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Tatbeteiligungen wurden ausgeblendet

Wie gehen Familien mit der Verwicklung von Verwandten in den Nationalsozialismus um? Welche Schwerpunkte setzen die unterschiedlichen Generationen beim Blick auf die NS-Täterschaft von Familienangehörigen? Und was hat die Auseinandersetzung mit diesen Fragen mit der Gegenwart zu tun? Im Interview spricht Dr. Oliver von Wrochem, Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Herausgeber des Sammelbandes »Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie« über diese und andere Fragen.

Herr Dr. von Wrochem, Sie haben für Ihr Buch »Nationalsozialistische Täterschaften« zahlreiche Beiträge von Kindern und Enkeln von NS-Tätern gesammelt. Was ist Ihnen bei den Texten und Perspektiven der beiden Generationen aufgefallen? 

Die beteiligten Kinder und Enkel von NS-Tätern verbindet das Bedürfnis, sich der Täterschaft in der eigenen Familie zu stellen. Viele von ihnen haben intensiv zur Geschichte ihrer Verwandten im Nationalsozialismus recherchiert und setzen sich in ihren Beiträgen mit den Folgen für ihr eigenes Leben auseinander. Sie gehen damit jetzt in die Öffentlichkeit, einige von ihnen waren sogar bereit, sich filmisch porträtieren zu lassen. Die Kindergeneration fühlt sich ihren Täterverwandten emotional enger verbunden, sie sind ambivalenter und widersprüchlicher; die Enkelgeneration betrachtet die Geschehnisse häufig distanzierter; für sie ist eine wichtige zusätzliche Ebene der Auseinandersetzung, in welcher Weise sich ihre Eltern den NS-Tätern gegenüber verhalten haben.

Wie wichtig ist die familiäre Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft für die gesellschaftliche Auseinandersetzung?

Nicht selten sind wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Formen der Auseinandersetzungen mit Täterschaft mit familiengeschichtlichen Dimensionen verflochten, wie die Beiträge des Bandes zeigen. Wir bewegen uns alle im öffentlichen und familiären Rahmen, in institutionellen Gefügen und Freundeskreisen, und sind dabei mit Widersprüchen in Bezug auf das Erinnern an den Nationalsozialismus konfrontiert. Wird die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus für Nachkommen von Täterinnen und Tätern, Mitläuferinnen und Mitläufern sowie Zuschauerinnen und Zuschauern als Teil auch der eigenen Familiengeschichte angenommen, kann möglicherweise der in dieser Gruppe vorherrschende und die deutsche Gesellschaft nach wie vor stark prägende Spalt im Geschichtsbewusstsein zwischen öffentlichem Erinnern an die NS-Verbrechen bei gleichzeitiger Entkopplung von der eigenen Familiengeschichte verringert werden. Ein kritischer Umgang mit der eigenen Familiengeschichte setzt zudem häufig Impulse, sich gesellschaftlich zu engagieren.

Ist die bewusste und öffentliche Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft in der Familie inzwischen Normalität oder immer noch die Ausnahme?

Die anhaltend große öffentliche Aufmerksamkeit für die NS-Verbrechen insbesondere in Deutschland kann zwar, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Kontext privater und lokaler Erinnerungsgemeinschaften oft immer noch ignoriert wird, dass auch die eigenen Verwandten einen Teil der Gesellschaft ausgeschlossen, seiner Verfolgung zugeschaut, und selbst die Deportation und Ermordung eines Großteils dieser Menschen akzeptiert oder sogar vorangetrieben haben. Viele Nachkommen von NS-Täterinnen und Tätern scheuen den Schritt in die Öffentlichkeit, ich glaube, nur eine Minderheit ist bereit, diesen Schritt zu gehen. Selbst in den Seminaren der KZ-Gedenkstätte Neuengamme für Täternachkommen stellen sich viele die Frage, wie öffentlich die Familiengeschichte werden darf; das Dilemma besteht im Widerstand, etwas preiszugeben, das so bisher noch nicht öffentlich gesagt wurde, und dem Wunsch, das familiäre Schweigen zu durchbrechen. Täter und Täterinnen in der eigenen Familie sind nur in Ausnahmefällen Gegenstand familiärer wie öffentlicher Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Doch ist eine größer werdende Minderheit in Deutschland bereit anzuerkennen, dass die eigenen Verwandten als Täterinnen und Täter, als Mitläufer oder Zuschauerinnen an Verbrechen beteiligt waren.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Familienerinnerungen lange Zeit verschwiegen wurden und jetzt, da die Täter versterben beziehungsweise meist schon verstorben sind, verstärkt aufkommen?

