furzen, die unter dem Kittel Lumpen tragen, die sich seit Tagen nicht gewaschen haben und denen beim erbärmlichen Beischlaf das Gebiss aus dem Kiefer klappert. Solange der Schnaps die Sinne betäubt, kann Honka die Enttäuschung über dieses Dasein wegdrücken. Wenn aber der Morgen naht, kriecht der kalte Hass auf sich selbst und die heruntergekommen Schabracken in seinem Bett in ihm hoch.

So absurd das klingt, aber gerade der drastische und höchst authentische Ton, den Strunk anschlägt, trägt dazu bei, dass dieser Roman zutiefst humanistisch ist. Strunk führt hier den Menschen als rätselhaftes Wesen nicht vor, sondern lässt ihm den Raum, sich in all seiner Ambivalenz zeigen zu können. Der Leser wird zwar nicht zum Komplizen, aber doch zum Vertrauten von Fritz »Fiete« Honka.

Darüber hinaus beweist sich Strunk als großer und mutiger Erzähler, der nicht nur eine vollkommen unbekannte Welt vor dem inneren Auge entstehen lässt, sondern zudem noch eine abgrundtiefe Wirklichkeit wählt, in die man sich in seinen schlimmsten Alpträumen nicht begeben will. Seine erzählerische Kraft lässt einen Sog entstehen, die einen wie Alan Moores Jack-the-Ripper-Hommage »From Hell« bei allem Grauen nicht loslässt. Es ist gewiss kein Zufall, dass jener Londoner Frauenmörder in diesem Roman einen Platz gefunden hat. »Er suhlt sich in seinen Ruhmesphantasien, er träumt davon, berühmter zu sein als Jack the Ripper. An Hitler und Stalin komme ich zwar nicht ran, denkt er, aber die haben ihre Opfer auch nicht gefickt, und da halte ich bald den Rekord.«

»Der goldene Handschuh« ist ein aufwühlender Roman. Ein unbequemes Buch, das die beklemmende Atmosphäre der siebziger Jahre auf dem Kiez einfängt und einzigartig das Milieu beschreibt. Strunk zwingt seine Leser, in den Kopf seines sexgierigen Antihelden blicken. So humanisiert er das Monster und trägt dazu bei, über den Menschen im Allgemeinen und dessen Abgründe nachzudenken. Ein starker Roman, der starke Nerven und einen stabilen Magen braucht.


Der Fuchs in Nis-Momme Stockmanns gleichnamigen Roman taucht in einem Kinderbuch auf und verschlingt die ihn umgebende Welt. So wie die Flut die norddeutsche Kleinstadt Thule, die eine Hauptrolle in diesem fulminanten Weltabgesangsroman spielt. Auf verschiedenen, kompliziert ineinander gewundenen Erzählbahnen schlittern die Leser durch das komplexe Ideen- und Gedankengebäude des Erzählers Finn Schliemann, in dessen Kopf Zustand und Perspektive von Mensch, Welt und Kosmos vielstimmig verhandelt werden.

Die Flut, die die norddeutsche Kleinstadt Thule mit sich reist, bereitet der Welt, wie sie Finn Schliemann kennt, ein Ende. In Stockmanns modernen Atlantis-Erzählung wird die unauflösliche Komplexität der Gegenwart von der Kultur (oder Unkultur) der Postmoderne in die Tiefe gerissen und somit ist der Roman als literarische Dystopie und der Suche nach einem neuen Utopia zuzuordnen.

978-3-498-06153-1(1)Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Rowohlt Verlag 2016. 720 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen.

Gesellschaftliche Grundsatzfragen radikal einfach, aber niemals simpel zu verhandeln, darin liegt Stockmanns großes Talent. 2009 gewann er bei den Stückemärkten in Berlin und Heidelberg die Hauptpreise. Im Jahr darauf wurde er zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. »Talent? Oder doch nur Genie?« titelte damals DIE ZEIT. Seither hat er zahlreiche Theaterstücke geschrieben, in denen er auf die ein oder andere Art seine Zeit- und Gesellschaftskritik einbringt.

Dass er für das Theater schreibe, sei der eigentliche Zufall in seinem Lebenslauf. »Da bin ich eher so reingerutscht«, sagt das immer noch amtierende Wunderkind des Theaterbetriebs. Mit dem Roman scheint er seine tatsächliche Bestimmung gefunden zu haben. »Ich fühle mich in der Prosa zuhause«, erklärte Stockmann kürzlich im Interview auf diesen Seiten.

