Klassiker, Literatur, Roman

»Lesen Sie dies bitte so, wie es geschrieben wurde«

»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ist der bedeutendste Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Dass Marcel Proust mindestens genauso viel Zeit in die Pflege seiner Korrespondenz wie in seine Literatur gesteckt hat, wissen die wenigsten. Eine edle zweibändige Edition von Briefen gibt jetzt einen Einblick in das Denken, Hadern und Mosern des bedeutendsten französischen Schriftstellers.

Als im November 1913 endlich Unterwegs zu Swann, der erste Band von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (infolge anlehnend an das französische Original kurz Recherche genannt) erscheint, schreibt der Kritiker Henri Ghéon in La Nouvelle Revue Française, dass man merke, dass dem Autor alle Zeit der Welt zur Verfügung stehe, um ein »beachtliches Werk« reifen zu lassen und zu Ende zu bringen. Allerdings sei es lässlich, dass er diese Zeit von vorneherein als »verlorene Zeit« betrachte. Für Proust ist der Vorwurf, sein Roman sei ein Werk der Muße, ein Affront. Eine Berufstätigkeit sei nicht das Einzige ist, was einem Menschen die Muße nehmen könne, schreibt er an den Kritiker. »Eine Krankheit zum Beispiel kann ebenso aufzehren, ebenso bedrängen, ebenso ermüden, ebenso rasch altern lassen wie der härteste Beruf, selbst ein manueller. Welches auch immer Ursache und Art der Beschäftigungen sein mögen, die mein Leben unaufhörlich belasten, ich habe jedenfalls keinerlei Muße«.

Neben der exzessiven Zeitungslektüre war das alltägliche Schreiben eine der »Beschäftigungen«, die Proust vom literarischen Schreiben abhielten. Kein Tag verging, an dem der Autor der Recherche, dem Roman des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht mindestens einen Brief beantwortete oder einen neuen Briefwechsel aufnahm. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Philipp Kolb hat bis zu seinem Tod 1992 fast fünftausend Briefe zusammengetragen. Dennoch vermutete er, dass seine 21-bändige Ausgabe der Correspondence de Marcel Proust nur einen Bruchteil des Schriftverkehrs umfasse. Kein Wunder, denn der französische Romancier hatte ein ambivalentes Verhältnis zum Brief. Er hasste die Eilfertigkeit seiner Repliken, die vermeintliche Fehlerlastigkeit und die unbeabsichtigte Indiskretion. Seinen Fahrer und Sekretär Alfred Agostinelli, mit dem er mehr als eine freundschaftliche Verbindung gepflegt haben soll, bittet er in dem einzigen Brief, der erhalten geblieben ist, gar darum, seine Briefe »nicht herumliegen« zu lassen und sie »mit gewaltigen Siegeln« versehen zurückzuschicken.

Jean-Yves Tadié: Marcel Proust - Biographie.  Aus dem Französischen von Max Looser. Suhrkamp 2008. 1.265 Seiten, 29,90 Euro
Jean-Yves Tadié: Marcel Proust – Biographie. Aus dem Französischen von Max Looser. Suhrkamp 2008. 1.265 Seiten, 29,90 Euro

»Proust hat alles aus seinem Leben und Denken wiederverwendet«, schrieb Jean-Yves Tadié in seiner monumentalen Biografie. Nicht nur vor diesem Hintergrund sowie der Annahme, bei der Recherche handele es sich um einen biografischen Schlüsselroman, erhalten die zwei prachtvollen Leinenbände, die der Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte nun vorgelegt hat, ihren Reiz. Die von ihm, Achim Russer und Bernd Schwibs glanzvoll ins Deutsche übertragenen Briefen belegen in ihrer Eloquenz auch, dass der Briefeschreiber Proust ebenso stilsicher war wie als Romancier.

Entstanden ist die Auswahl der insgesamt 572 Schreiben nebst akribischer Kommentierung auf Grundlage einer lesefreundlichen Briefedition, die Kolbs Mitarbeiterin Françoise Leriche bereits 2004 auf Französisch herausgab. Eine wichtige Ergänzung stellen etliche Briefe aus der Bibliotheca Proustiana Reiner Speck dar, mit denen Prousts Ringen um seinen Roman verdeutlicht wird.

Natürlich geht es in den fast 1.500 Seiten Briefmaterial viel um Prousts literarisches Schaffen. Vor allem der zweite Band mit den Briefen ab 1914 widmet sich ausführlich der Publikations- und Betrachtungsgeschichte der Recherche, Prousts Brief an Henri Ghéon stellt hier nur den Auftakt zahlreicher Erregungen über (nicht erfolgte) Korrekturen, schlampige Druckfahnen und die intellektuelle Einbettung seines Schreibens dar, die vor allem in seinen Briefen an Verleger Gaston Gallimard und Redaktionsleiter Jacques Rivière auftauchen. Welches Verhältnis dabei entsteht, macht ein Brief vom 10. September 1921 an Gallimard deutlich, in dem sich Proust über eine Depesche von Rivière freut und über einen zeitgleich eingegangenen Brief von Gallimard beklagt. Er schließt mit »Nochmals, lesen Sie dies bitte so, wie es geschrieben wurde«.