Ich denke, dass jene, deren Verwandte unmittelbar oder mittelbar an Verbrechen beteiligt waren, meist erst nach deren Tod die Auseinandersetzung mit der Täterschaft in der eigenen Familie beginnen. Der Sammelband zeigt, dass selbst gesellschaftspolitisch sehr aktive Nachkommen von Tätern – bei denen man annehmen könnte, dass sie sich mit der Täterschaft in der eigenen Familie auseinandergesetzt haben – sich bis zu dem Tod ihres Verwandten in dem Spannungsverhältnis zwischen einer öffentlicher Anerkennung der Verbrechen und der privaten Entlastung der daran beteiligten eigenen Verwandten befanden. Die gesellschaftliche, öffentliche Form des Umgangs mit dem Nationalsozialismus kann – inzwischen – als ein kultureller, auch emotionaler Standard betrachtet werden, der das Verhalten und die Reaktionsweisen von uns allen im Kontext sozialer und kultureller Strukturen steuert. Dem intergenerationellen Umgang mit dem Nationalsozialismus in den Familien liegt dagegen ein System von Gefühlen zugrunde, welches deutlich von dem des öffentlichen Erinnerns abweicht. Die Überlieferung im privaten Raum setzt also einen unabhängigen emotionalen Standard, so dass es zu zwei Zugängen zur Vergangenheit kommen kann, die nebeneinander existieren. Erst nach dem Tod können viele sich aus dieser Diskrepanz lösen und die eigene Familiengeschichte mit dem historischen Geschehen in Relation setzen. Die historische Distanz hilft also dabei, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen.

Erkennen Sie darin ein mehr oder weniger bewusstes Abwarten, um der direkten Konfrontation mit der Tätergeneration aus dem Weg zu gehen?

Es kann durchaus ein bewusstes Abwarten dahinter stehen, das ist allerdings nicht immer der Fall. Häufig erfahren die Nachkommen von NS-Tätern erst nach deren Tod, anhand von Dokumenten aus dem Nachlass der Verstorbenen, was diese in der Zeit des Nationalsozialismus genau getan haben. Aus Ahnungen werden Gewissheiten: die sogenannten Bodenfunde sind häufiger Anlass, in die Recherche zur Familiengeschichte einzusteigen. Meine Beobachtung ist, dass Kinder von NS-Tätern dazu neigen, die Dokumente extremer zu interpretieren als Angehörige der Enkelgeneration. Das kann von zu weitreichenden Schuldannahmen bis zu absurden Entlastungsargumenten reichen, und das nicht selten bezogen auf die gleichen Vorgänge. Dabei geht es weniger um die faktische Beteiligung an Verbrechen, sondern um eine Bewertung der Tatbeteiligung des Verwandten, also dessen Handlungsmotivation und politische Einstellung. Mit einem größeren Generationenabstand werden diese Bewertungen weniger rigide – egal ob positiv oder negativ –, es besteht also weder das Bedürfnis, den Verwandten zu entlasten noch ihn zu belasten; die Enkelgeneration fällt daher häufig weniger eindeutige Urteile, und sie stützt sich in größerem Maße auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Täterforschung.

Oliver von Wrochem: Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Metropol Verlag 2016. 535 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen

Wie hat sich das Bild von NS-Tätern in den letzten 50 Jahren entwickelt? Gibt es da einen Unterschied in der Wahrnehmung zwischen männlichen und weiblichen NS-Tätern und wenn ja, welche Konsequenzen hat das für die familiäre Auseinandersetzung?