Mit »Der Fuchs« hat er (sich) bewiesen, dass er auch die Königsdisziplin beherrscht. Mit klarem Blick für die Dinge und großem Gespür für die Musikalität der Sprache erzählt er darin vom Wegbrechen der alten Lebensentwürfe und der gähnenden Leere, die bleibt. Es sei ein Buch über ein bestimmtes Zeitgefühl, wie er im Gespräch ausführte. »Wenn Sie mich fragen würden, wovon dieses Buch handelt, würde ich Ihnen antworten, dass es vom Ende der Postmoderne und dem Wirklichkeitsbild dieser Epoche handelt. Davon, wie wir Wirklichkeit verstehen und wie wir selbst verstehen. Wie die alten Ideologien zerbrechen und eine große Sehnsucht nach neuen Lebensentwürfen herrscht. Das kann ich natürlich in einem Essay analytisch erklären. Aber das Lebensgefühl kann ich nicht transportieren, ohne es in das komplexe Gefäß zu stecken, in dem ich es selbst sehe und empfinde. Darin besteht auch die Magie eines Romans.«

Tatsächlich entwickelt der Roman seinen eigenen Zauber, fasziniert in der Verschränkung der verschiedenen Ebenen zwischen den Ereignissen der Flut, dem Erinnerungsstrom, den das Vorbeitreiben der alten Welt in Finn Schliemann auslöst, und den fantastischen Ereignissen des babylonischen Götterkriegs, den er in einer Parallelwelt ablaufen lässt. Was Wirklichkeit und was Hirngespinst ist, diese Unterscheidung kann man mit jeder Seite weniger treffen. Zumal nach der Hälfte des Romans die verschiedenen Motive der Erzählung auch grafisch auf unterschiedliche Ebenen gesetzt werden, um am Ende in einer gewaltigen Erzählung zu kulminieren.

Müsste man diesem atmosphärisch dichten Roman ein Etikett verpassen, es stünde »Lesepflicht!« darauf. Denn er bringt das Chaos der Gegenwart in den Fragen, die er aufwirft, auf den Punkt.


Guntram Vesper hat mit einem opus magnum seinem Geburtsort die Biografie geschrieben und sich selbst die Erklärung, warum das Leben so verläuft, wie es verläuft. Das klingt zunächst nach Nabelschau, ist aber viel mehr als das. Leben ist hier in einem weiteren Sinne zu fassen, meint all das, was das eigene Dasein beeinflusst, prägt und ausmacht. Das fängt so früh an, dass in seinen biografischen Roman »Frohburg« Ereignisse und Motive hineinstrahlen, die weit vor der Geburt des Autors liegen. Erlebnisse der Großväter und Urgroßväter leben als familienbiografische Mythen schließlich auch in den Folgegenerationen fort und entwickeln dort ihre eigene Strahlkraft.

Das sächsische Frohburg liegt zwischen Leipzig und Chemnitz, etwa 5.000 Einwohner leben in der Stadt noch. Seine ersten knapp sechzehn Lebensjahre hat Guntram Vesper in der Stadt verbracht, bevor die Familie nach den blutigen Ereignissen in Ungarn 1956 in die Bundesrepublik floh. Gut elf Jahre später sollte Vesper beim letzten Treffen der Gruppe 47 seine ersten Gedichte vortragen. Es ist der Beginn seiner jahrzehntelangen schriftstellerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, die das Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt), der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz) und der Freien Akademie der Künste (Leipzig) bis nach Frohburg zurückgeführt haben.

Guntram Vesper: Frohburg. Verlag Schöffling & Co. 2016. 1.008 Seiten. 34,- Euro. Hier bestellen.

Sechs Jahre lang hat er an seinem Roman geschrieben, in dem er all das verwertet hat, was er an Informationen und Erinnerungen seit seiner Kindheit gesammelt und für bedeutend für ein Leben befunden hat. Der in Göttingen lebende Autor beweist sich in seinem Roman als großer Monteur, der die Puzzleteile, die ihm zur Verfügung stehen, kunstvoll zusammenzusetzen versteht. Aus den aus Tagebüchern, Fotografien, Zeitungsausschnitten oder Buchauszügen, aus erinnerten Gesprächen und übertragenen Legenden hat Vesper nicht nur seine Biografie im Spiegelbild der sächsischen Kleinstadt gestrickt, sondern auch eine ganz eigene – seine persönliche – Geschichte von Frohburg geschaffen.