Immer wieder geht es aber auch um Alltägliches und Allzumenschliches. So klagt Proust in zahlreichen Briefen über seinen Gesundheitszustand und dass er nicht davon sprechen möge. Dass er durch diese Betonung genau das Gegenteil betreibt, dies zu bemerken aber seinem Leser überlässt, zeigt, wie klug er auch zu manipulieren wusste. Und so wie das Lamento über seinen gesundheitlichen Zustand seine Melancholie belegt, bekundet das Parlando über die gesellschaftlichen Ereignisse seiner Zeit sein Interesse am Zeitgeist.

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Marcel Proust: Briefe 1879 – 1922. Aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russer und Bernd Schwibs; Hrsg. Jürgen Ritte. Suhrkamp Verlag 2016. 1421 Seiten. 78 Euro.. Hier bestellen

Schon früh beginnt Proust, Briefe zu schreiben, der erste stammt aus dem Jahr 1879 und ist an seinen Großvater gerichtet. »Mon cher grand père, vergib mir meine Sünde, denn ich habe weniger gegessen als sonst, ich habe eine Viertelstunde geweint, danach konnte ich nur noch schluchzen, ich bitte Dich um Verzeihung.« Dass er ebendiesen Grand Père nur neun Jahre später um 13 Francs bitten wird, um ins Bordell zu gehen, gehört zu den skurrilen Petitessen der Proust’schen Korrespondenz.

Es geht aber auch anders. Im zarten Alter von 14 Jahren schreibt er seiner Großmutter und schwärmt von Horaz und Vergil. Seiner Mutter schickt er »tausend zärtliche Küssen«, seinem Geliebten Reynaldo Hahn harte Worte nach der Trennung. Er hält engen Kontakt zu seinen Klassenkameraden und Vertrauten Robert Dreyfus und Jacques Bizet – letzterem schreibt er immer wieder zärtliche Briefe, in denen seine Zuneigung zum eigenen Geschlecht Andeutung findet–, bei der Salonière Geneviève Straus findet er in der Dreyfus-Affaire ein Ventil für seine kaum verheimlichte Verehrung und aus der Korrespondenz mit seinem Lebensfreund Lucien Daudet kann man erst seine persönliche Annäherung in der Anrede herauslesen (»Cher Monsieur«, »Cher Lucien«, »Mon cher petit«) und schließlich Daudets Bedeutung für die das Entstehen der Recherche entnehmen. Etwa wenn er schreibt: »Mon cher petit, wenn Du die „Wiedergefundene Zeit“ lesen wirst (sollte ich denn vor meinem Tode jemals die Zeit haben, die ganzen Druckfahnen zu korrigieren), wirst Du sehen, wie sehr das, was wir über das Altern sagen, übereinstimmt…«.

Die leserfreundliche Auswahl der Briefe zeigt den oft ans Krankenbett gefesselten Proust aber auch als Mann von Welt, der sich mit seinem wachen Geist seine Präsenz in der extravaganten Welt der Pariser Bohème sicherte. Sein Austausch mit Intellektuellen und Künstlern wie Henri Bergson, Jean Cocteau, Alphonse Daudet, Anatole France, André Gide, François Mauriac oder Philippe Soupault über Philosophie, Kunst, Musik und Literatur belegen seinen sozialen Rang.

Marcel Proust (sitzend), Robert de Flers (links) et Lucien Daudet (rechts)

An seinen Freund Louis d’Albufera schreibt Proust Anfang Mai 1908, womit er sich gerade beschäftige: »ich habe in Arbeit: eine Studie über den Adel, einen Pariser Roman, einen Essay über Saint-Beuve und Flaubert, einen Essay über Frauen, einen Essay über Päderastie (nicht leicht zu veröffentlichen), eine Studie über Kirchenfenster, eine Studie über Grabsteine, eine Studie über den Roman«. Ob er hier schon weiß, dass er all diese Projekte in seiner Recherche, die zwischen 1913 und 1922 von drei auf sieben Bände anwächst, zusammenführt? Man darf es bezweifeln. Dass sein Roman aber immer schon für das große Ganze angelegt war, wird immer wieder deutlich. »Denn tief im Muschelgehäuse singt der ganze Ozean«.

So wie Proust in seinem Hauptwerk immer anwesend ist, steckt die Recherche auch immer in diesen Briefen. Jean-Yves Tadié zitiert in seiner Biografie eine Notiz aus einem Tagebuch, in der Proust zur Recherche bekennt: »Ein Buch ist ein großer Friedhof, wo man auf den meisten Gräbern die verwischten Namen nicht mehr lesen kann.« Diese beiden edlen Leinenbände sind ein bibliophiles Schmuckstück und Geschenk für Proust-Kenner und Proust-Einsteiger gleichermaßen. Allerdings verleiten die Briefe ein wenig – vor allem in Kenntnis seiner siebenbändigen Recherche (in der Frankfurter Ausgabe), den Protagonisten die Namensschildchen von Prousts Zeitgenossen umzuhängen. Bei manchen kann man das gefahrlos tun, etwa bei seinem Fahrer und Sekretär Alfred Agostinelli, der für die Romanfigur Albertine Modell stand. Für viele andere aber ist Vorsicht geboten, Proust selbst warnt in seinen Briefen: »Vermischen wir nicht das Leben (und die daraus erwachsene respektvolle Zuneigung) mit der Literatur.«

Lesen Sie hier in die Briefe hinein

1 Kommentare

  1. […] Haruki Murakami ein paar Platten auf, erkundet die Vielfalt japanischer Literatur oder lernt mit Marcel Proust, Nino Haratischwilli, David Foster Wallace und Roberto Bolaño, wie man dicke Bücher liest. Das […]

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