Wie die Beiträge im Sammelband zeigen, hat sich das Bild von den NS-Tätern seit den 1950er Jahren erheblich gewandelt. Zu Beginn herrschte eine Dämonisierung der NS-Täter vor, die diese zu Monstern werden ließen. Es folgten Strategien der Viktimisierung der NS-Täter, die sie zu Befehlsempfängern und Gehilfen degradierten, die im vage gehaltenen unteren Bereich der Befehlshierarchien quasi schicksalhaft operierten. Später wurde statt der individualisierenden Sicht auf Täterdispositionen und Rahmenbedingungen ihres Handelns die Interaktion und Kommunikation verschiedener Tätergruppen in je spezifischen Handlungskontexten betont. Allerdings standen jahrzehntelang männliche Täter im Mittelpunkt der Forschung, bis heute gibt es erhebliche Forschungsdefizite in Bezug auf weibliche Täterschaft. Dabei waren Frauen in vielen Bereichen der nationalsozialistischen Gesellschaft als Denunziantin, Zuträgerin oder Mitarbeiterin von Gestapo und Kriminalpolizei, bei der Aussonderung von »rassisch« oder »erbgesundheitlich« unerwünschten Personen sowie innerhalb von Wehrmacht, SS und den Zivilverwaltungen in den besetzten Gebieten als Täterinnen aktiv. Überliefert ist jedoch einzig das Bild einiger weniger, dann aber grausam gezeichneter Täterinnen.

Mit den Forschungen rücken aufs Ganze gesehen immer mehr Täter- und Verfolgtengruppen ins Blickfeld, so dass immer mehr Menschen die Möglichkeit erhalten, sich bewusst zu werden, was ihre Verwandten im Nationalsozialismus getan haben und in welchem familiären Erbe sie verankert sind. Die Historisierung des Nationalsozialismus befördert demnach die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Familiengeschichte, was wiederum gesellschaftlich relevante neue Perspektiven auf die NS-Vergangenheit und ihre Folgen eröffnet. Allerdings führt die mangelnde Auseinandersetzung mit den vielen Facetten weiblicher Täterschaft dazu, dass diese bis heute von den Nachkommen ignoriert oder verharmlost wird. Forschungen zur Rolle von Geschlechterbildern bei der innerfamiliären Tradierung von männlicher und weiblicher Täterschaft könnten neue Impulse für die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte im Nationalsozialismus bringen. Auch dafür bietet der Sammelband Anregungen.

Warum ist die familiäre Aufklärung von NS-Täterschaft so schwer?

Es bestand und besteht die Tendenz, sich der Frage nach den Tatbeteiligungen der Verwandten zu entziehen. Viele, die mittelbar oder unmittelbar an NS-Verbrechen beteiligt waren, erlebten zu einem anderen Zeitpunkt des Krieges selbst Leid. Über Krieg und Nationalsozialismus wurde in den Familien ja nicht geschwiegen, vielmehr wurde und wird beides in spezifischer Weise erinnert, wobei die eigenen Leiderfahrungen einen zentralen Raum einnahmen – neben den eigenen positiven Erinnerungen aus der NS-Sozialisation im Bund Deutscher Mädel und Hitlerjugend, um zwei Beispiele zu nennen. Die Tatbeteiligungen wurden dagegen ausgeblendet. Gerade in der Generation der Kriegskinder, also der zwischen 1930 und 1940 Geborenen, hat sich die nationalsozialistische Erziehung tief eingeprägt und zu einer »Unfähigkeit zu trauern« (Margarete Mitscherlich) geführt, die einen kritischen Umgang mit eigener Täterschaft deutlich erschwerten, vielmehr wird diese Vergangenheit mit entlastenden und sinnstiftenden Fantasien gefüllt – auch von den Angehörigen. Auch in den gegenwärtigen erinnerungskulturellen Repräsentationspraktiken und in der Bildungsarbeit wird nationalsozialistische Täterschaft zu wenig sichtbar gemacht. Selbst die Nachkommen von NS-Tätern fühlen sich mit den an den Verbrechen Beteiligten oft so unverbunden, dass sie den Schritt, eigene Beziehungen zu deren Welt- und Menschenbildern zu reflektieren, vermeiden – von anderen gesellschaftlichen Gruppen ganz zu schweigen. Die verschiedenen Beiträge in dem Sammelband zeigen, dass die Nachwirkungen ideologischer Muster ausgeblendet bleiben, so als gäbe es keine Nachgeschichte und keinerlei Weiterwirken von Überzeugungen. Das ist gerade vor dem Hintergrund eines erstarkenden sekundären Antisemitismus, von Alltagsrassismus und ganz aktuell Gewalt gegen Flüchtlinge ein riesiges Problem.