In dieser finden sich auch die großen historischen Wegmarken des 20. Jahrhunderts wieder. Die Handlung erstreckt sich vom Zweiten Weltkrieg über die Nachkriegszeit in der DDR, die Flucht der Familie nach Hessen, die schriftstellerischen Anfänge Ende der siebziger Jahre sowie einige Anekdoten und Fehden innerhalb der bundesdeutschen Literaturszene bis in die Ereignisse der Nachwendezeit. Unter den Teppich gekehrte Verbrechen der sowjetischen Besatzer spielen dabei ebenso eine Rolle wie verschiedene lokale Kriminalfälle, eigene Befindlichkeiten wirken gleichermaßen hinein wie Animositäten von Kulturgrößen. Zuweilen fliegen Schlaglichter aus fernen Ländern mit in den Text, um die Zeit und ihre Atmosphäre besser einzufangen. So wächst und wächst und wächst die Textmasse auf über eintausend organisch verbundene Seiten an, die man, einmal bewältigt, nicht mehr in ihre Einzelteile zerlegen könnte, da sie beim Lesen miteinander verwachsen sind. So hat der 74-jährige Guntram Vesper einen autobiografischen regionalen Abenteuerroman geschrieben, der sich oft auch wie ein monumentaler Deutschlandroman liest. Häuft er jedoch zuviel auf- und aneinander, dann bleibt der Roman aber im Stückwerk der Anekdoten stecken.

Stilistisch ist »Frohburg« ein mutiger Genremix, in dem Vesper lyrische Elemente unter die Prosadecke schiebt. Das gehört zu seinem schriftstellerischen Gesamtkonzept, mit Gedicht- (»Frohburg. Sämtliche Gedichte«, 1985) und Prosabänden (»Nördlich der Liebe und südlich des Hasses«, 1979) hat er bereits zuvor seine Geburts- und Jugendstadt erkundet. Nunlegt er die fulminante Quintessenz all seiner Reflektionen der eigenen Biografie im Spiegel der sächsischen Kleinstadt vor.


Wer soll ihn nun den Preis gewinnen? Schimmelpfennig kommt nach Ansicht des Autors nicht infrage. Die Nominierung von Marion Poschmanns »Geliehenen Landschaften« bestärkt die hiesige Lyrik, eine erneute Auszeichnung der Poesie ist aber relativ unwahrscheinlich. Würde Poschmann dennoch ausgezeichnet und damit erneut die Königsdisziplin der Schriftstellerei den Leipziger Belletristikpreis davontragen, käme das einer faustdicken Überraschung gleich.

Mit Guntram Vespers Roman würde man vor allem ein Lebenswerk prämieren, wie im letzten Jahr die jahrzehntelange Übersetzerarbeit von Mirjam Pressler auf höchstem Niveau. Vespers autobiografisch-historiografische Sysiphosarbeit hat bei aller Respektbekundung ihre Schwächen in den weitschweifigen Exkursen zur Klein- und Kleinstgeschichten.

Die Favoriten des Autors kommen beide aus dem Rowohlt-Verlag. Die Romane von Nis-Momme Stockmann und Heinz Strunk haben zwar ihre unbequemen Seiten, aber zugleich auch die Wucht eines unwiderstehlichen Aufwärtshakens, der auf die Bretter führt. Sollte es auf die beiden Titel in der Jurydebatte hinauslaufen, dann hat wahrscheinlich Strunk bessere Karten, da dem jungen Dramatiker Stockmann noch viele weitere schriftstellerische Großleistungen zuzutrauen sind.

4 Kommentare

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  2. […] Leipziger Literaturpreis 2016 durchaus nachvollziehbar gewesen. Stattdessen hätte man sich etwa Roland Schimmelpfennigs dröge Berlin-Brandenburger Landbeschau sparen können. Khider erzählt in seinem Roman die Geschichte von Karim Mensy, der nach über drei […]

  3. […] Der vierfache Frauenmörder Fritz Honka ist eine Hamburger Legende, Heinz Strunk hat dieser Legende einen umwerfenden Roman gewidmet. Darin setzt er Honka und seinen Opfern über die Schilderung der niederen Umstände, in […]

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