Wie verarbeiten Nachkommen von NS-Tätern typischerweise die belastete familiären Geschichte? Geht es um Legitimation und Befreiung oder eher um Aufklärung und gesellschaftliche Auseinandersetzung?

Die Nachkommen von Täterinnen und Tätern, mit denen ich in Kontakt bin, setzen sich aktiv für eine Auseinandersetzung mit Täterschaft in der eigenen Familie ein – in Seminaren, Publikationen und politischen Aktivitäten. Die Motivation, sich auf den Weg zu machen, ist dabei durchaus unterschiedlich. Insbesondere die Kinder von NS-Tätern schwanken dabei zwischen Strategien der Legitimation des Handelns der eigenen Verwandten und dem Wunsch, sich vorbehaltlos und kritisch mit diesem Handeln auseinanderzusetzen. Sie sind dabei oft auf sich allein gestellt, weil in ihren eigenen Familien ihre Aktivitäten argwöhnisch beäugt oder sogar offen kritisiert werden. Insofern sind sie oft auf der Suche nach Gleichgesinnten, die ihnen bei einem möglichen Konflikt oder sogar Bruch in der eigenen Familie zur Seite stehen. Nicht selten werden Kontakte zu Nachkommen von NS-Verfolgten gesucht, um von dieser Seite aus im eigenen Bemühen bestärkt zu werden. Die Zerrissenheit zwischen einem transparenten und kritischen Umgang mit der eigenen Familiengeschichte und dem Wunsch, sich selbst und seine Verwandten zu schützen, greift stark in das eigene Leben ein. Es ist für einige auch unangenehm, mit den Täterverwandten in Verbindung gebracht zu werden. Manche, das zeigt der Sammelband ebenfalls, gehen damit sehr offensiv um und suchen durch Filmproduktionen und Bücher die Öffentlichkeit, um sich aus dieser Zerrissenheit zu befreien und sich aus den Familienabhängigkeiten und Tabus zu lösen. Das gilt insbesondere für die Kindergeneration. In der Enkelgeneration verschiebt sich die Herausforderung. Hier geht es auch immer um die Überlieferungsgeschichte der nationalsozialistischen Vergangenheit in der eigenen Familie, also neben die Frage nach den Tätern in der eigenen Familie tritt die Frage: wie sind meine Eltern damit umgegangen und wie gehe ich selbst damit um? Immer werden auch die gesellschaftlichen Kontexte, in denen Familiengeschichte überliefert wird, mitbearbeitet.

Wie kann man die aktive Auseinandersetzung mit der familiären Last der NS-Täterschaft im Bildungskontext aktiv fördern?

Zuerst einmal ist es wichtig, Bildungsangebote zu entwickeln, die ermöglichen, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Das fängt an mit Hilfsangeboten für die Recherche nach Dokumenten und qualifizierten Informationen, denn: erst auf der Basis von Wissen und nicht allein von Ahnungen kann eine ernsthafte Auseinandersetzung geführt werden. Keineswegs alle, die annehmen, in ihren Familien gäbe es NS-Täter oder (seltener) Täterinnen und die deshalb beispielsweise mit diffusen Schuldgefühlen kämpfen,  sind tatsächlich von Täterschaft in der eigenen Familie betroffen. Vielmehr ermöglicht Wissen eine differenzierende Einordnung dessen, was die eigenen Verwandten im Nationalsozialismus getan haben. Für jene, die stark von NS-Täterschaft betroffen sind, kann es sehr hilfreich sein, sich therapeutisch unterstützen zu lassen. In der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bieten wir Gesprächsseminare an, die darauf abzielen, mit anderen Täternachkommen ins Gespräch zu kommen und sich darüber auszutauschen, wie mit diesem Erbe umgegangen werden kann.

Auf einer etwas anderen Ebene sind die in dem Sammelband ebenfalls vorgestellten Angebote von Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen zu sehen, die sich mit der Verantwortung unter anderem von Polizisten, Krankenpflegern und Medizinern, von Wehrmachtsangehörigen, Eisenbahnern, Verwaltungsangestellten an den nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzen. Dabei geht es neben der Vermittlung von Wissen über die Beteiligung der Institutionen an Verbrechen auch um die Frage, inwieweit Einzelpersonen, die in diesen Institutionen arbeiten, für das, was sie getan haben, verantwortlich sind. Denn die meisten der NS-Verbrechen fanden arbeitsteilig statt und wurden von Angehörigen staatlicher Institutionen und auf Grundlage von Befehlen oder Anweisen ausgeführt. In der Arbeit mit Gruppen beispielsweise aus Polizei, Verwaltung, Militär und dem medizinischen Bereich werden auch Fragen der Arbeitsteilung und des Handelns auf Anweisungen behandelt, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben das eigene Handeln zu reflektieren.

Wenn Sie die aktive und öffentliche Auseinandersetzung mit der familiären Last zwischen Familien von NS-Tätern und NS-Opfern vergleichen, erkennen Sie da eine Tendenz, die Rückschlüsse auf die Bereitschaft beziehungsweise die Notwendigkeit einer Bewältigung und Offenlegung zulässt? 

Nachkommen von Täterinnen, Tätern, Mitläuferinnen, Mitläufern, Zuschauerinnen und Zuschauern schlagen nur selten eine Brücke zwischen der eigenen Familiengeschichte und der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus – sie stehen damit im Gegensatz zu vielen Nachkommen von NS-Verfolgten, die diese Verbindung fast immer herstellen. Für letztere sind die Folgen des Nationalsozialismus unmittelbar spürbar, das gilt in besonderem Maße, wenn Familienangehörige den NS-Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Dagegen konnten viele der Täter und damit deren Nachkommen nach 1945 so weiterleben, als sei nichts geschehen.

Es ist allerdings wichtig, dass die Erfahrungen in den Familien von Verfolgten stark variieren, beispielsweise wegen des Haftgrunds der Verfolgten und dessen Anerkennung oder Nicht-Anerkennung in der Nachkriegszeit, was sich auf die Sichtweise ihrer Nachkommen auswirkt. Auch die Erfahrungen bei den Nachkommen der Täter können sehr unterschiedlich sein, was unter anderem daran liegt, dass es unter ihren Tätervorfahren große Unterschiede gab, was ihre Beteiligung am NS-Regime und seinen Verbrechen betrifft. Es fällt beiden Gruppen schwer, öffentlich über ihre jeweilige Familiengeschichte zu sprechen. Wenn Nachkommen von Verfolgten über ihre Familiengeschichte sprechen, so nähern sie sich Verlusterfahrungen und erlittener Gewalt an, mit deren Folgen sie heute noch kämpfen. Vor allem für Nachkommen von Verfolgtengruppen, die heute noch wenig Anerkennung genießen (beispielsweise Sinti und Roma, Wehrmachtsdeserteure, als asozial oder kriminell Verfolgte, Sicherungsverwahrte, Opfer der nationalsozialistischen Krankenmords, Nachkommen ehemaliger Zwangsarbeiter aus Osteuropa) ist der Schritt in die Öffentlichkeit schwer. Täternachkommen müssen dagegen häufig damit leben, dass ihre Verwandten jahrzehntelang über die Beteiligung an Verbrechen geschwiegen oder diese verharmlost haben. Das öffentliche Sprechen über diese Taten ist insbesondere für jene schwer, deren Familien dagegen erheblichen Widerstand leisten.

Können solche Familienbiografien überhaupt jemals abschließend verarbeitet werden?

Eine Bewältigung von Familienvergangenheiten kann es meines Erachtens nicht geben, allerdings einen transparenten Umgang, auf dessen Basis die Grundlagen des Zusammenlebens in der Gesellschaft neu justiert werden können. Gibt es einen transparenten Umgang, werden die Erfahrungen beziehungsweise das Handeln der Eltern- und Großelterngeneration kein Hindernis für eine gute Zusammenarbeit der Nachkommen beider Gruppen sein, da die Nachkommen keine Verantwortung für ihre Großeltern tragen, sondern einzig Verantwortung für ihr eigenes Tun in Gegenwart und Zukunft. Allerdings haben Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg nicht nur das Leben dieser Gruppen, sondern das Leben von Familien auf allen Kontinenten beeinflusst und die Folgen dieser Zeit sind für uns alle auf der ganzen Welt spürbar. In der Einwanderungsgesellschaft bleiben die mit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verknüpften ethischen Fragen daher für alle bedeutsam, auch für Menschen, die keine direkten biographischen Bezüge haben.